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Belastung ermöglicht Wachstum und Zufriedenheit

Dr. Tobias Esch leitet die im November eröffnete
Dr. Tobias Esch leitet die im November eröffnete „Universitätsambulanz für Integrative Gesundheitsversorgung und Naturheilkunde“ an der Uni Witten/Herdecke.

Tobias Esch hat der Personalwirtschaft 2018 ein Interview zum Thema „Bock auf Arbeit“ gegeben. Nun äußert sich der Neurowissenschaftler zum Gegenteil: Dem Hamsterrad-Phänomen, Titelthema unserer aktuellen Print-Ausgabe.

Personalwirtschaft: Herr Esch, das Thema psychischer Überlastung im Job wird stärker denn je diskutiert. Wie ist es mit dem Phänomen selbst: Ist es verbreiteter als in der Vergangenheit?

Tobias Esch: Grundsätzlich hat die Berichterstattung über Phänomene wie Stress und „Burn-Out“ schon zu erhöhter Aufmerksamkeit und damit Sichtbarkeit des Themas geführt. Auch bekennen sich mehr und mehr Menschen als Betroffene. Und die Stigmatisierung ist inzwischen geringer, während sich das medizinische Angebot verbessert hat. Themen wie Überlastung und, wie man es früher nannte, „Nervenzusammenbruch“, werden heute weniger als Defizit und Versagen empfunden, sondern als eine gewisse Normalität erfahren. Dadurch ist der Weg in das System von Therapie und Behandlung deutlich erleichtert. All dies ist aber nur ein Teil der Antwort. Zugleich ist klar festzustellen, dass Arbeitszyklen kürzer werden, „Multitasking“ und überlappende Prozesse sowie Arbeitsunterbrechungen deutlich zugenommen haben, sodass, wie auch physiologische Indikatoren deutlich machen, Stress und Belastung auch faktisch zugenommen haben.

Inwiefern hat Stressempfinden mit eigener Disposition zu tun? Anders gefragt: Was passiert im Hirn, wenn ich mich als „negativ“ respektiv „positiv“ gestressten Menschen wahrnehme?

Neben einer „Werkseinstellung“ beziehungsweise „Grundausstattung“, mit der wir auf die Welt kommen, sind große Teile unseres Erlebens biografisch geprägt und prinzipiell veränderbar. Natürlich gibt es tendenziell „griesgrämige“ Personen oder die sogenannten „Glückskinder“. Insofern ist die Lage multifaktoriell: Angeborene und wenig veränderbare Anteile treffen auf solche, die man prinzipiell verändern oder trainieren kann. Zentraler Angriffspunkt für all diese Phänomene ist das Belohnungssystem im Gehirn. Dort entscheiden verschiedene Neurotransmitter, Nervenbahnen sowie Rezeptoren und Aktivierungsmuster darüber, ob ich mir im Zweifelsfall eine Lösung für ein Problem zutraue oder nicht.

Schließen sich Arbeitslast und -lust gegenseitig aus, oder kann man auch gern arbeiten, wenn man viel Druck und wenig Perspektiven hat?

Dieser Punkt ist recht gut untersucht.

Früher dachte man, Stress und Überlastung seien eine Frage von zu viel Arbeit. Heute haben wir starke Hinweise darauf, dass das mitnichten ein Automatismus ist.

Es kommt auf die Inhalte an; darauf, ob ich authentisch arbeiten kann und eine Führungskultur und ein Umfeld vorfinde, in denen meine Stärken gesehen und weiterentwickelt werden. Entscheidend ist die Frage der Gestaltungsmöglichkeiten und Kontrolle – jedoch, das stimmt, in gleichzeitiger Abhängigkeit von der Arbeitslast. Die Arbeitsmenge und Gestaltbarkeit, Kontrollierbarkeit sowie Inhalte entscheiden darüber, ob ich eine Arbeit als „gratifizierend“ empfinde.

Wo verläuft die Grenze zwischen positivem und negativem Stress, zwischen Antrieb und Hamsterrad?

Wir unterscheiden nicht mehr zwischen positivem und negativem Stress, denn auch vermeintlich positiver Stress kann bei Dauerlast zu stressassoziierten Warnsignalen, Symptomen oder sogar Erkrankungen führen. Es ist immer eine Frage von Dauer, Dosis und Form. Stress, der für mich schlecht kontrollierbar ist, keinen sichtbaren Anfang und vor allem kein sichtbares Ende hat, wird in der Regel zu einer höheren sogenannten allostatischen Last führen, das heißt stressassoziierte Probleme werden zunehmen. Es kommt außerdem auf die Erholungsfähigkeit an: Wie gut gelingt es mir, auch nach einem vollen Arbeitstag abzuschalten, um am nächsten erholt ins Büro zurückzukehren? Die Wissenschaft zeigt uns, dass die Erholungsfähigkeit weniger an die reine Arbeitsmenge als an die persönlichen Ressourcen sowie die Qualität von Interaktionen und Aufgaben gekoppelt ist.

Woran können Betroffene und Vorgesetzte merken, dass die Situation kippt?

Grundsätzlich gilt: Wenn Arbeitsunfähigkeitszeiten zunehmen; wenn ich wachsende Feindseligkeit in der Kommunikation und in der Haltung anderer oder bei mir selbst wahrnehme, ist Achtung geboten. Dabei ist die Vorstellung, es sei eine gute Strategie, sich einfach stärker von der Arbeit abzugrenzen, entlarvt: Dies ist nur kurzfristig wirksam. Wir sprechen vom sogenannten Cool-Down, was lediglich eine „Vortür“ zum Burn-Out ist. Besser ist es, die Beziehungen mit den Menschen am Arbeitsplatz auf eine Ebene zu bringen, die ein Miteinander, eine Teamfähigkeit und letztlich Inspiration für alle ermöglicht.

Eines Ihrer Kernthemen ist Glück. Ist das manchmal unaufhörliche Streben danach nicht ein Teil jenes Drucks, den sich gerade junge Arbeitnehmer oft machen?

Es geht ja nicht darum, dass Unglück und Schwierigkeiten nicht sein dürfen. Aus unseren Studien wissen wir, dass Phasen des Abenteuers, des „Sich-Aufmachens“ und auch der Belastungen sehr wohl notwendig sind, um an Herausforderungen zu wachsen und ein höheres Maß an Zufriedenheit zu erlangen – Arbeitslast und Zufriedenheit gehen dann miteinander einher. Es wäre fatal, wenn man sich als jemand, der sich belastet fühlt und Unglück verspürt, noch selbst dafür verantwortlich macht und Schuldzuweisungen vornimmt. Viel besser ist es, auf Ressourcen und das innere Wachstum zu setzen. Vieles, das wissen wir seit unserem Projekt „Die bessere Hälfte“ (das gleichnamige Buch von Tobias Esch und Eckart von Hirschhausen lag zeitweise auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller, d. Red.), wird von allein besser, wenn es uns gelingt, nicht „über die Leitplanken“ zu gehen. Es kommt darauf an, ohne allzu großen Schaden durch schwierige Phasen hindurchzukommen. Dabei können Betriebliches Gesundheitsmanagement, professionelle Hilfe und Coaching manchmal sehr hilfreich sein.

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Ist freier Mitarbeiter der Personalwirtschaft.