Arztbesuche in Corona-Zeiten kommen einer Mutprobe gleich. Mindestabstand? In überfüllten Wartezimmern fast ein Ding der Unmöglichkeit. Das besorgt nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte – und die Politik
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Am 20. März hatten die Funktionäre des Gesundheitssystems ein Einsehen: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) rangen sich durch, die Richtlinien für Krankschreibungen zu lockern: Patienten mit leichter Erkrankung der oberen Atemwege dürfen sich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus der Distanz ausstellen lassen. Ohne Untersuchung. Ein Anruf bei der Arzthelferin genügt.
Streit um die Übergangsregelung
Eine Übergangsregelung sollte es sein, befristet bis zum 19. April. Zunächst wollte der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Kliniken und Gesetzlichen Krankenkassen (G-BA) die Ausnahme nicht verlängern. Doch heftige Kritik von Gesundheitspolitikern, Ärzteverbänden, Gewerkschaften und Verbraucherschützern führte zu einer Fortsetzung der Telefonregel bis zum 4. Mai. Schubweise ging es weiter: Am 29. April wurde die zweite Verlängerung beschlossen. Arbeitnehmer können sich vorerst bis zum 18. Mai auch ohne Praxisbesuch krankschreiben lassen.
Was Hausärzte begrüßen, wurde umgehend kritisiert – etwa vom Chef der Gebäudereiniger-Innung, Johannes Bungart: „Diese Ausnahmeregel darf nicht zu einem Dauerzustand werden.“ Das Tauziehen zeigt: Das vermeintliche Corona-Provisorium wird zum Politikum – mit dem Potenzial, das tradierte Krankschreibungssystem zu sprengen.
Eigentlich sollte das Gesundheitssystem längst viel digitaler und flexibler sein. Anfang 2020 trat das Digitale-Versorgung-Gesetz in Kraft, angeschoben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Es verheißt Neuerungen wie Gesundheits-Apps auf Rezept und ab 2021 die digitale Patientenakte. Auch Online-Sprechstunden per Smartphone oder Computer fördert das Gesetz. Hürden in Form umständlicher Vorab-Belehrungen wurden gesenkt.
Stimmen aus der Wirtschaft
Unternehmen scheint das Thema der erleichterten Krankschreibung vor Corona wenig tangiert zu haben, wie eine aktuelle Umfrage der „Personalwirtschaft“ unter allen Dax- und MDax-Unternehmen zeigt, auf die immerhin mehr als ein Drittel der Konzerne geantwortet hat.
Erhoben wurde in der Befragung Ende März, ab welchem Tag Mitarbeiter ihre Krankschreibung einreichen müssen, ob also unter Corona-Bedingungen die Vorgaben gelockert wurden. Ergebnis: Fast überall müssen Mitarbeiter weiterhin ab dem dritten oder vierten Tag eine AU-Bescheinigung einreichen, einzig der Versicherer Allianz hat die Frist auf den siebten Tag verlängert.
Außerdem wurde das Konzept „Krankschreiben per Videochat oder Telefon“ zur Debatte gestellt. Eher ratlos reagierte ein Großteil der Firmen auf diese Frage nach dem langfristigen Potenzial. Ein Viertel äußerte sich zu Online-Sprechstunden vage positiv.
So etwa Valeria Kipp, HR Business Partner beim Bausoftwareanbieter Nemetschek. Sie hält es für wahrscheinlich, dass Video- oder sogar Telefonsprechstunden auch nach der Corona-Krise stärker nachgefragt werden. „Wer unter einem leichten grippalen Infekt leidet, kuriert sich besser zu Hause aus statt im Wartezimmer“, sagt Kipp.
Dr. Michael Drees, Betriebsarzt der Deutschen Bank, steht dem Thema skeptischer gegenüber. „Eine Online-Sprechstunde kann niemals den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient ersetzen“, sagt er. Allerdings hätten sich die telefonische und digitale Krankschreibung gerade in der Corona-Krise als Segen erwiesen. „Die Patienten mussten nicht in der Sprechstunde erscheinen und konnten somit niemand anderen anstecken.“
Der Telemedizin-Spezialist Compugroup Medical meldet einen Boom der Videosprechstunden: Die Zahl der in Deutschland angeschlossenen ambulanten Arztpraxen sei innerhalb eines Monats von 700 auf 17.500 gestiegen.
Videosprechstunden werden nach der Corona-Krise aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sein – davon ist Wolfgang Schneider-Rathert, Arbeitskreisleiter in der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, überzeugt. Gerade für ein erstes Arztgespräch bei leichten Beschwerden seien die geeignet. Der Mediziner aus Braunschweig kennt jedoch in der Regel seine Video-Patienten aus vorherigen Behandlungen. Telemedizin-Unternehmen, die oft sogar ohne Sichtkontakt oder Gespräch gelbe Scheine „digital verkaufen“, sollte man hingegen nach seiner Ansicht verbieten.
Ein solches Geschäftsmodell liegt der Idee des Start-ups AU-Schein.de zugrunde. Gegen 14 Euro Gebühr bekommt ein Arbeitnehmer einen gelben Schein per PDF für die Tage drei, vier und fünf einer Krankheit. Basis der Diagnose ist eine Selbstauskunft im Online-Fragebogen, die an sogenannte Tele-Ärzte zur Beurteilung weitergeleitet wird. Sieben leichtere Beschwerden wie etwa Erkältungssymptome wurden für diese Ferndiagnose freigeschaltet.
AU-Schein.de-Gründer Can Ansay verteidigt seine Ferndiagnosen, der 40 schriftlich zu beantwortende Fragen zugrunde liegen, als präzise. „Kein Arzt stellt dem Patienten bei einer normalen Erkältung so viele Fragen“, sagt er. In Sachen Corona kann sich Ansay zu den Gewinnern rechnen. Er berichtet von einem Kundenzuwachs von über 30 Prozent im März.