Steigende Lebenshaltungskosten, drohende Energieknappheit, Lieferengpässe und ein extremer Fachkräftemangel setzen Unternehmen unter Druck. Einerseits wollen sie Mitarbeiter angesichts der derzeitigen Inflation entlasten und weiterhin neue Talente im engen Arbeitsmarkt gewinnen. Anderseits sind je nach Branche die Mittel begrenzt und Arbeitgeber wollen das gegenseitige Aufschaukeln von Lohnerhöhungen und Preissteigerungen nicht anheizen. Angesichts der großen Tarifrunden, die in diesem Jahr anstehen, ist jedoch eine Lohn-Preis-Spirale denkbar.
Spielräume der Budgets 2023
Anfang des Jahres planten Arbeitgeber noch eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 2,8 Prozent, im April 2022 lagen die Anpassungen schon bei 3,5 bis vier Prozent. Da viele Erhöhungsbudgets auf Basis der Vorjahresdaten kalkuliert wurden, behielten sich einige Unternehmen vor, angesichts der dynamischen Inflationsentwicklung im Herbst weitere Erhöhungen vorzunehmen. Auch in der Chemieindustrie entschieden sich die Tarifpartner im April für diese Form der „Brückenlösung“: Zunächst gab es eine einmalige Zulage für die Beschäftigten, damit sie die gestiegenen Energiepreise und andere Teuerungsraten ausgleichen können. Im Herbst wird weiter verhandelt.
Für außertariflich Beschäftigte waren mit dem 1. Juli die Gehaltsrunden weitgehend abgeschlossen. Die Erhöhungen lagen in der Regel zwischen drei und fünf Prozent. Wie der Steigerungsrahmen für 2023 aussieht, werden auch die Ergebnisse der anstehenden Tarifrunden vorgeben.
Sicher ist: Die Lohnsteigerungen werden die Inflation nicht wieder einholen können. Auch die EZB prognostiziert, dass die Teuerungsrate erst in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren zurückgehen beziehungsweise durch Lohnsteigerungen aufgefangen werden könne.
Differenzierte Erhöhungen
Beim Blick auf die Tarifabschlüsse und Gehaltserhöhungen der letzten Jahre wird deutlich, dass sie nie über fünf Prozent hinausgegangen sind. Auch in sehr guten Wirtschaftsjahren wird dieser Wert in der Regel nicht überschritten, weil der Zuwachs bleibt und das Gehaltsniveau insgesamt hochschraubt. In dieser Situation sind variable Programme ein probates Instrument, um Leistungsträger zu binden und zu motivieren: Boni belasten die Personalkosten nicht dauerhaft und können auch kurzfristig erhöht werden.
Neben der Alternative, mit variablen Programmen einen Teil des Reallohnverlustes aufzufangen, bietet sich ein weiteres Vorgehen an: Um die knappen Mittel „gerecht“ zu verteilen, können Arbeitgeber einen differenzierten Verteilungsmechanismus anwenden: Beschäftigte mit kleinen und mittleren Einkommen sollten adäquat entlastet und der AT-Bereich nur strukturell angepasst werden.
Talentgewinnung und Gehaltsgefüge
Der Druck auf den Faktor Lohn entsteht nicht nur durch die Inflation, sondern auch durch den Fachkräftemangel: Infolge der Corona-Pandemie und dem Zusammenbruch der globalen Lieferketten verändert sich die internationale Arbeitsteilung. Künftige Produktionsstätten werden sich auf die USA und Europa konzentrieren. Ein Beispiel dafür ist die Neuansiedlung des deutsch-kanadischen Unternehmens Rock Tech Lithium, das elementare Bestandteile von Autobatterien herstellt und eine komplette Belegschaft neu einstellen will. Arbeitnehmer, die dort anfangen, werden ohne Zweifel mit hohen Einstiegsgehältern rechnen können.
Auch wenn Studien dies nicht abbilden, liegen die Gehaltsvorstellungen wechselwilliger Kandidaten teils weit über den internen Gehaltsgefügen, sodass Arbeitgeber von der etablierten, klassischen Vergütungsstruktur abweichen müssen.
Zu erwarten ist auch, dass Organisationen, welche die Gehaltserwartungen nicht erfüllen können oder wollen, zu altbekannten Strategien greifen: der Auslagerung von Aufgaben an externe Dienstleister (Outsourcing) und dem Einsatz freier Mitarbeiter.
En Rat der Experten: Die überdurchschnittliche Entlohnung von MINT- und IT-Kräfte sollte nicht über eine unangemessene Eingruppierung der Funktion gelöst werde. Dieser Weg zieht mittelfristig Erhöhungen auf breiter Front nach sich. Mitarbeiter können jedoch nach Leistung oder Arbeitsmarktlage beispielsweise im Gehaltsband dem 25., 50. oder 75. Perzentil zugeordnet sein.
Gleichzeitig gewinnt der Signing-Bonus beim Vertragsabschluss eine Renaissance. Früher war er vor allem bei Führungskräften im oberen Management üblich, heute setzten Arbeitgeber die Antrittsprämien auch für besonders nachgefragte Qualifikationen im Tarifbereich ein.
Zusatzleistungen gestalten
Können Benefits und steuerfreie Sachzuwendungen fehlende Lohnerhöhungen schließen? Keinesfalls, aber sie können für Entlastung an einigen „Druckpunkten“ sorgen und sind oftmals entscheidend, um Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden. Der Grund: Zusatzleistungen stellen nicht nur in monetärer Hinsicht einen Mehrwert dar, sie signalisieren auch Wertschätzung. Bewährt haben sich Benefits wie das Jobticket, die Betriebskantine oder das Job-Rad für diejenigen, die überwiegend in Präsenz arbeiten. Insgesamt ist und bleibt der Einsatz des steuerfreien 50-Euro-Sachbezugs sehr beliebt, denn er bringt für Arbeitnehmer unmittelbar Vorteile. Zudem stellt er auch für Arbeitgeber einen Mehrwert dar: Sie können 600 Euro brutto für netto für jeden Mitarbeitenden pro Jahr gezielt einsetzen.
ESG-Ziele für (fast) alle ab 2023
Seit 2021 müssen börsennotierte Gesellschaften die Vergütungsstruktur von Vorständen auf eine nachhaltige und langfristige Entwicklung des Unternehmens ausrichten. Die Umsetzung erfolgt durch die Integration der ESG-Kriterien in die variable Vergütung. Gelingt das in der Praxis? In die Systeme zur Vorstandsvergütung der Dax-Unternehmen halten Ziele für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung flächendeckend Einzug. Allerdings bleibt oft vage, woran sich die ESG-Vergütungskomponenten genau bemessen.
Die Anwendung der ESG-Ziele weitet sich mit dem 1. Januar 2023 auf einen sehr großen Kreis an Unternehmen aus. So verlangt die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der EU, dass Nachhaltigkeit in der Berichterstattung integral behandelt und den finanziellen Themen schrittweise gleichgestellt werden. Ab 2026 soll die Richtlinie auch für Unternehmen mit Bilanzsummen von mehr als 350.000 Euro gelten und mit mehr als zehn Mitarbeitern.
Die Berichtspflichten sind kompliziert und beinhalten sowohl HR- als auch Controlling-Daten. Unternehmen müssen neue Denkwelten betreten, die sich nicht mehr ausschließlich in Zahlen ausdrückt, sondern auch weiche Faktoren berücksichtigt.
Christiane Siemann ist freie Journalistin und Moderatorin aus Bad Tölz, spezialisiert auf die HR- und Arbeitsmarkt-Themen, die einige Round Table-Gespräche der Personalwirtschaft begleitet.