Aktuelle Ausgabe

Newsletter

Abonnieren

Weltweit arbeiten: alles in Bewegung

Und dann stand sie einen Moment still, die Welt. Die meisten Länder hatten sich abgeschottet, Schiffe lagen vor Anker, und Flugzeuge hoben nicht mehr ab. Die Pandemie hat viele Wirtschaftseinheiten auf der ganzen Welt getroffen, doch vermutlich kaum eine so stark wie die der Auslandsentsendungen. Mit dem mehr oder minder offiziellen Ende der Pandemie vor einigen Monaten öffneten sich nun auch die Grenzen und Möglichkeiten wieder, die eigenen Mitarbeiter ins Ausland zu entsenden. „Wir sehen je nach Branche natürlich starke Nachholeffekte in vielen Branchen“, sagt beispielsweise Jens Goldstein, Leiter Integrated Mobile Talent Germany bei Ernst & Young. Allerdings hätten sich die Formen dieser Aufenthalte stark verändert.

Es muss nicht mehr nur die klassische Auslandsentsendung sein, erklärt Dr. Martina Schlamp, Rechtsanwältin und Partnerin bei Advant Beiten. „Wir sehen ganz andere Formen, Hintergründe und auch Motivationen von Mitarbeitern, ins Ausland zu gehen“, sagt sie. Dazu gehören beispielsweise Workation in einem anderen Land, das ein Mitarbeiter von sich aus anstrebt, aber auch kurz- und längerfristige Aufenthalte im Ausland, zum Beispiel aus persönlichen oder familiären Gründen, verbunden mit Remote Work. „Es gibt in dem Bereich viele neue Möglichkeiten, die vor der Pandemie nur Randerscheinungen waren“, so Schlamp.

Dem stimmt Emanuela Boccagni, Commercial Director EMEA bei ECA International, zu: „Wir sehen mehr Short Term Assignments oder auch Permanent Assignments als vor der Pandemie.“

Diese neue Flexibilisierung und die Veränderung der Formen der Auslandsentsendungen sind auf verschiedene Trends in den vergangenen Monaten zurückzuführen. Einer war sicherlich die Pandemie, die das Homeoffice stark vorangetrieben hat, glaubt Omer Dotou, Leiter der Unternehmensberatung BDAE Consult. Ein anderer seien die politischen Entwicklungen. „Die geopolitischen Umstände haben sich stark verändert, das hat zu einem Umdenken geführt und sicherlich auch die Kosten in einigen Bereichen nach oben getrieben“, beschreibt Dotou die aktuelle Marktlage.

Giovanni De Carlo, Business Development Director für EMEA bei Crown, sieht darüber hinaus auch Veränderungen bei der Frage, wie eine Auslandsentsendung organisiert wird. So hätten gestiegene Frachtkosten beispielsweise zu einem Umdenken bei der Möbelmitnahme geführt, erklärt er. „Mietmöbel sind heute ebenso normal wie virtuelle Besichtigungen, um nachhaltiger und kosteneffizienter zu sein“, sagt De Carlo.

Standort China: Ende einer Blütezeit?

China galt früher als einer der wichtigsten Märkte für Auslandsentsendungen. Harte Abschottung in den vergangenen Monaten, die es kaum möglich machte, einzureisen, warf das Land in der Beliebtheitsskala allerdings deutlich nach hinten, sagt Jens Goldstein. „Wir sehen dort nun starke Nachholeffekte, aber es herrscht eine große Verunsicherung“, so der EY-Experte. Denn der Staat werde immer autokratischer, die Überwachung rigider. „Wir sehen bei den Mitarbeitern in vielen Unternehmen eine klare Abnahme der Bereitschaft, nach China zu gehen“, sagt Goldstein.

Michael Weiss, Director Global Employer Services/Global Mobility bei Deloitte, ergänzt: „Die eher angespannte und volatile Situation in China in Bezug auf politische und pandemiebedingte Restriktionen verunsichert die Unternehmen, weshalb die Bereitschaft zu neuen Entsendungen nach China seit der Aufhebung der Covid-19-Bestimmungen nur zögerlich zugenommen hat.“

Ob das auch an der medizinischen Versorgung liegt? Gisela Baum, Vertriebsdirektorin bei der Axa, sagt jedenfalls: „Neben den unternehmensspezifischen Herausforderungen besteht aus unserer Sicht für die Expats im Hinblick auf die medizinische Versorgung die Herausforderung, sich in dem chinesischen Gesundheitssystem zurechtzufinden.“ Um das zu lösen, haben sie bei der Axa beispielsweise einen Leitfaden entwickelt.

Also nicht mehr so viele Expats nach China schicken? Genau das könnte zum Problem für viele Firmen werden. Denn die Bedeutung des Absatzmarktes China hat sich keinesfalls verändert, wie beispielsweise Giovanni De Carlo anmerkt. „Selbst wenn Unternehmen einen Teil ihrer Lieferkette nach Europa holen, dauert das Jahre, so lange bleibt China wichtig“, sagt er und bekommt Zustimmung von Omer Dotou, der klare Worte findet: „Die deutsche Wirtschaft ist auf den chinesischen Absatzmarkt angewiesen, auch wenn China aufgrund der Pandemie und der aktuellen geopolitischen Lage den Eindruck der Abschottung vermittelt“, sagt er. Umso schwieriger ist es aus seiner Sicht, dass der Personalaustausch zurzeit extrem lang dauert – und zwar in beide Richtungen. Chinesische Mitarbeiter nach Deutschland zu holen sei ähnlich schwierig wie Deutsche ins fernöstliche Land zu bekommen. „Da warten wir teilweise Monate auf einen Visumstermin. Ich hoffe, dass sich das in absehbarer Zukunft entspannt“, sagt Dotou.

Und immerhin: Die Zahlen der Axa deuten darauf hin. „Trotz der auch noch in 2022 bestehenden Schwierigkeiten bei der Durchführung einer Entsendung haben wir jedoch wieder einen deutlichen Anstieg der versicherten Personen in China feststellen können“, sagt Gisela Baum. Und auch Michael Weiss von Deloitte sieht eine interessante Entwicklung: „In vielen Branchen ist ein Anstieg an längeren Geschäftsreisen und Kurzzeitentsendungen ohne Begleitung der Familie nach China zu verzeichnen“, sagt er.

Die nächste Boomregion: Deutschland

Waren es also einst Shanghai und Peking, kommt nun immer häufiger die Frage auf: Wo wird die nächste Boomregion für Auslandsentsendungen sein? Michael Weiss sieht besonders ein Revival: „Die USA erleben derzeit ein regelrechtes Comeback als Boomregion für neue Entsendungen. Die zunehmenden Investitionen ausländischer Unternehmen sowie die boomende Forschung in den USA führen zu einer Wiederbelebung des Landes als beliebten Einsatzort für Entsendungen.“ Daneben sieht er das Vereinigte Königreich und asiatische Länder weit oben auf der Liste.

Gisela Baum sieht die Vereinigten Arabischen Emirate vermehrt im Fokus. „Neben den konstanten Top-Entsendungsländern wie den USA und China scheint auch dies vermehrt ein Zielort vieler Entsendungen zu werden“, sagt sie.

Für Martina Schlamp stellt sich das Thema ein wenig anders dar. Sie sagt: „Ich kann aktuell kaum besondere Boomregionen feststellen, sondern eher eine Zersplitterung weltweit.“ Gerade Start-ups würden die benötigten Fachkräfte dort beschäftigen, wo sie eben wohnen und dann remote auf die Systeme zuschalten. Giovanni De Carlo sieht beispielsweise eine Verlagerung der IT-Aktivitäten nach Schweden oder ins Silicon Valley, während sich die produzierende Industrie inzwischen auf Spanien und Portugal konzentriere. „Das sehen wir vermehrt auf den Priolisten“, sagt De Carlo.

Aus Arbeitgebersicht sieht Boccagni als Boomregion auch Europa. Erklären lässt sich dieser Trend unter anderem mit steuerlichen Anreizen, erklärt Emanuela Boccagni, die noch Italien auf die Liste der Gewinnerländer setzen möchte. „Die Anreize, ausländische Fachkräfte und ehemals Ausgewanderte nach Italien zu locken, funktionieren aktuell sehr gut“, berichtet sie. Auch die USA sind weiterhin im Fokus der Unternehmen. Gerade die Tier-2-Städte werden als neue Standorte für beispielsweise neue Produktionsstätten derzeit interessant, so Boccagni.

Ausgerechnet ein Land könnte aber zur Boomregion werden, das jahrelang wohl niemand auf dem Schirm hatte: Deutschland. „Viele Kunden finden hierzulande keine Fachkräfte mehr, kaufen sie im Ausland ein und lassen sie von dort arbeiten“, erklärt Jens Goldstein von Ernst & Young. Ein besonders beliebtes Land sei dabei Indien, aber auch die Niederlande oder Frankreich kämen ihm immer häufiger unter. „Ob das eine Auslandsentsendung ist, darüber lässt sich natürlich trefflich streiten“, so Goldstein.

Omer Dotou ergänzt die Länderliste der Boomregionen, nennt als Beispiele Polen oder Ungarn. „Wir sehen dort Modelle, bei denen die Mitarbeiter vielleicht einmal im Monat nach Deutschland kommen, sonst aber wie Entsendete in ihren Ländern arbeiten“, erklärt der Experte.

Remote Work: Ist das noch eine Entsendung?

Laptop aufklappen, Mails schreiben oder Konferenzen abhalten: Das geht heute, ohne mit Container und Umzugswagen um die halbe Welt zu fahren. Doch ist das wirklich noch eine Auslandsentsendung? Und wenn ja, wie lässt sich das rechtlich regeln? „Wenn jemand nur in Polen sitzt und für ein deutsches Unternehmen arbeitet, ist das natürlich keine Entsendung“, stellt Dotou direkt zu Anfang einmal klar. „Das ist ein Local Hire, beziehungsweise eine lokale Beschäftigung.“

Martina Schlamp sieht die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Entsendung und dauerhafter Remote Work: „Ein paar Wochen Remote Work ist vergleichbar mit einer vorübergehenden Auslandsentsendung, eine dauerhafte Anstellung im Ausland muss man dagegen anders bewerten“, wirft sie ein. „Ist jemand dauerhaft im Ausland tätig, ist das sozialversicherungsrechtlich anders zu bewerten als eine Auslandsentsendung“, erläutert Schlamp. In Bezug auf die Einordnung und Bewertung von vorübergehender Remote Work gibt es nach wie vor rechtliche Graubereiche. Für Unternehmen sei es daher teilweise auch eine Risikoabwägung, in welchem Umfang sie Remote Work erlauben.

Dass es mittlerweile viele Formen gibt, die irgendwo zwischen einer klassischen Entsendung und Local Hire liegen, beobachtet auch Jens Goldstein. „Wir sehen viele verschiedene Spielarten. Die klassische Entsendung mag eine sein, aber Mitarbeitermobilität geht heute viel weiter“, sagt er. Wichtig sei, frühzeitig Regeln, Richtlinien und Policen aufzustellen, damit Mitarbeiter wissen, was sie dürfen, was sie nicht dürfen – und wie all das rechtlich zu betrachten ist. „Ich muss als Unternehmen vermeiden, in Risiken reinzurutschen“, sagt Goldstein.

Giovanni De Carlo verweist darauf, dass sich die Spielregeln bei den Entsendungen schon immer ein wenig verändert haben. „Unsere Branche ist ständig im Wandel, das ist ja das Schöne daran“, sagt er und sieht in den neuen Spielregeln auch Chancen für Dienstleisterfirmen. „Gerade wer seine Mitarbeiter im Ausland compliant anstellen will, kann überlegen, mit einer Employer-of-Record-Firma zu arbeiten. Das macht es einfacher“, sagt er. Allerdings müsse man achtgeben, das Thema Remote Work aus Sicht der gesamten Belegschaft zu betrachten. Die Rezeptionistin könne nicht einfach nach Thailand ziehen, das könnte zu Ungerechtigkeiten im Unternehmen führen, warnt er.

Omer Dotou beobachtet eine verstärkte Nachfrage nach Remote in all ihren neuen Spielarten. Aufgrund der zahlreichen rechtlichen Anforderungen und Risiken, die mit Remote Work im Ausland einhergehen, beschränken sich Unternehmen zunächst auf die EU, ist seine Beobachtung, während Michael Weiss von Deloitte sagt: „Wegen des technologischen Fortschrittes der letzten Jahre steigen die Anfragen der Unternehmen bezüglich der Möglichkeiten für internationale Fernarbeit enorm an und werden derzeit vermehrt in die Entsenderichtlinien aufgenommen.“

Neben den Risiken bei Remote Work sieht Emanuela Boccagni aber auch große Chancen in der neuen Arbeitsform. „Wir bekommen zum Thema Remote Work und Workations hunderte Anfragen. Gerade Firmen, die das Thema frühzeitig angehen, können sich von den anderen abheben, wenn es darum geht, Talente zu werben“, so Boccagni.

Compliance-Risiken nicht steigern

Remote Work, klassische Entsendung – oder vielleicht ein Mittelweg? Eine moderne Auslandsentsendung hat kaum noch etwas mit der Form zu tun, wie sie vor 20 oder 40 Jahren praktiziert wurde. In den vergangenen Jahren hat insbesondere der Trend hin zu mehr Workation den Unternehmen eine völlig neue Perspektive gegeben: Statt Mitarbeitende bewusst zu entsenden, wollen diese gern ins Ausland als Erlebnis, um sich fortzubilden, um sich weiterzuentwickeln oder weil der Partner oder die Partnerin ins Ausland will. Was einerseits eine große Chance für die Beschäftigten ist, sich selbst internationaler aufzustellen, birgt aber auch Risiken für die Unternehmen, glaubt Giovanni De Carlo: „Wenn Mitarbeiter sich selbst um Steuern, Sozialversicherung oder Immigration kümmern, läuft man schnell in ein Compliance-Risiko“, sagt De Carlo. „Es ist wichtig, die Menschen hier zu unterstützen und vielleicht sogar Lösungen selbst anzubieten“, sagt er. Dazu gehöre beispielsweise, sich um eine passende temporäre Unterkunft zu kümmern, obwohl der Aufenthalt nur ein bis zwei Monate dauert. So aber könne man sicher sein, dass der Mitarbeiter in ein ungefährliches Viertel zieht.
„Lieber selbst kümmern, das ist das Motto“, so De Carlo.

Omer Dotou kann dem nur zustimmen und sieht sogar weitere Risiken, die abzudecken sich lohnen könne. „Gerade die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es geopolitische Risiken gibt, die man als Firma beachten sollte, wenn die eigenen Mitarbeiter ins Ausland gehen – egal wie lange“, so Dotou. Gerade die Pandemie habe gezeigt, dass es Szenarien gebe, in denen man plötzlich nicht mehr nach Hause komme, wenn etwas schiefläuft. „Das hat die familiäre Diskussion sicherlich noch einmal verschärft“, sagt der BDAE-Consult-Unternehmensberater. Denn viele wollten einhundertprozentige Sicherheit, die es so nicht geben könne.

Familie muss mitgedacht werden

Ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Thema der modernen Entsendung ist die Familie. Ein Großteil der deutschen Expats ist über 40 Jahre alt, hat nicht selten eine Partnerin oder einen Partner und auch Kinder. Wo früher klar war, dass der oder die Partnerin einfach mitgeht und sich vor Ort schon irgendwie zurechtfinden wird, sind die Ansprüche heute deutlich höher. Die meisten Partnerinnen und Partner wollen vor Ort beispielsweise arbeiten, hinzukommt, dass gerade die Tier-2-Städte etwa in den USA, die aber eben nicht New York oder Washington sind, zurzeit beliebter werden. Das kann abschrecken. Um herauszufinden, ob man sich dort wohlfühlen kann, empfehlen alle Expertinnen und Experten beim Round Table eine ausführliche Beratung – inklusive Familie. „Früher musste sie aktiv von den Mitarbeitern angefragt werden, heute ist eine Familienberatung selbstverständlich“, berichtet beispielsweise Omer Dotou. „Die Begleiter haben ganz eigene Fragen, die man in einer Beratung gut diskutieren kann“, sagt er.

Wie wichtig es sein kann, Klarheit über die Gegebenheiten vor Ort zu schaffen und dabei auch die Familie mit einzubeziehen, davon berichtet Martina Schlamp aus ihrer Praxiserfahrung. In einem Fall ist eine Frau in die USA entsandt worden, eine aufsteigende Fachkraft auf Managementebene. Sie ist, wie häufig bei Entsendungen, aber nicht in eine attraktive Großstadt, sondern an einen kleineren Ort entsandt worden. „Ihr Mann fand dort keine Arbeit und wollte dort nicht leben, suchte sich daher etwas in einer anderen Stadt“, erzählt Schlamp. „Doch die räumliche Distanz hat zu privaten Problemen geführt, und die Entsendung wurde nach kürzester Zeit abrupt abgebrochen. Das ist natürlich ein Extremfall, aber den will man ja vermeiden“, sagt Schlamp, die auch die andere Seite kennt. In einem anderen Fall hat ein Mitarbeiter während seiner Entsendung nach China dort seine Ehefrau kennengelernt und ist auch anschließend immer wieder mit seiner Frau für das Unternehmen in diese Region gegangen. „Das ist die andere Seite des Extrems und für beide Seiten vorteilhaft“, sagt Schlamp. Sie empfiehlt, auch wenn das in Zeiten von ESG und Nachhaltigkeit seltener geworden ist, einen Look-and-See-Trip, damit sich Mitarbeiter und die Familie ein realistisches Bild vor Ort machen können.

Alles zum Thema

Global Mobility

Global Mobility umschreibt die Reisetätigkeit einzelner Mitarbeiter oder von Mitarbeitergruppen eines Unternehmens, wobei sich die Entsendeten in einem anderen Land oder auch innerhalb eines Landes an einem anderen Standort als ihrem üblichen Arbeitsplatz aufhalten können.

Der Frauenanteil bei den Expats steigt (langsam)

Durch die Pandemie hat sich auch die Zusammensetzung der Expat-Population verändert. Emanuela Boccagni erklärt, dass der Männeranteil bei Entsendungen sich noch immer auf 80 Prozent beläuft. „Unserer jüngsten Erhebung zufolge liegt der Frauenanteil bei internationalen Entsendungen bei 19,7 Prozent. Das mag insgesamt niedrig erscheinen, ist aber eine Frage der Wahrnehmung und der Branche: Ein Kunde, mit dem wir erst letzte Woche gesprochen haben, wertete die Statistik als positive Entwicklung, da der Anteil deutlich höher ist, als er nach seiner eigenen letzten Statistik (zwölf Prozent) erwartet hatte.“ Jens Goldstein von Ernst & Young sieht eine Möglichkeit für mehr Balance in den neuen Entwicklungen. Er glaubt, dass gerade die neuen Spielarten der Remote Work es geschlechtsunabhängig ermöglichen, flexibler zu arbeiten und ins Ausland zu gehen. „Es gibt hier gewaltige Möglichkeiten, auch für jene, die bisher nie an eine Auslandsentsendung gedacht haben, weil sie an die Heimat gebunden sind“, glaubt Goldstein. So könnten die Bewerber nur eine Weile im Gastland sein und fortan ihr Team remote führen, wenn dieses sowieso nur noch selten ins eigene Office kommt. „Das ist ein ganz anderer Mitarbeiterstock, der da in Betracht kommt“, so Goldstein.

Genau das möchte Giovanni De Carlo aber mit Vorsicht genießen. Zwar hält er es für einen Glücksfall, wenn Mitarbeiter sich fürs Ausland interessierten, aber nur ein kurzer Aufenthalt vor Ort? „Da sehe ich keinen Sinn drin“, sagt De Carlo. „Die Idee ist doch, dass man vor Ort lebt, wächst, lernt, die Kultur adaptiert und dann auch wieder ins Unternehmen einbringt. Das ist virtuell einfach nicht möglich“, glaubt De Carlo. „Unternehmenskultur entwickelt sich nicht vor dem Rechner, sondern in den Büros vor Ort.“

Wie nachhaltig sind Entsendungen?

Nachhaltigkeit ist für Unternehmen die vielleicht wichtigste Dimension der vergangenen Jahre. Ihre Produkte müssen jetzt nachhaltig sein, ihre Lieferketten sowieso – und ihre Auslandsentsendungen? Michael Weiss sieht hier einen starken Bedeutungszuwachs bei Firmen, fügt aber auch hinzu: „Laut der von Deloitte im Jahr 2020 veröffentlichten Studie ‚Smart Mobility‘ befand sich die überwiegende Mehrheit der befragten Unternehmen noch immer in der Sondierungs- beziehungsweise Entwurfsphase für konkrete nachhaltige Maßnahmen bei Entsendungen.“

Emanuela Boccagni denkt auch, dass über Worte hinaus noch mehr erreicht werden kann: „Viele Unternehmen finden, dass das Thema Nachhaltigkeit in den letzten Jahren so oft diskutiert wurde, dass eine gewisse Ermüdung eingetreten ist.“ Für Organisationen sei es schwierig, den richtigen Anstoß für echte Veränderungen zu finden, und einige der häufig in Betracht gezogenen Optionen seien wohl nur oberflächlich nachhaltig. „Die Anmietung von möblierten Unterkünften bedeutet zwar, dass keine Lieferung erfolgt, aber ist man bereit, die Herkunft der Möbel zu untersuchen, wie nachhaltig sie beschafft wurden und ob sie am Ende oft ausgetauscht werden müssen?“ Jens Goldstein hingegen sieht den Trend durchaus, insbesondere auch bei jüngeren Menschen. So gebe es immer wieder optionale Angebote, die in die Richtung gehen: „Fliegst du dreimal nach Hause, oder sollen wir dir das lieber auszahlen? Letzteres ist natürlich nachhaltiger, das ist so ein klassisches Angebot“, sagt Goldstein. Auch Carbon Tracker können dazu beitragen, dass die Mitarbeiter eher mal den Zug statt das Flugzeug nehmen.

Und auch im Bereich der Krankenversicherung sei ESG heutzutage längst ein Thema, erklärt Versicherungsexpertin Gisela Baum. „Für mehr Nachhaltigkeit verzichten wir auf die weltweite Zustellung von Versicherungsunterlagen per Post und liefern stattdessen alle relevanten Dokumente digital mithilfe unseres Kundenportals“, gibt Baum ein Beispiel dafür, wo man heute überall auf Nachhaltigkeit achten kann. Auch digitale Produkte wie ein Virtual Care Service seien heute, neben anderen digitalen Services und Tools, bei der Axa üblich, betont Gisela Baum. Giovanni De Carlo sieht die Thematik Nachhaltigkeit nicht selten als vorgeschoben. So seien Unternehmen zwar durch viele Regularien, wie etwa das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, mit dem Thema ständig beschäftigt, aber würden es auch nutzen, um zu sparen.

Diese Argumentation findet die Unterstützung von Omer Dotou. „Wir sehen, dass Unternehmen sich das Thema gern auf die Fahne schreiben, aber eigentlich steht natürlich das Sparen im Vordergrund“, sagt er. Zwar hätten neue Mitarbeiter eine andere Wahrnehmung, und man müsse sich als Unternehmen langfristig anpassen, doch sei das in der Masse bisher noch nicht angekommen. Michael Weiss von Deloitte hingegen sieht auch durch die neuen Formen der Auslandsentsendungen einen ökologischen Aspekt berührt, nämlich dann, wenn Remote Work zu weniger Reiseaktivitäten führt. „Dies zeigt grundsätzlich, dass der Bereich der Auslandsentsendungen in den kommenden Jahren sowohl umweltbewusster als auch diverser werden wird.“