Herr Professor Schmiech, verschläft der Mittelstand die Digitalisierung?
Professor Chris Schmiech: Deutschland hat im internationalen Vergleich Nachholbedarf, die Zeit drängt. Verantwortlich für die Verzögerung ist das Management. Die Digitalisierung betrifft alle Unternehmensbereiche gleichermaßen. Es geht mir hier nicht um einzelne Digitalisierungsprojekte in der Fertigung, sondern um eine digitale Agenda für ein strategisches Herangehen an das Thema. Dazu gehören die Verankerung von Digitalisierung in den Unternehmenszielen, das Definieren von Stellen, die Schaffung von Budgets für Aus- und Weiterbildung. Das Ziel muss sein, digitales Wissen in Form eines Mindsets in allen Bereichen aufzubauen, damit diese Digitalisierungstrends autonom identifizieren und bewerten können. Der Wandel geschieht durch Menschen, denn der digitale Umbau erfordert Mitarbeiter mit digitalem Knowhow in jeder Abteilung. Diese Menschen müssen intern und extern gefunden und weiterqualifiziert werden. Dabei kommt HR eine Schlüsselrolle zu.
In wie weit ist HR im Mittelstand in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen?
Professor Chris Schmiech: HR ist im kleinen Mittelstand heute nicht in der Lage, diese Anforderungen zu erfüllen. Den Personalern fehlt häufig das Wissen über die Möglichkeiten der Digitalisierung und damit auch über deren Potenziale. Ohne dieses Wissen kann HR keine Menschen mit digitalem Talent erkennen bzw. deren Fähigkeiten beurteilen. Mitarbeiter in Personalabteilungen sind oft wenig technikaffin, und ihre Qualifikationen sind häufig fachfremd.
Welche strategische Rolle kann HR in einer digitalisierten Arbeitswelt übernehmen?
Professor Chris Schmiech: Vor der strategischen Rolle stehen noch dringende operative Tätigkeiten. Dazu gehört, zusammen mit den Fachabteilungen eine Ist-Aufnahme durchzuführen, um im Betrieb vorhandenes digitales Knowhow der Mitarbeiter zu identifizieren. Auch sollte HR die einzelnen Mitarbeiter der Fachabteilungen aktiv bei der Suche nach Blended-Learning-Konzepten oder Ähnlichem unterstützen. Dann hat HR auch die Chance, sich zu einem Partner des Managements entwickeln. Die Aufgabe von HR wird sein, Mitarbeiter mit digitalem Knowhow schnell zu finden bzw. die benötigten Kompetenzträger in das Unternehmen zu holen und zu binden. Dafür reicht ein angemessenes Gehalt allein nicht aus. Der Mittelstand sollte sich Gedanken über zielgerichtete Benefits wie Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten und Home-Office machen, um jungen Menschen ein modernes Arbeitsumfeld zu bieten.
Wie relevant kann HR in Zukunft bleiben?
Professor Chris Schmiech: Das kommt darauf an, wie HR mit digitalen Veränderungen umgeht. Die klassische HR-Sachbearbeitung wird ihr sicher zum Opfer fallen, das gilt auch für Sachbearbeitertätigkeiten im Controlling oder in der Rechtsabteilung. Die künftige Aufgabe von HR muss sein, die Effektivität der Mitarbeiter zu erhöhen, die Kompetenzen, die für den zukünftigen Unternehmenserfolg unabdingbar sind, zu identifizieren und in Form von Humankapital dem Unternehmen zuzuführen. Weitere Aufgaben sind die Aus- und Weiterbildung und die Schaffung eines digitale Mindsets. Damit hätte HR dem Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschafft und für sich eine neue Rolle definiert. Dafür benötigt HR einen höheren Grad an akademisch ausgebildeten Mitarbeitern. Das sind nicht zwangsläufig Betriebswirte und HR-Manager, sondern technikaffine Menschen, die in Prozessen denken und abteilungsübergreifend in crossfunctionalen Teams arbeiten wollen.
Welche digitalen Technologien werden für die Arbeit von HR relevant werden?
Professor Chris Schmiech: Es geht bei HR weniger um die Technologien hinter den Programmen, sondern um Problemlösungen durch Digitalisierung, etwa bei der Stellenbesetzung. Das Recruiting in digitalen Unternehmen findet mittels Robotic-Process-Automation statt. Es werden Anforderungen definiert und dann auf Knopfdruck große Datenbanken nach den benötigten Qualifikationen und Skills durchsucht. Potentielle Kandidaten bekommen nun eine Einladung zum Beispiel zu einer Art Spiel, das die geforderten Fähigkeiten und Qualifikationen exakt prüft. Erfolgreiche Teilnehmer erhalten danach einen Termin für ein virtuelles Interview. Der virtuelle HR-Interviewer stellt Bewerbungsfragen, die künstliche Intelligenz verschriftet das Interview und wertet es nach Formulierungen, Pausen und anderen Kriterien aus. Die künstliche Intelligenz für Mustererkennung wertet den Videoausschnitt nach Microexpression aus: Hat der Bewerber die Wahrheit gesagt? Bei welchen Fragen fühlte er sich wohl, wann unwohl? Alles wird lückenlos aufgeschrieben und sofort ausgewertet. Für HR geht es nicht darum, jede Technologie im Detail zu verstehen, sondern die Problemlösung, die die Digitalisierung bietet, zu finden und einzuschätzen, den Anbieter digitaler Services zu beurteilen und die Implementierung beim Management durchzusetzen.
In welchen Etappen wird die Digitalisierung die Wirtschaft langfristig verändern?
Professor Chris Schmiech: Die Veränderung findet in diesem Moment statt, aber nicht so spektakulär, wie man vermutet. Eine neue Fabrikhalle sieht jeder, eine KI-Software, die auf einem Rechner installiert wird, sieht niemand. Unternehmen, die nicht in die Digitalisierung investieren, werden eine schlechtere Kostenposition haben. Sie werden Aufträge von Kunden nicht bekommen und damit weniger Umsatz generieren können. Es setzt ein schleichender Niedergang ein, dessen Ursache sich von außen nicht erkennen lässt. Die Verantwortung für diesen Niedergang liegt überwiegend bei der Geschäftsführung. Sie sieht Digitalisierung als eine Art Mitgliedschaft in einem exklusiven Golfclub an. Sie überlegt noch, ob sie überhaupt eintreten soll, weil die Mitgliedsgebühr hoch ist. Die Digitalisierung wird aber nicht aufhören, sie ist keine Phase, die man aussitzen kann, um danach wieder mitmachen. Die Digitalisierung verändert unser Leben in einer bisher nicht gekannten Weise. Im Moment hat der Mittelstand noch volle Auftragsbücher, kümmert sich um das operative Abarbeiten der Kundenaufträge und hat keine Zeit für strategische Themen. Konkrete und verlässliche Vorstellungen von der Arbeitswelt von übermorgen gibt es nicht. Dafür sind die Voraussetzungen zu unterschiedlich, die Dynamik in der Technologieentwicklung ist zu groß. Doch Expertenprognosen haben sich immer früher eingestellt als zunächst prognostiziert.
Was bedeutet das für die künftige Organisation und den personellen Bedarf?
Professor Chris Schmiech: Wir brauchen ein Management, das Verantwortung für die Digitalisierung übernimmt. Wir benötigen eine offene, fehlerverzeihende Unternehmenskultur mit flachen Hierarchien, abteilungsübergreifenden Prozessen und Menschen, die in crossfunktionalen Teams zusammenarbeiten, die gemeinsame Ziele verfolgen und daran gemessen werden. Auch müssen wir unsere Art des Denkens ändern: weg von Kostenstellen und Abteilungsdenken und hin zu einer unternehmensübergreifenden digitalen Koordination aller Akteure entlang horizontaler Wertschöpfungsketten. Statt gering qualifizierter Sachbearbeiter in Teilzeit benötigen die Betriebe kommunikationsstarke, unternehmerisch denkende Akteure mit technischem Verständnis, die die Digitalisierung vorantreiben.
Das Interview führte Dr. Guido Birkner.