Strategielosigkeit als zukünftige Strategie?

Vor genau 30 Jahren verfasste der Autor dieses Beitrags für die Personalwirtschaft einen Artikel mit der damals noch völlig unüblichen Überschrift „Strategische Personalplanung“. Grund genug zu prüfen, was sich in diesem Bereich seit 1984 verändert hat – in der Wissenschaft, vor allem aber in der Praxis.
Ein Blick in die Vergangenheit hat immer etwas anachronistisch Amüsantes, manchmal aber auch etwas ernüchternd Erstaunliches – vor allem, wenn man das Damals mit dem Heute vergleicht.
Zur Erinnerung: Erst Mitte der 1970er Jahre ist das Wort „strategisch“ überhaupt ernsthaft in die betriebswirtschaftliche Diskussion einbezogen worden. Dies bedeutet zwar nicht, dass man vorher nicht strategisch gehandelt hat, aber es wurde innerhalb des Geschäftskontextes noch nicht beim Namen genannt, sondern war eher etwas emergent Entstandenes. In jedem Fall aber waren Geschäftsfeldstrategien weitgehend neu, Wettbewerbsstrategien von Michael Porter gerade erst entdeckt und lediglich Erfahrungskurven sowie Produktlebenszyklen prägender Bestandteil der Unternehmensplanung. 1981 wurde die „Strategic Management Society“ gegründet und ein Jahr später diskutierte die Forschungselite, wie Michael Porter und Henry Mintzberg in Montreal, über die wahre Bedeutung von „Strategie“.
Unbekanntes Neuland
War schon „Strategie“ damals etwas Exotisches, wurde die Verbindung von „Strategie“ mit Personalarbeit weitgehend als grotesk abgetan: So erlebte der Autor dieses Beitrages sein diesbezügliches Waterloo 1981 sowohl bei der wissenschaftlichen Kommission Personal („Wofür brauchen wir so etwas“) wie auch bei Unternehmen („Wir werden nie unser Personal strategisch verplanen“).
1982 erschienen dann in Deutschland und in den USA erste zaghafte Aufsätze, die langsam das Interesse für das Thema weckten: So entstand der Michigan-Ansatz von Tichy u.a. (1982) und natürlich in kleinerem Rahmen das, was später manchmal auch als „Saarbrücker Ansatz“ bezeichnet wurde (Scholz 1982).
Der daraus resultierende konzeptionelle Rahmen für eine strategische Personalplanung wurde dann in der Personalwirtschaft publiziert (8/1984). Die zentrale Idee: In Abstimmung mit der Geschäftsfeldstrategie erfolgt zunächst eine strategische Bedarfsbestimmung, die sich dann mit einer strategischen Bestandsanalyse verbinden lässt, woraus sich die anderen Planungsfelder wie Personalbeschaffung, Personalentwicklung und Personalführung ableiten lassen.
Wichtig dabei war (und ist) immer das teilweise mühsame Herausarbeiten der originär-strategischen Inhalte. Man beschäftigte sich also intensiv mit der Frage, was eigentlich „strategisch“ ist und wie die konstituierenden Merkmale Komplexitätsreduktion, Potenzialorientierung und vor allem Proaktivität miteinfließen.
Diese Merkmale der Strategie stellten sich insofern als wichtig heraus, als dadurch die strategische Personalplanung eine Brücke zum etwas mehr gestalterisch-aktiven Personalmanagement schlagen konnte. Allerdings produzierte dieser Ausdruck durch die Verbindung mit „Management“ ein noch größeres Stirnrunzeln. Denn: Was hat Personalarbeit mit „Management“ zu tun“? Wenngleich sich die Wissenschaft bereits vereinzelt mit der strategischen Personalplanung befasste, sah die Praxis das Ganze in seiner Seriosität auf dem gleichen Niveau wie Feng-Shui.
Langfristigkeit als praktizierte Strategie
Dass Überlegungen zu einer expliziten strategischen Personalplanung noch keinen flächendeckenden Niederschlag in der Praxis fanden, bedeutet aber nicht, dass sich Unternehmen nicht doch unbewusst-emergent strategisch verhalten haben.
Ganz im Gegenteil: Das Schlüsselwort lautete dabei „Langfristigkeit“. Auch wenn sich die Wissenschaft damals ernsthaft bemühte, den Unterschied zwischen „langfristig“ und „strategisch“ herauszuarbeiten, so prägte doch diese Langfristigkeit das Verhalten der Unternehmen. Das führte dazu, dass selbst für nicht sonderlich wichtige Aspekte versucht wurde, alles für fünf Jahre (oder sogar mehr) im Voraus zu planen. Diese Planungsrunden fraßen bei der Personalarbeit einen großen Teil der Kapazitäten, sorgten aber letztlich auch für eine gewisse Art an Stabilität.
Denn diese Langfristigkeit als Paradigma galt auch für die Personalarbeit als Ganzes und erst recht für die Bindung der Mitarbeiter: Unternehmen versuchten ganz bewusst, Mitarbeiter langfristig an das Unternehmen zu binden und hatten damit oft auch Erfolg. Man mag heute über Karrierepläne und Laufbahnmuster etwas verächtlich die Nase rümpfen: Für Mitarbeiter und Unternehmen bedeuteten sie aber positiv erlebte Stabilität.
Der Stabilität diente auch ein weiteres Element, das als eines der wenigen sowohl in wissenschaftlichen Konzepten als auch manchmal in der Praxis zum Einsatz kam, nämlich die Szenario-Analyse. Sie lokalisiert mindestens zwei Zukunftsbilder, die möglichst weit auseinanderliegen und die als prinzipiell denkbar gelten. Sind diese beiden Bilder lokalisiert, so werden Maßnahmen eingeleitet, um sich zumindest auf diese beiden extremen Szenarien einzustellen („Kontingenzaktivität“).
Unabhängig von den konkreten Implikationen dieser Szenario-Analyse führte sie auf jeden Fall dazu, dass sich Unternehmen bewusst auch hinsichtlich personalwirtschaftlicher Fragestellungen mit der fernen Zukunft und dem Weg dorthin auseinandersetzten, letztlich durchaus strategisch agierten.
Personalabteilung als Dreh- und Angelpunkt
Auch wenn die strategische Personalplanung 1984 noch in den Kinderschuhen steckte, gab es doch schon erste Gehversuche. Sie wurden begünstigt durch die extrem starke Stellung, die damals die Personalabteilung im Unternehmen hatte. Dies begann bereits mit der engen Kopplung zur Geschäftstätigkeit: So wurden Personalpläne in der und durch die Personalabteilung mühevoll mit Produktions- und Absatzplänen verbunden. Dadurch war aber auch der Bezug zwischen „Personal“ und „Business“ bereits institutionalisiert. Gerade die Verbindung zwischen strategischer Bedarfs- und Bestandsplanung sowie zur Einsatzplanung waren hier interessante Punkte.
Getrieben vom Leitbild der Langfristigkeit wurde auch die Personalentwicklung immer wichtiger, und zwar egal, ob das Attribut „strategisch“ davor geschaltet wurde: Denn wenn versucht werden soll, sich durch einen gegebenen Personalbestand auf die Zukunft vorzubereiten, so verlangt dies zwingend entsprechend zielgerichtete Personalentwicklungsprogramme.
In diesem Zusammenhang befassten sich auch schon einzelne Personalabteilungen – damals getrieben durch Bücher wie das 1982 publizierte „In Search of Excellence“ – früher noch als die Mainstream-BWL mit dem absolut strategischen Thema „Unternehmenskultur“ als Konzept zur einheitlichen Führung und Verhaltens steuerung in Unternehmen. Denn auch dort wurden Themen wie Langfristigkeit und Bindung gerade vor dem Hintergrund von Motivation und letztlich Geschäftserfolg intensiv propagiert.
Damit lässt sich festhalten: 1984 gab es erste Ideen in der Wissenschaft und erste Umsetzungen zur strategischen Personalplanung, die sich vor allem mit dem planerisch-konzeptionellen Aspekt beschäftigten.
Was ist daraus geworden?
Viele von den 1984 thematisierten Inhalten werden in ihrer markanten Ausrichtung erst im Vergleich zu heute deutlich. Dabei ist insbesondere der konsequente Übergang von der strategischen Personalplanung zum strategischen Personalmanagement bemerkenswert, also von der reflektierenden Planung zur konsequenten Aktion.
Während die Wissenschaft glaubt, die zentralen Konturen eines wirklich strategischen Personalmanagements herausgearbeitet zu haben (Abbildung) und damit weitgehend das Thema abgehakt hat, setzt die Praxis inzwischen fern von jeglichen Berührungsängsten das Wort „strategisch“ als argumentative Allzweckwaffe ein: Sobald das Wort „strategisch“ aufgeklebt ist, scheint – so die gelebte Wirklichkeit – jedes Konzept und jede Visitenkarte automatisch Relevanz zu bekommen.
Abbildung
Beispiele für aktuelle Inhalte einer strategischen Personalarbeit (Scholz 2014)

Ein tatsächlicher Quantensprung in Richtung einer wirklich strategischen Personalarbeit einschließlich eines entsprechend methodischen Unterbaus scheint aber, soweit erkennbar, nur in wenigen Unternehmen vorhanden zu sein. Der Grund dafür dürfte weniger im Fehlen eines geeigneten Instrumentenkastens liegen, als vielmehr in der Abkehr vom Paradigma „Langfristigkeit“ und „Professionalität“.
Sprunghaftigkeit als Maxime und Flexibilität als Schlüssel
Betrachtet man die Personalarbeit auch in renommierten Unternehmen, suchen diese händeringend Mitarbeiter, zugleich werden aber Tausende Mitarbeiter freigesetzt. Auf Bindung zu Mitarbeitern, auf Kontinuität und auf Stabilität wird dabei kein Wert mehr gelegt, also auch der Effekt auf den Unternehmenserfolg als marginal eingestuft. Stattdessen dominiert die Sprunghaftigkeit, als Bereitschaft zur raschen und wiederholt-radikalen Kurskorrektur.
Auch wenn dies bei uns in Deutschland natürlich weitgehend sozialverträglich beziehungsweise zu Lasten der außerbetrieblichen Allgemeinheit geht, so müsste doch die Frage nach der Qualität der Personalarbeit gestellt werden. Gerade das, was wir heute in vielen Unternehmen – natürlich entschuldigt durch Globalisierung und Finanzkrise – sehen, ist das, was durch eine strategische Personalplanung verhindert werden sollte.
Gleichzeitig gibt es einen ganz zentralen Unterschied: Früher versuchten Unternehmen – auch wenn sie ihr Verhalten nicht mit dem Attribut „strategisch“ kombinierten – die weit in der Zukunft liegenden Entwicklungen zu verstehen und sich darauf vorzubereiten (Stichwort: Szenario-Analyse plus Kontingenzaktivität). Heute wird anders vorgegangen: Statt der Kontingenzaktivität als aktive Vorbereitung auf alternative Umweltzustände gibt es eine Tendenz in die Flexibilität. Ein typisches Beispiel sind Kurzarbeiterregelungen und variable Arbeitszeiten: Je mehr an Flexibilität gewonnen wird, umso weniger gibt es die Notwendigkeit einer systematischen Planung.
Skeptiker mögen dies als Mangel an Strategie bezeichnen und damit nicht falsch liegen: Nur ist letztlich auch die Entscheidung für Sprunghaftigkeit plus Flexibilität eine strategische.
Personalabteilung als operative Residualgröße
Die Einbindung der Personalarbeit in die Unternehmensstrategie wurde 1984 durch eine planerische Verbindung realisiert: Es gab quasi Dokumente, die diesen Bezug herstellten. Heute ist das insofern etwas anders, als diese Kopplung eher über Personen realisiert werden soll: Dazu werden zum einen Personen, die „etwas vom Geschäft verstehen“ in leitende Funktionen der Personalabteilung geholt, zum anderen Mitglieder der Personalabteilung als Senior Business Partner der oberen Managementebene in der Linie zur Seite gestellt.
Bedingt auch durch die Optionen zur virtuellen Personalarbeit (die fatalerweise nur selten ihren Niederschlag in einer integrativ-virtuellen Personalabteilung fand) gibt es inzwischen im Vergleich zu 1984 ein flächendeckendes HR-Outsourcing, bei dem bald schon selbst die Outsourcing-Entscheidungen an Externe ausgelagert werden. Trotzdem bleibt gegenwärtig eine gewisse Menge an Restaufgaben für die Personalabteilung übrig, wozu aber selten die strategische Ausrichtung der Personalarbeit gehört. Hier gilt immer noch der Spruch aus einem bekannten DAX-30-Unternehmen: „Die Personalstrategie ist zu wichtig, als dass man sie dem Personalressort überlassen könnte.“
Wie wird es morgen?
Verbindet man das Bild von vor 30 Jahren mit der heutigen Realität, so drängt sich die Frage nach der Zukunft auf. Sie ist aber insofern offen, als gegenwärtig in der Praxis – mehr noch als in der Wissenschaft, die sich nicht mehr substanziell mit diesen Themen beschäftigt – zwei Diskurse laufen:
• Gelebte HR-Nachhaltigkeit oder konsequente HR-Kurzfristigkeit?
• Professionelle HR-Abteilung oder zugekaufte HR-Massenware?
Diese beiden Diskurse sind abendfüllend: Entweder bekommen wir das Unternehmen, das durch strategisches Personalmanagement und eine professionelle Personalabteilung Wettbewerbsvorteile realisiert. Oder aber die Zukunft liegt im völlig fluiden Unternehmen mit einem maximalen Flexibilitätspotenzial, das jegliche Organisationsgrenzen aufgibt und auch ohne strategische Personalplanung arbeitet. Letzteres ist wahrscheinlich, allerdings absurd: Denn wollen wir wirklich gerade jetzt, wo wir angesichts der enormen Herausforderungen ein echtes strategisches Personalmanagement brauchen, darauf verzichten?
Scholz, Christian: Zur Konzeption einer strategischen Personalplanung, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 34 (1982), S. 979-994.
Tichy, Noel M./Fombrun, Charles J./Devanna, Mary Anne: Strategic Human Resource Management, in: Sloan Management Review 23 (1982), S. 47-61.
Scholz, Christian: Strategische Personalplanung, in: Personalwirtschaft 11 (1984), S. 261-266.
Scholz, Christian: Personalmanagement. Informationsorientierte und verhaltenstheoretische Grundlagen, 6. Auflage, München 2014.
Autor
Prof. Dr. Christian Scholz, Lehrstuhl für Organisation, Personal- und Informationsmanagement, Universität des Saarlandes, scholz@orga.uni-sb.de
Dieser Beitrag ist in der Personalwirtschaft 8/2014 erschienen.
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