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In Marktchancen denken statt in Marktanteilen

Herr Professor Eckert, welche Konsequenzen ergeben sich aus der digitalen Transformation für Geschäftsmodelle und Innovation?

Roland Eckert: Unternehmen stellen bei der Digitalisierung noch immer vor allem Prozesse und Produkte in den Fokus. Durch die Digitalisierung werden Prozesse unternehmensübergreifend automatisiert. Gleichzeitig werden Produkte intelligent miteinander vernetzt. Diese Veränderungen wirken sich meist auch auf die Geschäftsmodelle aus. So bauen auch Industrieunternehmen neben den klassischen Geschäftsmodellen As-a-Service-Geschäftsmodelle auf. Somit verdienen auch traditionelle Branchen ihr Geld zunehmend in neuen Geschäftsfeldern. Dabei sind die Großunternehmen häufig die Vorreiter. Wie erfolgreich dies geschieht, ist aber schwierig zu beurteilen. Ausgewählte Beispiele zeigen jedoch, dass diese Veränderungen nicht immer reibungslos verlaufen. Inzwischen setzt sich aber auch der Mittelstand zunehmend mit der Digitalisierung auseinander. Aufgrund der geringeren Budgets sind die Möglichkeiten für ein Experimentieren allerdings geringer. Auch sehen kleine und mittlere Unternehmen oft keinen Mehrwert darin, den Kunden durch Daten noch besser kennenzulernen. Der Mittelstand agierte schon vor der Digitalisierung sehr kundenorientiert. Deshalb reagiert der Mittelstand häufig erst auf externen Veränderungsdruck, wenn etwa ein Abnehmer der Produkte eine datentechnische Integration verlangt.

Was bedeuten diese Veränderungen für das Innovationsmanagement?

Roland Eckert: Ich spreche im Zusammenhang mit der Digitalisierung immer auch von multidimensionalen Innovationen. Früher ging es um eindimensionale Innovationen. Beispielsweise folgten auf Produktinnovationen in einem nächsten Schritt Prozessinnovationen und dann gegebenenfalls Anpassungen des Geschäftsmodells. Heute müssen Unternehmen integriert zur Produktinnovation auch an die digitale Erneuerung der Prozesse und an die digitale Weiterentwicklung des Geschäftsmodells denken – gleichzeitig, nicht mehr eines nach dem anderen. Dies bewirkt massive Veränderungen in der Zusammenarbeit, dem Informationsfluss, aber auch in der Frage, wer was entscheidet.

Und damit können sich Unternehmen auch künftig am Markt halten?

Roland Eckert: Es muss noch etwas Entscheidendes hinzukommen. Bislang stellten Unternehmen ganz klassisch den Wettbewerb um Marktanteile in den Mittelpunkt. Es ging also meist darum, womit ein Unternehmen gerade sein Geld verdient. Dieses Denken bleibt auch künftig wichtig, wichtiger wird allerdings der Wettbewerb um Chancenanteile. Hier geht es um die Frage, an welchen Zukunftsoptionen – ich nennen das Chancenanteile – ein Unternehmen arbeitet. Es bleibt immer weniger Zeit, um an neuen Ideen zu arbeiten, wenn die Veränderungen im Markt bereits erkennbar sind. Nur mit einem Portfolio an Zukunftsoptionen können Unternehmen heute erfolgreich bleiben. Diese Optionen werden mit aktuellen und zukünftigen Kunden mit der Hoffnung getestet, dass eine getestete Option zum zukünftigen Wachstumstreiber wird. Hierzu müssen schnell iterative Lernprozesse, autonome Teams oder auch Schwarmorganisationen aufgesetzt werden.

Wo bleibt die HR-Funktion dabei?

Roland Eckert: HR hat im digitalen Hyperwettbewerb eine immer wichtigere Aufgabe zu erfüllen. Für den klassischen Wettbewerb um Marktanteile ist HR ausreichend gerüstet. An Bedeutung gewinnen wird aber der Wettbewerb um Chancenanteile. Um hier einen Beitrag leisten zu können, muss es HR gelingen, selbst disruptiv zu denken. Man muss bereits heute proaktiv an Ideen und Vorschlägen für morgen arbeiten. Welche Kompetenzen benötigen wir morgen und übermorgen im Wettbewerb um Chancenanteile? Noch wichtiger ist die Frage, wie die verschiedenen Kompetenzen und multidisziplinären Berufs- und Arbeitskulturen integriert werden können, damit ein Mehrwert entsteht? Das Ganze in enger Abstimmung mit den Teams, die sich heute bereits operativ mit der Zukunft beschäftigen. Und das Ganze erprobt in konkreten Experimenten mit konkreten Lernerfahrungen für alle Beteiligten. Auch auf die Organisationsentwicklung muss sich HR zukünftig viel stärker fokussieren. Ich gebe ein Beispiel: Start-ups beginnen als Netzwerk, bauen aus Effizienzgründen eine Hierarchie auf, um dann wieder zum Netzwerk zu werden. Sie gehen also vom Netzwerk über die Hierarchie wieder zum Netzwerk. Da stellt sich die Frage, wie zukünftig Organisationsentwicklung erfolgen soll. Meines Erachtens werden neue Organisationsmodelle mit spezifisch hierarchischen oder heterarchischen Funktions- und Kompetenzbereichen entstehen, aus denen sich Teams temporär zusammensetzen. Hier trifft man in einem Teil der Organisation auf ein Netzwerk, in einem anderen Teil auf eine Hierarchie. Wer soll sich mit der Interoperabilität beschäftigen, wenn nicht HR? Das lässt sich fortsetzen: Wenn alle nur noch vernetzt denken und arbeiten, dann wird es zunehmend situativ wechselnde Führungsaufgaben im Unternehmen geben. Auch hier bekommt HR neue Aufgaben, um Mitarbeiter und Unternehmen hierfür weiterzuentwickeln. HR wird ebenfalls Veränderungen erfahren. Manche HR-Prozesse werden noch stärker automatisiert werden. HR-Controlling sollte in Teilen auf die Mitarbeiter selbst verlagert werden, damit ein Unternehmen wirklich agil wird.

Wie sollten agile Organisationen vorgehen, um Innovationen zu entwickeln?

Roland Eckert: Agilität bedeutet immer die Fähigkeit, unvorhersehbar zu agieren bzw. auf Unvorhersehbares reagieren zu können. Hierfür benötigt man dann neue Organisationsmodelle wie zum Beispiel die Schwarmorganisationen bei Daimler, um verschiedene Zukunftsoptionen oder auch neue Geschäftsmodelle frühzeitig ausprobieren zu können. Innerhalb dieser Organisation gibt es dann Tribes, Squads und agile Coaches. Für kleine und mittlere Unternehmen ist dieser Sprung aber häufig zu groß. Hier muss man sich zunächst darauf konzentrieren, die aktuelle Entwicklungsarbeit weiter zu digitalisieren, den Kunden noch stärker durch schnelle Iterationen einzubinden sowie kleinere digitale Labore und Innovationslabore aufzubauen. Hier sollten sich die Betriebe sehr genau überlegen, was sie mit den Maßnahmen auch tatsächlich erreichen möchten. Es geht nicht darum, möglichst alles zu tun, sondern darum, die richtigen Maßnahmen zielorientiert umzusetzen.

Wie sollten sich mittelständische Unternehmen für das digitale Zeitalter aufstellen?

Roland Eckert: Der Mittelstand läuft den Entwicklungen des digitalen Hyperwettbewerbs häufig aus Ressourcengründen hinterher. Deshalb sollte er zunächst auf die Digitalisierung der strategischen Prozesse und der Produkte fokussieren und nicht über eine Schwarmorganisation nachdenken. Aber auch der Mittelstand muss langfristig versuchen, mehr Eisen ins Feuer zu legen, also ähnlich wie Konzerne vorgehen. Das Denken der Entscheider und Mitarbeiter darf sich nicht mehr allein um Marktanteile drehen, es muss mit Zukunftsoptionen und Chancenanteilen experimentiert werden. Diese Zukunftsoptionen werden dann aber näher am aktuellen Kunden sein als bei Großunternehmen wie Daimler oder BMW.

Das Interview führte Dr. Guido Birkner.