Daten sind bekanntlich das nächste große Ding. Wenn wir über Innovationen in HR reden, dann also ganz häufig aus der Perspektive: Was ist technisch machbar? Welche Möglichkeiten bieten uns Big Data, Cloud und Software, um HR-Arbeit weiter zu verbessern? Aber nehmen wir einmal an – und auch für diese These gibt es in HR eine gewisse Berechtigung -, Menschen wären das nächste große Ding. Dann würden wir uns vielleicht nicht fragen, was mit all den Daten da draußen möglich ist, sondern: „Was bringt das unseren Mitarbeitern?“, „Wollen das unsere Bewerber wirklich?“ oder „Was hat unser Kunde davon?“ Innovationen nicht aus technischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu treiben, sondern Stück für Stück aus dem Bedürfnis des Nutzers zu entwickeln: Das ist der Kern von Design Thinking.
Struktur und Dynamik
Design Thinking ist die auf Organisationen übertragene Kultivierung der Denk- und Arbeitsweise eines fähigen Designers: Er setzt sich eingehend mit seiner Zielgruppe auseinander, um die Bedürfnisse des Anwenders zu verstehen; er entwirft, testet und verwirft; durch ständiges Ausprobieren, auf Umwegen und Annäherungen, gelangt er nach und nach zur Lösung. In den 1990er-Jahren wurde diese Arbeitsweise im Silicon Valley methodisch systematisiert und in einem mehrstufigen Prozess abgebildet (siehe › Beitrag: „Was ist Design Thinking?“). Durch die Decke geht das Konzept, seitdem SAP-Gründer Hasso Plattner in Stanford (seit 2005) und Potsdam (seit 2007) Forschungs- und Praxisinstitute, die sogenannten d.schools, zur Weiterentwicklung und Verbreitung von Design Thinking auf der Basis seines Privatvermögens auskömmlich finanziert.
Macht man an der Potsdamer d.school einen Design-Thinking-Workshop mit, weiß man, warum sich Plattner so für die Methode begeistert: Man ist verleitet zu hoffen, dass hier eine Art miteinander zu denken und zu arbeiten am Werk ist, die irgendwann einmal Mainstream sein möge. Möglichst vorurteilsfrei in divers zusammengestellten Teams auf strukturierte und doch dynamische Art gemeinsam Neues zu entwickeln, ist eine große Freude. Ich bin drei Tage dort, inmitten von 40 Fach- und Führungskräften quer durch alle Unternehmensgrößen und Branchen. Es sind drei fordernde Tage. Viel Arbeit, viel Spaß, hohes Tempo, hohe Produktivität, aufgekratzte Stimmung und die Erkenntnis: Eigentlich müsste Design Thinking zur HR-Basisqualifikation ausgerufen werden. Denn es befähigt Personalbereiche zu schnellen und innovativen Lösungen mit radikaler Nutzerorientierung – also genau zu den Eigenschaften, die das Business spätestens seit Dave Ulrich von HR verlangt.
Immer wieder Wow-Effekte
„Aus HR-Sicht bietet Design Thinking eine neue Möglichkeit, den Kulturwandel im Unternehmen zu befördern und eigeneProjekte im Unternehmen voranzutreiben: eine andere Arbeitsweise, einen neuen Blick auf die Dinge, eine Verbesserung der Fehler- und Feedbackkultur“, sagt Inge Könneker, Bereichsleiterin Academy & Operations HR innerhalb der Otto Group, deren Umbau vom ehemaligen Katalogversender zum E-Commerce-Unternehmen in vollem Gange ist. „Wir wollen aus den bereichsbezogenen Denk- und Handlungsmustern herausspringen, mehr in interdisziplinären Teams denken und arbeiten, immer dicht am Kundenbedürfnis“.
Design Thinking sei für all das kein Allheilmittel – aber ein wichtiger Baustein. Beispielsweise habe man neue Karrieremodelle im Unternehmen auf der Basis von Design Thinking entwickelt. „Wir haben uns im Prozess sehr früh mit den potenziellen Nutzern zusammengesetzt, schnell Prototypen entwickelt und wieder verworfen – am Ende hatten wir tolle Formate, und die Karrierewege im Unternehmen sind flexibler und vernetzter geworden.“Für die Zukunft könnten Themen aus dem Talent Management oder dem Employer Branding mit der Methode neu angedacht und weiterentwickelt werden.
Um das Thema Design Thinking innerhalb der Group-Holding breit zu verankern, hat es HR gemeinsam mit dem Innovationsmanagement und dem Strategiebereich auf verschiedenen Ebenen im Unternehmen vorangetrieben – mit Erfolg: „Zahlreiche Führungskräfte und Geschäftsführer innerhalb der Gruppe sind auf uns zugekommen, haben sich informiert und in der Folge selbst Design-Thinking- Prozesse in ihren Organisationsbereichen gestartet.“
Eine Gefahr sei, so Könneker, dem System zu schnell zu viel zuzumuten: „Kreative Ideen sind wichtig – aber es ist auch wichtig, dass sie in der Organisation anschlussfähig sind. Das gelingt nicht immer problemlos. Dann kommt es auf Fähigkeiten im Change Management an.“ Entscheidend sei, alle Experten mit ins Boot zu holen und gut zu kommunizieren. Jede neue Methode brauche Enthusiasten und breite Trägerschaft in der Organisation. Management und HR seien in der Pflicht zu mobilisieren: „Je mehr begeisterte Mitarbeiter, desto mehr Multiplikatoren für die Methode innerhalb der Organisation.“
Für Könneker ist der Mehrwert für HR eindeutig: „Wir können bei Personalleitern und Geschäftsführern direkt Bedürfnisse abfragen, schnell Lösungen generieren und in der Auseinandersetzung weiterentwickeln.“ Auch die Mitarbeiter, die mit der Methode arbeiten, sind von der Offenheit und Zielorientierung des Formats angetan. „Es gibt immer wieder Wow-Effekte, wie kurzfristig man zu konkreten Ergebnissen gelangt, die sich für den Kunden passend anfühlen.“
Jenseits des Erwarteten
Ähnliche Erfahrungen macht Dr. Frank Zils, HR-Direktor bei Janssen-Cilag, der Pharmasparte des US-Mischkonzerns Johnson & Johnson. Seit etwa zweieinhalb Jahren arbeitet HR anlassbezogen mit Design Thinking, hat etwa die Weiterbildungsbedarfe der Mitarbeiter detailliert analysiert und neu justiert. „Die Rückmeldung der Teilnehmer ist äußerst positiv“, berichtet Zils, „gerade die Möglichkeit, Ideen zu Anfang unumwunden und ohne Bewertung einbringen und sammeln zu können, wird sehr geschätzt“. Von der ersten Themenidentifikation über die Entwicklung von Piloten, Einholen von Feedback, Entwicklung von Maßnahmen wurde der Prozess durchdekliniert. „Selbst bei der Kick-off-Veranstaltung gab es noch Möglichkeiten für die Mitarbeiter, für die unterschiedlichen Vorschläge zu votieren. Was dort beschlossen wurde, haben wir schließlich in die Tat umgesetzt.“ Das hat so gut funktioniert, dass die nächste Befragung auf ähnliche Weise ausgewertet wurde.
Auch bei Janssen genießt Design Thinking Rückendeckung und aktive Unterstützung der Unternehmensspitze. „Glücklicherweise ist unser Board sehr offen für unkonventionelle Wege. So waren wir in der Lage, das Thema Design Thinking breit in der Organisation zu kommunizieren, mit Unterstützung des Boards und einzelnen ‚Sponsoren‘ innerhalb der Linien.“
Die HR-Kollegen, so Zils, schätzten die Arbeit mit Design Thinking, weil sie eine deutlich intensivere persönliche Vernetzung im Unternehmen ermögliche und damit einen erweiterten Blick auf die Organisation über den jeweiligen Funktionsbereich hinaus. „Das bietet uns in HR eine neue Gelegenheit, das kreative Potenzial von Mitarbeitern im ganzen Unternehmen für die eigene Arbeit zu nutzen.“
Gleichwohl eigne sich Design Thinking nicht für jede Aufgabenstellung. „Wenn es darum geht, schnelle Entscheidungen in einem limitierten Rahmen zu treffen, ist Design Thinking sicher nicht der richtige Ansatz. Das Gleiche gilt für Aufträge, wo am Anfang schon relativ klar ist, was am Ende herauskommen soll.“ Bei solchen Themen sei Design Thinking im Zweifel ein Umweg: vertane Zeit und vergebene Liebesmüh. Hilfreich sei, im Vorfeld die Frage zu klären: Wie empfänglich sind wir für Ergebnisse jenseits des Erwarteten? „Je klarer das Ziel, der Ablauf, die Teilnehmergruppe, je limitierter die Bedingungen, desto weniger ist Design Thinking die richtige Methode.“
Daraus lässt sich eine einfache Formel für die Praxis ableiten: Wer Köpfe öffnen und Neues entwickeln will, setze auf Design Thinking; um Projekte auf Strecke zu bringen oder in der Umsetzung zu beschleunigen, ist Scrum der richtige Weg. Beide Methoden lassen sich zielführend kombinieren.
Partner mit Hirschgeweih
Was hat man nicht schon alles angestellt, um in der Teppichetage Gehör zu finden? Präsentationen gebaut, Konzepte geschrieben, Meetings ertragen, Krisen ausgesessen, Rücken gedeckt. Im Design Thinking kann es passieren, dass man nassgeschwitzt dasitzt, das Hirschgeweih auf dem Kopf, die Lego-Männchen in Händen – und der CEO hört endlich zu. Vermutlich hat es sich Dave Ulrich anders ausgemalt, aber: Konsequent in die HR-Arbeit integriert, könnte Design Thinking ein entscheidender Hebel sein, um endlich zu einer strategischen Partnerschaft zwischen HR und Business zu gelangen.
Autor
Cliff Lehnen
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