„Wer mehr Kontrolle möchte, muss auf elektronische Zeiterfassung umstellen“ In der Pandemie arbeiten mehr Menschen als zuvor im heimischen Büro, womit sich Fragen der Dokumentation und Kontrolle der Arbeitszeit stellen. Johannes Traut über Praxislösungen, auch beim Mobile Working.

Johannes Traut: Auf jeden Fall, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einerseits geht es ihnen darum, den relativ strengen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes nachzukommen. Andererseits wird auch die Vermeidung von Missbrauch thematisiert, jedoch nicht vorrangig. Grundsätzlich haben wir von Mandanten positive Rückmeldungen hinsichtlich des Arbeitens im Homeoffice bekommen. Daher haben sich viele entschieden, Homeoffice in weitem Umfang beizubehalten. Wie sie gegen tatsächlichen oder gefühlten Missbrauch von Arbeitszeit vorgehen können, wird jedoch in jüngerer Zeit etwas häufiger thematisiert. Wie lief die Erfassung der Arbeitszeit im Lockdown?
Am besten trifft es vermutlich das Wort „pragmatisch“. Vor eine besondere Herausforderung waren vor allem die Unternehmen gestellt, die bisher auf die klassische Stempeluhr gesetzt haben. Hier wechselten Mitarbeitende häufiger ohne Vorgaben ins Homeoffice, und die Arbeitszeiterfassung wurde einfach ausgesetzt. Das ist aber im Hinblick auf die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes zur Dokumentation von Arbeitszeit keine Dauerlösung. Andere Unternehmen sind teilweise sehr schnell auf moderne Instrumente der Zeiterfassung umgestiegen, beispielsweise per App, soweit sie diese nicht ohnehin schon für bestimmte Mitarbeitergruppen im Einsatz hatten. Diejenigen, die auf Vertrauensarbeitszeit setzen, hatten nichts anzupassen. Das heißt, Arbeitgeber haben zum großen Teil darauf vertraut, dass alles richtig läuft?
Es gab und gibt sicherlich bei den meisten Arbeitgebern ein Grundvertrauen, dass nach unserer Wahrnehmung durch die Erfahrungen im Lockdown sogar gestärkt wurde. Tatsache ist aber auch: Selbst wenn die Arbeitszeiterfassung teilweise entfallen ist, haben viele Unternehmen andere Parameter, mit denen durchaus nachvollzogen werden kann, ob gearbeitet wird oder nicht. In vielen Organisationen werden die geleisteten Stunden ohnehin schon zu Abrechnungs- oder internen Projektplanungszwecken erfasst, beispielsweise in Unternehmensberatungen, in IT-Systemhäusern oder auch Kanzleien. Für die Zukunft sieht die Lösung wohl so aus: Wer mehr Kontrolle möchte, muss auf die elektronische Zeiterfassung umstellen. Treibt der Arbeitsplatz Homeoffice die Erfassungspflicht voran?
Das Thema wird auf jeden Fall dringlicher, und nicht wenige Unternehmen planen den Einsatz der digitalen Stechuhr. Das heißt, auch mobil arbeitende Beschäftigte können sich zum Beispiel bei Arbeitsbeginn und -ende sowie bei Pausen ein- und ausloggen. Dieses Vorgehen ist auf jeden Fall compliant und weitestgehend unproblematisch einzuführen – natürlich mit Beteiligung des Betriebsrats, da diese Systeme mitbestimmungspflichtig sind. Bedeutet das letztlich, dass die Vertrauensarbeitszeit ein auslaufendes Modell ist und in White-Collar-Jobs die digitale Zeiterfassung Standard wird?
Unternehmen haben durchaus Handlungsbedarf, weil das EuGH-Urteil vom 14. Mai 2019 vorschreibt, dass geleistete Arbeitsstunden systematisch erfasst werden müssen. Doch zunächst ist der Gesetzgeber am Zug. Bis zur Anpassung der deutschen Gesetze kann das bisherige Arbeitszeitgesetz also wie bisher angewendet werden – einzelne gegenteilige Entscheidungen von Instanzgerichten dürften aus meiner Sicht Einzelmeinungen bleiben. Nichtsdestotrotz ist es natürlich sinnvoll, bereits mit Blick auf die Vorgaben des EuGH-Urteils passende Konzepte zu entwickeln. Wer jetzt ein neues Modell zur Zeiterfassung plant, sollte dafür sorgen, dass dieses System die kommenden Vorgaben ohne Weiteres einhalten kann. Allerdings ist für die Umsetzung nicht zwingend eine digitale Lösung erforderlich: Arbeitgeber werden wohl auch weiterhin berechtigt sein, die Aufzeichnung an die Arbeitnehmer zu delegieren, die dann händische Stundenzettel ausfüllen.
Also doch das Aus für die Vertrauensarbeitszeit im
Homeoffice?
Nicht unbedingt. Arbeitgeber stehen vor zwei wesentlichen
Fragen. Zunächst müssen sie sich Klarheit verschaffen,
welche vorrangigen Ziele sie verfolgen. Also:
Benötigen wir die Daten der Arbeitszeiterfassung nach
dem Arbeitszeitrecht in erster Linie für die Aufsichtsbehörde?
Oder aber: Welche Daten und Informationen
benötigen wir zur Kontrolle der Arbeitspflicht und der
Abrechnung der Vergütung, und wollen wir überprüfen,
ob und wann Mitarbeiter im Homeoffice auch tatsächlich
arbeiten? Diejenigen, die genau informiert sein
wollen, wann der Beschäftigte arbeitet, werden eine
digitale Lösung wählen. Wobei letztlich diese Instrumente
die gleichen Unschärfen aufweisen wie eine
analoge Stechuhr. Wer sich eben einen Kaffee holt,
wird sich für diese Minuten möglicherweise nicht ausloggen.
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Die andere Alternative?Wir erleben viele Mandanten, die der Dokumentationspflicht nach dem Arbeitszeitrecht genügen wollen, aber an der Vertrauensarbeitszeit festhalten möchten. Das ist bei genauer Umsetzung der Vorgaben des EuGH möglich. Die Lösung liegt darin, die Arbeitszeiterfassung und die Dokumentation vollständig von der Arbeitszeitkontrolle und Abrechnung der Vergütung zu trennen. Ob die Aufzeichnung der Arbeitsstunden an die Mitarbeitenden delegiert oder die Arbeitszeit digital erfasst wird: Diese Daten werden nur für die Akten gesammelt und abgeheftet und werden nicht zur Leistungsbewertung oder der genauen Überprüfung der Arbeitszeit herangezogen. Bei diesem Vorgehen wird weiterhin die Vertrauensarbeitszeit gelebt. Passende IT-Systeme können dies durch restriktive Zugriffsrechte unterstützen, in dem die beiden Zuständigkeiten getrennt werden. Arbeitszeitdokumentation nur für die Akten – mit welchem Ziel?
Einerseits verhalten sich die Arbeitgeber gesetzeskonform und sind bei möglichen Kontrollen auf der sicheren Seite. Andererseits hat die Art und Weise der Zeiterfassung nicht nur arbeitsrechtliche Aspekte, sondern sie ist auch eine Frage der Unternehmenskultur und der Personalgewinnung. Denn Mitarbeiter und potenzielle Bewerber sollen sich nicht gegängelt fühlen, indem sie befürchten müssen, dass händische oder digitale Erfassungen zu genauen Kontrollen führen. Ohnehin hilft eine genaue Arbeitszeiterfassung nur begrenzt gegen Missbrauch – wer betrügen möchte, manipuliert im Zweifel auch Aufzeichnungen. Effektiver ist es, durch gute Führung den Umfang und die Qualität der Arbeitsergebnisse im Blick zu halten. Wenn jegliche Arbeitszeit im Homeoffice erfasst wird, kommt es ohne Frage zu Kollisionen mit der arbeitszeitgesetzlichen elfstündigen Ruhepflicht. Wie wird Ihrer Einschätzung nach der Gesetzgeber dieses Problem lösen?
Das abendliche E-Mail-Checken, das die Ruhezeit unterbricht, ist in der Praxis tatsächlich eine sehr große Herausforderung. Leider ist die tägliche Ruhezeit von elf Stunden eine Vorgabe der europäischen Arbeitszeitrichtlinie, an die der deutsche Gesetzgeber gebunden ist. Lösungen müssen also richtlinienkonform sein. Eine Möglichkeit liegt zum Beispiel darin, den bislang in Deutschland nicht genutzten Ausweg heranzuziehen, Abweichungen für „leitende Angestellte und sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis“ zuzulassen. Das heißt, für diese Gruppen gilt dann diese Vorschrift nicht. Aber die Mehrheit der Arbeitnehmer ist keine Führungskraft.
Auch eine Bagatellgrenze wurde und wird immer wieder diskutiert. Zu groß sollte die Hoffnung in diese Lösung aber nicht werden. Der Arbeitsminister hat sich bereits mit der Aussage positioniert, zur Umsetzung des EuGHUrteils seien „allenfalls geringfügige Anpassungen nötig“. Das spricht nicht für einen politischen Gestaltungswillen, das Thema der Ruhezeit grundsätzlich anzugehen und mit dem Arbeitszeitrecht im 21. Jahrhundert anzukommen.
Der Text stammt aus unserer Ausgabe 10_2020. Ein Abonnement können Sie hier abschließen