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DAX-Aufsichtsräte: HR-Expertise verzweifelt gesucht

Ob im Gesundheitssektor, in der Logistik, im Handwerk oder in der IT: Der Fachkräftemangel hat zahlreiche Branchen in Deutschland fester denn je im Griff. Zahlreiche Experten predigen die Wichtigkeit von Mitarbeiterbindung, guter Führung sowie strukturierter Ausbildung und Personalentwicklung. Doch nicht einmal jedes zehnte Aufsichtsratsmitglied der deutschen DAX-Elite hat, wie eine aktuelle Studie der Hochschule Ludwigshafen zeigt, je praktische Berufserfahrung im HR-Bereich gesammelt. Tiefgehende oder längerfristige HR-Erfahrung haben sogar nur vier Prozent der Aufsichtsräte.

Entsprechend deutliche Worte findet die Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager (BPM), Inga Dransfeld-Haase: „In viel zu vielen DAX-Unternehmen findet Personalarbeit auf Kontrollebene ohne Personaler statt. Zahlreiche Aufsichtsräte haben in Sachen HR eine offene Flanke.“ Der BPM hatte die Studie gemeinsam mit der Hochschule Ludwigshafen angestoßen.

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716 Lebensläufe analysiert

Ein Team um Personalmanagement-Professor Stephan Weinert hat die Lebensläufe von insgesamt 716 Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseignerseite sämtlicher DAX-, M-DAX- und S-DAX-Unternehmen auf frühere Tätigkeiten in HR-Funktionen hin untersucht. Zwei Fragen waren bei der quantitativen Inhaltsanalyse entscheidend: Hat die betreffende Aufsichtsrätin, der betreffende Aufsichtsrat, bereits einmal in einer Personalfunktion gearbeitet? Falls ja, in welchen Aufgabengebieten, wie lange und auf welcher Entscheidungsebene?

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Das Ergebnis ist mau: Von allen analysierten Aufsichtsratspositionen sind nur 60 durch Personen mit konkreter Erfahrung im HR-Bereich besetzt. Im Mittel entspricht das einem Anteil von knapp über acht Prozent in Relation zu allen Aufsichtsratspositionen der Anteilseigner. Die 60 Positionen wurden zum Erhebungszeitpunkt – aufgrund einzelner Doppel- und Mehrfachmandate – von 52 Personen besetzt. „Der Mensch ist die Schlüsselressource der Arbeit von morgen – doch nur knapp über 50 Personen bilden die HR-Kompetenz in deutschen DAX-Aufsichtsräten auf Anteilseignerseite“, macht Verbandschefin Dransfeld-Haase deutlich. Der Lichtblick im Rahmen dieses aus HR-Sicht dürftigen Schnitts: Von den 52 Personen verfügen laut Studie immerhin 30 über ein hohes Maß an HR-Kompetenz, ausgewiesen durch vielseitige und verantwortungsvolle HR-Tätigkeit.

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Multi-Aufsichtsrätin Suckale hebt den Schnitt

Auch hier lohnt allerdings der genaue Blick: Mit der ehemaligen Bahn- und BASF-Vorständin Margret Suckale ist eine Grande Dame der deutschen HR-Szene – von der Financial Times einst als „einflussreichste Business-Frau Deutschlands“ geadelt – in gleich vier Aufsichtsräten engagiert: Heidelberg Cement, die Deutsche Telekom, die DWS Group und Infineon setzen auf das Wissen und die Kontakte der ehemaligen Top-Managerin. Ihre herausragende HR-Erfahrung – legendäre, teils öffentlich ausgetragene Schlagabtausche mit Lokführer-Chef Weselsky Ende der Nullerjahre inbegriffen – wertet das HR-Kompetenzprofil der Aufsichtsebene in Summe auf.

Zwischen Binsenweisheit und Weckruf

„Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass das Personal zum entscheidenden strategischen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen geworden ist“, sagt Studienleiter Stephan Weinert. „Und wenn bei den Aufsichtsräten der Anteilseignerseite in nicht einmal jedem dritten untersuchten Unternehmen HR-Kompetenz zu finden ist, ist das ernüchternd“. Auch die Heterogenität der HR-Berufserfahrung sei erheblich: „Langjährige Gesamtverantwortung für Personal einerseits, zeitlich und eng begrenzte Expertise andererseits. Das sollte uns zu denken geben, wenn wir über die Qualität von HR-Kompetenz im Aufsichtsrat sprechen.“  

Zwei weitere Punkte fallen in der Erhebung auf. Erstens: zwei von drei Unternehmen haben gar keine Person mit per Lebenslauf ausgewiesener HR-Erfahrung im Aufsichtsrat. „In nur rund jedem dritten DAX-, MDAX- oder SDAX-Unternehmen ist HR-Kompetenz im Aufsichtsrat überhaupt zu finden“, erläutert BPM-Präsidiumsmitglied Cawa Younosi, der zusätzlich zu seiner Rolle als Deutschland-Personalchef aktuell das Thema „People Experience“ für SAP weltweit bündelt. Und: Wenn doch eine Person mit HR-Vita Teil des Aufsichtsrats ist, steht sie mit dieser Erfahrung häufig allein. „Wenn ein Unternehmen HR-Kompetenz im Aufsichtsrat vorweisen kann, dann wird diese weit überwiegend von lediglich einer Person vertreten. Dieser Befund muss ein Weckruf an die deutsche Wirtschaft sein“, mahnt der langjährige IG-Metall-Vorstand Rainer Gröbel, heute BPM-Gesamtvorstandsmitglied und Kanzler der University of Labour.

Zahlen statt Lamentos

Eindeutiger Befund, deutliches Verbandsvotum. Unstrittig ist, dass der menschliche Faktor in immer mehr Jobs und Branchen knapp ist und zunehmend geschäftskritisch wird; dass sich Führung, Zusammenarbeit und Unternehmenskulturen massiv wandeln – und dass es Funktionen braucht, die sich um all dies kümmern: gutes Personal gewinnen, entwickeln, begeistern, fördern, Zusammenarbeit kultivieren und Spirit entfachen.

Doch zur Wahrheit gehört auch, dass diese Tätigkeiten vielfach von den Fachabteilungen in Zusammenarbeit mit HR übernommen werden, dass jede Führungskraft auch Recruiter und Personalentwickler ist, und dass es also recht harsch interpretiert ist, ausschließlich die Tätigkeit in einer Personalabteilung als Ausweis von „HR-Kompetenz“ zu deuten. „Das stimmt“, findet auch Studienleiter Weinert, „um echte Fachkompetenz zu beurteilen, müsste man eine Person in konkreten Situationen beobachten und beurteilen.“ Das sei nicht die Ambition der Studie. Sie könne jedoch ermitteln, inwieweit Berufserfahrung im Personalmanagement als ein wesentlicher Indikator für HR-Fachkompetenz bei Aufsichtsratsmitgliedern auf Anteilseignerseite vorliege.

Was sie in jedem Fall leistet: Sie liefert handfeste Zahlen statt diffuser Lamentos. Und damit das, was sich Geschäftsführer und Aufsichtsräte gemeinhin häufiger von HR wünschen.

Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.

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