Der Fachkräftemangel ist schon heute eine riesige Herausforderung für die meisten Unternehmen. Durch den seit Jahren anhaltenden Rückgang der Ausbildungszahlen wird sich dieses Problem mittel- und langfristig noch verstärken. Im Jahr 2021 wurden laut Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit 473.100 Ausbildungsverträge abgeschlossen, ein minimaler Anstieg um gegenüber dem ersten Coronajahr. Zum Vergleich: 2019 lag die Zahl der Neuverträge noch bei rund 513.300.
Um diesem Negativtrend zu begegnen, muss die Berufsausbildung wieder attraktiver gemacht werden – sie muss sich auch verändern, um den Anforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft zu genügen. Unter der Leitung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) haben kürzlich Forscherinnen und Forscher ein wissenschaftliches Diskussionspapier mit „9+1 Thesen für eine bessere Berufsbildung“ veröffentlicht. Mit den neun Thesen werden thematisch alle wichtigen Phasen der beruflichen Bildung abgedeckt, von der beruflichen Orientierung über die duale Berufsausbildung bis Weiterbildung. Es geht zudem um die Übergänge zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung, die Qualifizierung des Berufsbildungspersonals sowie Entrepreneurship und Intrapreneurship.
Leiter der Arbeitsgruppe waren die Professoren Karl Wilbers von der FAU und Friedrich Hubert Esser, Präsident des BIBB.
Personalwirtschaft: Herr Esser und Herr Wilbers – angesichts der Vielzahl von Vorschlägen und Anregungen, die Sie mit Ihren Kollegen erarbeitet haben – wie gut funktioniert in Deutschland das System der Berufsbildung denn gegenwärtig? Wo würden Sie es momentan auf einer Skala von 1 bis 10 (10 als Bestnote) verorten?
Friedrich Hubert Esser: Eine 7. Wir dürfen nicht übersehen, welche vielfältigen Funktionen Berufsbildung jetzt schon erfüllt. Gleichzeitig ist viel Luft nach oben.
Karl Wilbers: Es ist schon ziemlich gewagt, der gesamten Berufsbildung eine Note zu geben. Das Faszinierende ist ja die Vielfältigkeit der Berufsbildung.
Was sind aus Ihrer Expertensicht die dringlichsten Baustellen?
Wilbers: Aus Sicht der Ziele ist es am dringlichsten, die Attraktivität der Berufsbildung zu steigern.
Esser: Und diese Ziele müssen so ausgestaltet werden, dass die Berufsbildung hilft, unsere Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen. Egal ob Digitalisierung, Klimawandel oder Energiewende: Das wird ohne Fachkräfte nicht laufen. Wichtig ist es auch, Abschlüsse und Qualifikationen mit Hilfe des Deutschen Qualifikationsrahmens endlich ernst zu nehmen – etwa durch ein Gesetz.
Wilbers: Aus Sicht der Maßnahmen gilt es Modularisierung und Berufsprinzip nicht mehr als Gegensatz, sondern zusammen denken. Lernfortschritte müssen besser sichtbar gemacht werden. Außerdem sollten Entre- und Intrapreneurship konsequent in der Berufsbildung verankert werden.
2021 wurden bundesweit nur 467.100 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen, wesentlich weniger als vor der Pandemie. Zudem konnten nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft 63.000 Ausbildungsplätze – das sind 12 Prozent – nicht besetzt werden, wahrscheinlich liegt die Zahl aber deutlich darüber. Ist dieses Missverhältnis ein Ausweis für den Reformbedarf der beruflichen Ausbildung – oder vor allem eine Corona-Spätfolge?
Esser: Wie in vielen anderen Bereichen auch, wirkt die Corona-Pandemie als Katalysator.
Wilbers: Das lässt sich nicht seriös trennen. Wozu auch trennen? Die Vorstellung, dass nach der Corona-Pandemie wieder alles in Ordnung ist, ist überoptimistisch.
Woran liegt es, dass Jugendliche und Ausbildungsbetriebe nicht mehr zueinander finden? Wie könnte das verbessert werden?
Esser: In der Forschung im Bundesinstitut ist dies das so genannte Passungsproblem oder der Mismatch. Dieses Problem hat vertrackt viele Facetten. Sektorale, regionale, Berufsgruppen, um nur einige zu nennen. Einige Facetten lassen sich klar auf eine mangelhafte Berufsorientierung zurückführen. Dazu machen wir im Gutachten, das wir natürlich wärmstens zur Lektüre empfehlen, eine Reihe von Vorschlägen.
Wilbers: Es ist aber auch klar, dass es damit nicht getan ist. Insgesamt brauchen wir – Sie entschuldigen die abstrakte Antwort – mehr Flexibilität im System. Auch dazu machen wir Vorschläge.
Ist ein Umdenken bei den Ausbildungsbetrieben erforderlich, weil vielfach nicht mehr sie ihre künftigen Azubis auswählen, sondern andersherum die jungen Leute ihren Ausbildungsbetrieb?
Esser: Alle müssen hier anpacken – natürlich auch Ausbildungsbetriebe als zentrale Player.
Wilbers: Ausbildungsbetriebe können eine Menge machen, um attraktiv zu sein – das fängt mit Schulpraktika und der Werbung für Ausbildung an. Sie sollten Vorzüge herausstellen, aber nicht das Blaue vom Himmel versprechen, außerdem gute Ausbildungsbedingungen bieten, die Jugendliche auch im Betrieb begeistern. Die Betriebe sollten Probleme der Jugendlichen adressieren und Lösungswege erarbeiten. Und vor und während der Ausbildung Wege der persönlichen Entwicklung aufzeigen, wie es im Betrieb und in der Berufsbildung weitergehen kann – auf überschaubaren Etappen.
Um welche „atypischen“ Zielgruppen sollten sich Ausbildungsbetriebe bei ihrer Suche nach Azubis verstärkt bemühen?
Esser: Von „atypischen“ Zielgruppen will ich eigentlich gar nicht sprechen. Die Berufsbildung hat immer schon Menschen mit den unterschiedlichen Voraussetzungen Wege gebahnt, sie hat immer schon mit verschiedensten Möglichketen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Wilbers: Ausbildungsbetriebe werden verstärkt auch Jugendliche mit schlechteren Startchancen, geringqualifizierte Personen ohne Berufsausbildung, Umschülerinnen und Umschüler adressieren und unterstützen müssen. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, bei dem die Betriebe nicht allein gelassen werden dürfen. Es geht hier ja hier nicht nur um Deckung von Fachkräftedefiziten, sondern auch um gesellschaftliche Integration – und das ist eine Aufgabe nicht nur für Betriebe.
Menschen mit Fluchterfahrung oder benachteiligte Jugendliche haben oftmals keinen Schulabschluss – wie können solche Gruppen in das Berufsbildungssystem finden und dort gehalten werden?
Esser: Die Adjektive „Menschen mit Fluchterfahrung“ oder auch „benachteiligte Jugendliche“ unterschlagen die Vielfalt der Lebenslagen und Qualifikationsprofile. Wir reden über Individuen mit sehr unterschiedlichen Situationen. Entsprechend individualisiert müssen Unterstützungsmaßnahmen sein.
Wilbers: Für diese Zielgruppe gibt inzwischen viele Erfahrungen und gute Angebote – auch zur Unterstützung der Ausbildungsbetriebe.
Betrachtet man Ausbildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sollten laut Ihren Thesen auch die Kosten und Anstrengungen dafür gerecht verteilt werden. Wo benötigen ausbildende Unternehmen Entlastung und Unterstützung?
Esser: Nach Ansicht der Arbeitsgruppe müssen die Lasten in der Berufsbildung fair verteilt werden. Dabei ist die Multifunktionalität der Berufsbildung in Rechnung zu stellen. Wir machen dazu eine Reihe von Vorschlägen: Ausbildungsbetriebe sollten bei den Prüfungsgebühren (die ja auch in Hochschulen vom Staat übernommen werden) oder den Kosten für die überbetriebliche Bildung entlastet werden.
Wilbers: Es geht aber auch um die Situation von Auszubildenden. Um nur ein paar Stichworte zu nennen: Semesterticket ja, Azubiticket nein? Günstiger Wohnraum nur für Studierende? Ungleichbehandlung bei Steuern und Abgaben?
Auch bei der Gestaltung der Ausbildung selbst gibt es Reformbedarf – nicht zuletzt die Coronajahre haben beispielsweise erhebliche Defizite in Sachen Digitalisierung offengelegt. Wo sehen Sie unmittelbaren Handlungsbedarf?
Esser: Auch hier hat die Corona-Pandemie als Katalysator gewirkt, in diesem Fall als Beschleunigung der Digitalisierungsprozesse. Da ist schon vieles passiert.
Wilbers: Gleichwohl sehen wir in der Arbeitsgruppe 9+1 Handlungsbedarfe bei der Qualifizierung des Bildungspersonals, bei der Nutzung digitaler Medien auch für die berufliche Orientierung oder bei der Etablierung von Plattformen gerade für die Weiterbildung.
Welche Reformen und Veränderungen sollten auch die außerbetrieblichen Ausbildungsakteure – beispielsweise IHKs und Berufsschulen – zu einer zukunftstauglichen Berufsbildung leisten?
Esser: Wie schon gesagt: Alle müssen hier anpacken. Nach Ansicht der Arbeitsgruppe haben die beruflichen Schulen, die Sozialpartner, die Kammern, die Kreishandwerkerschaften, die Innungen und andere eine tragende Rolle in einer modernen Berufsbildung. Das ist für uns eines der Prinzipien, die eine moderne Berufsbildung ausmachen.
Wilbers: Die regionale Bedeutung dieser Akteure sollte nach Ansicht der Arbeitsgruppe weiter ausgebaut werden, etwa durch die Fortentwicklung der Kompetenzen der Berufsbildungsausschüsse. Wir stellen uns außerdem eine verstärkte Service- und Dienstleistungsorientierung dieser Akteure vor, auch bei der Nutzung digitaler Medien.
Einen erheblichen Einfluss auf die Qualität der beruflichen Ausbildung hat die Qualifikation der Ausbilder selbst – müssen erst einmal die Ausbilder fit gemacht werden in Bereichen wie Medienpädagogik oder Digitalisierung?
Esser: Ohne Ausbilderinnen und Ausbildern kommt keine Reform an. Wir widmen daher dieser Gruppe eine eigene These. Wir sind der Ansicht, dass das formale Weiterbildungsangebot durch ein niedrigschwelliges und passgenaueres non-formales Angebot erweitert werden muss, das insbesondere über digitale Medien verfügbar ist.
Wilbers: Hier gibt es bereits eine Reihe interessanter Ansätze. Hinweisen möchte ich vor allem auf das sogenannte MIKA-Angebot (Medien- und IT-Kompetenz für Ausbildungspersonal), aber auch auf das Netzwerk Q 4.0 zur Qualifizierung des Berufsbildungspersonals im digitalen Wandel.
In Deutschland sind die berufliche und die akademische Ausbildung trotz langjähriger Bemühungen um mehr Durchlässigkeit weitgehend getrennte Welten. Ist diese Trennung noch zeitgemäß?
Esser: Für eine moderne Berufsbildung brauchen wir ein zur akademischen Bildung durchlässiges System: Von der Berufsbildung in die akademische Bildung – und von der akademischen Bildung in die berufliche Bildung, also ein reziprokes Modell. Es muss auch integrativ sein, dementsprechend Angebote enthalten, die von akademischen und Trägern der beruflichen Bildung gemeinsam gestaltet werden.
Wilbers: Da ist in der Vergangenheit schon viel passiert, etwa bezüglich des Hochschulzugangs beruflich Qualifizierter. Aber trotzdem ist noch unglaublich viel Luft nach oben. Beide Teilbereiche schotten sich immer noch stark ab. Das kann nicht sein, wenn wir die Begabungsreserven unseres Landes nutzen und Bildung fair ausgestalten wollen.
Wie zukunftstauglich sind insbesondere Duale Studiengänge in diesem Kontext?
Wilbers: Duale Studiengänge sind ein Beispiel für integrative Angebote, die wichtige Schrittmacherfunktionen für die Durchlässigkeit übernehmen. Allerdings müssen wir gut aufpassen, dass die Marke nicht verkommt. Inzwischen werden aus Marketinggründen Angebote aufgebaut, die das Label eigentlich nicht verdienen. Dieser Bereich ist rechtlich kaum normiert.
Esser: Duale Studiengänge sind nicht das einzige Modell einer Integration. Eine ganze Reihe von Modellen werden zurzeit in InnoVET, dem Innovationswettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für eine exzellente berufliche Bildung, entwickelt und erprobt. Dabei spielt auch die recht neue Qualifikationsebene „Berufsspezialist/in“ eine große Rolle. Aus InnoVET dürfen wir entsprechende Impulse erwarten. Aber bei aller Integration ist die Arbeitsgruppe der Meinung, dass beide Systeme ihre Eigenständigkeit bewahren und ihre jeweiligen Stärken ausspielen müssen.
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Themen Recruiting und Employer Branding. Zudem schreibt und recherchiert Sie zum Thema Transformation, Change Management und Leadership und ist verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.