HR muss sich heute mit zunehmend dynamischen Prozessen auseinandersetzen. Wie werden Sie bei Siemens dieser Aufgabe gerecht?
Henning Köhler: Die Entwicklungen innerhalb und außerhalb des Unternehmens werden immer unvorhersehbarer. Daran müssen sich das Portfolio und die Leistungserbringung von HR anpassen. Fundamental ist hierfür, wie wir künftig die richtigen Leute mit passenden Aufgaben und Stellen zusammenbringen.
Das Matching in einem extrem dynamischen Umfeld wird also eine Schlüsselherausforderung für HR. Dies werden wir aber immer weniger direkt in persona orchestrieren können. Deshalb verfolgen wir bei Siemens den Ansatz „Own your Career“: Wir wollen mehr Transparenz für unsere Mitarbeiter schaffen und sie zum Treiber ihrer eigenen Karriere machen. HR gibt dabei Rahmenbedingungen vor und zeigt freie Stellen und Entwicklungsmöglichkeiten auf.
Damit das funktioniert, setzen wir auf digitale Vernetzung: Ähnlich wie in einem sozialen Netzwerk präsentieren sich die Mitarbeiter über Profile auf einem Siemens-internen Portal – gekoppelt an ihre LinkedIn-Accounts. Diese Transparenz über offene Aufgaben, Stellen und Mitarbeiterprofile bringt Leute zusammen, die sich dann inhaltlich weiterentwickeln können.
Jürgen Bitz: Zusätzlich bieten wir die Funktion Job Tagging an. Jeder Mitarbeiter kann jederzeit virtuell Interesse an einer anderen Stelle, Aufgabe oder Abteilung innerhalb der Organisation bekunden. Man setzt dort einen digitalen Marker. Das Prinzip des Stellenmarkts geht damit nun in beide Richtungen, da neben den Stellenausschreibungen auch das Interesse der Mitarbeiter an bestimmten Aufgabenbereichen hinterlegt ist. Das erleichtert die interne Stellenbesetzung und die Nachfolgeplanung.
Das Vorgehen von HR orientiert sich also am digitalen Nutzungsverhalten der Mitarbeiter?
Henning Köhler: Exakt, wir möchten mit unseren IT-Anwendungen das digitale Angebot, das die Mitarbeiter draußen nutzen, auch im Unternehmen anbieten. Das heißt: Die relevanten HR-Anwendungen finden sich in einem HR-Smartphone, das mobil und nutzerfreundlich ist.
Als Betriebssystem nutzen wir eine führende, global anerkannte HR-Standardcloudlösung. Mit dieser Plattform werden funktionsspezifische Apps verbunden, zum Beispiel für Recruiting, Mitarbeiterentwicklung, Performancemanagement, Lernen und Mitarbeiterbefragungen. Zudem haben wir eine Art HR Siri/Alexa implementiert (CARL genannt), um die Interaktion zwischen Mitarbeiter und HR modern zu gestalten. Dies ist eine Form von Platform as a Service, mit der wir technologische Innovationen ins Unternehmen holen, ohne diese selbst entwickeln zu müssen.
Jürgen Bitz: Heute passen wir die Software und Prozesse nicht mehr an Siemens an, sondern wir gleichen unser Unternehmen an die Standards an. Das erhöht die Implementierungsgeschwindigkeit und ermöglicht uns ein flexibles Reporting und bessere Vernetzung im HR-Bereich. Gleichzeitig werden wichtige HR-Prozesse effizienter. Henning Köhler: Dabei hilft uns auch unser Chatbot CARL. Er entlastet uns im HR-Bereich, damit sich die HR-Kollegen auf Kernaufgaben konzentrieren können: die zwischenmenschliche Interaktion bei komplexen und emotionalen Themen.
In den ersten acht Monaten unseres Geschäftsjahres haben bereits acht Millionen Interaktionen zwischen CARL und unseren Mitarbeitern stattgefunden. Diese bieten nicht nur einen Mehrwert für die Mitarbeiter, sondern zeigen auch – anhand der von CARL bearbeiteten Fragestellungen –, was die Mitarbeiter interessiert. Somit können wir interessengesteuert weitere Themen abdecken, und CARL lernt kontinuierlich mit.
Transparenz ist also ein hohes Gebot innerhalb Siemens‘ HR. Können Sie ein Beispiel nennen, wie sich das auf den Einsatz von HR-Analytics auswirkt?
Henning Köhler: Wir führen alle drei Monate eine Mitarbeiterbefragung durch. Früher erhielten allein die Führungskräfte den vollen Umfang der Ergebnisse, die dann oftmals gefiltert an die Mitarbeiter kommuniziert wurden. Heute sind die Befragungsergebnisse über ein Dashboard für jeden Mitarbeiter abrufbar. Jeder kann das Ergebnis seines Teams, seiner Geschäftseinheit und das der gesamten Organisation einsehen und miteinander vergleichen. Das ist ein wichtiger Wandel. Wir wollen einen offenen Dialog zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, eine Speak-up-Kultur, auf allen Ebenen fördern. Und mit unserer Lösung können Mitarbeiter diesen Dialog aktiv einfordern. Überspitzt gesagt: Ein Dialog zwischen Führungskräften und Mitarbeitern wird fast unausweichlich.
Jürgen Bitz: Das Dashboard, über das die Befragungsergebnisse dargestellt werden, enthält vordefinierte, standardisierte Analysen, die vom People-Analytics-Team ausgearbeitet wurden. Die Schlussfolgerungen muss aber jedes Team für sich selbst ziehen. Dem Topmanagement werden detailliertere statistische Erkenntnisse zur Verfügung gestellt, und Manager ab der mittleren Führungsebene erhalten zusätzliche Reports – in Abhängigkeit zur jeweiligen Abteilungsgröße. Idealerweise sind wir imstande, Muster und Unterschiede zwischen bestimmten Mitarbeitergruppen aufzuzeigen und dadurch Handlungsbedarf zu identifizieren.
Worauf müssen Sie achten, wenn Sie die Analyseergebnisse allen Mitarbeitern zur Verfügung stellen?
Jürgen Bitz: Unser Anspruch ist, die mit HR-Analytics gewonnenen Erkenntnisse zurück ins Geschäft, zu den Teams und den HR-Businesspartnern zu spielen und damit eine konzernweite Meinungsbildung voranzutreiben. Es nützt niemandem, Daten zu sammeln und diese im stillen Kämmerlein auszuwerten.
Wir müssen aber auch sicherstellen, dass unsere Kollegen auf Basis der Daten keine falschen Schlussfolgerungen ziehen. Da haben wir eine große Verantwortung. Dass die Daten verfügbar sind, bedeutet nicht, dass sie beliebig genutzt werden dürfen. Meine Aufgabe ist daher, die Datennutzung zu kanalisieren und mit meinem Team Leitplanken zu entwickeln, innerhalb derer die Datenarbeit stattfinden kann. Neben dem Datenschutz ist es wichtig, dass die Analysen unter ethischen Gesichtspunkten ablaufen. Eine klare Grenze ziehen wir deshalb bei Analysen auf Individualebene.
Was muss HR tun, um mit HR-Analytics in Zukunft besser arbeiten zu können?
Jürgen Bitz: Eine der wichtigsten Kernkompetenzen von HR wird es künftig sein, die richtigen Fragen zu stellen. Gute Analytik beginnt mit der richtigen Fragestellung. Ohne diese analysiert man blind und findet keine wertvollen Lösungen.
Henning Köhler: Deswegen brauchen wir für unser Team auch die eierlegende Wollmilchsau, also Menschen, die das Management beraten, die richtigen Fragen stellen und mittels Datenanalyse entsprechende Antworten liefern können. Die mit HR-Analytics gewonnenen Erkenntnisse müssen aber auch in die Breite der Organisation getragen werden. Das verlangt kommunikative Kompetenz. Menschen, die diese Fähigkeiten vereinen, wird man aber nur selten finden. Daher bewältigen dies gemischte, diverse Teams am besten.
Welche Anforderungen stellt Siemens an HR-Analytics-Lösungen?
Jürgen Bitz: Die Anforderungen orientieren sich am Nutzer. Ein massentaugliches Analysetool sollte einfach zu bedienen sein, so dass auch Laien ohne Vorwissen sinnvolle Erkenntnisse erhalten. Sie müssen dafür nicht zwingend das zugrundeliegende statistische, methodische Vorgehen verstehen, da die Qualität der Analysen durch Experten überprüft wird. Beim Reporting funktioniert das heute schon ganz gut. Aktuell ist es jedoch noch schwierig, diese Anforderungen für detailliertere Analysen zu erfüllen. Solange keine Standards für typische Analytics-Fragestellungen, Vorgehensweisen sowie Fehlannahmen und deren Ausschluss definiert sind, ist es eine große Herausforderung, massentaugliche Tools zu produzieren. Daran arbeiten zurzeit viele Start-ups.
Für Expertentools gelten diese Kriterien aber nicht. Von diesen Nutzern erwarte ich, dass sie über die nötigen Kenntnisse der Datenanalyse verfügen. Unser Analytics-Team hat dabei eine filternde Rolle: Es probiert neue Anwendungen aus, verbindet sie mit Business Cases und bewertet die inhaltliche Qualität des Ergebnisses.
Sie sind also ein konzerninterner Experimentator?
Jürgen Bitz: In gewisser Weise ja. 2017 besuchten wir die großen US-amerikanischen Techkonzerne im Silicon Valley. Damals experimentierten sie auch mit HR-Analytics, und bis dato haben wir noch keinen neueren Stand dazu erfahren. Es geht also vielen Unternehmen so wie uns. Gerade jüngere US-Firmen haben eine Kultur, die deutlicher auf das Experimentieren mit Daten und daraus abgeleitete Analysen ausgelegt ist als in Europa. Wir sind auf die Offenheit und Einwilligung der Mitarbeiter angewiesen, um die Nutzung der Technologie in unserem Unternehmen vorantreiben zu können.
Dafür müssen wir sehr genau und DSGVO-konform erklären, was wir mit Mitarbeiterdaten machen, dies offen kommunizieren und die Mitarbeiter für das Datenthema sensibilisieren.
Der Kulturwandel ist ein zentrales Thema bei der Digitalisierung. Wie macht sich das in Ihrer Abteilung noch bemerkbar?
Henning Köhler: In der Vergangenheit wurde HR vor allem als Expertenfunktion verstanden, die sich mit der Administration befasste und versuchte, Prozesse effizienter zu gestalten. Davon müssen wir wegkommen. Heute steht die Employee Journey im Mittelpunkt unserer Arbeit. Mit diesem Selbstverständnis muss man HR-Themen aus einer neuen Perspektive betrachten und komplett anders gestalten. Es geht weniger um schlankere, effizientere Prozesse. Vielmehr wollen wir Komplexitäten reduzieren, damit die Mitarbeiter im Berufsalltag besser zurechtkommen. Das Wichtige dabei ist, dass wir somit trotzdem zu effizienteren Prozessen kommen. Durch den Einsatz digitaler Technologien kann HR über die reine Kosteneinsparung hinaus einen echten Mehrwert für das Geschäft generieren.