Mit den eigenen Werten ist es so ähnlich wie mit der Blutgruppe, gerade als Führungskraft. Jede und jeder hat welche. Niemand kennt die eigenen. Aber wenn es brenzlig wird, kommt’s auf sie an. Denn wer weiß schon so genau, was Werte eigentlich sind – geschweige denn, welche Werte einem persönlich wichtig sind. Aber gerade wer ein flaues Unwohlsein mit dem Job empfindet, wer in Konfliktsituationen mehr aus der Fassung gerät als ihr oder ihm recht ist – die oder der sollte mal ruhig bei den eigenen Werten vorbeischauen.
Was mit Werten gemeint ist, was der Wert wert-voller Führung ist, wie Sie die Ihnen wichtigen Werte mehr wert-schätzen können, bei sich und im Umgang mit anderen – darum geht es hier.
Was sind Werte?
„Values are like fingerprints. Nobodies are the same but you leave them all over everything you do.“ Dieser Spruch wird Elvis Presley zugeschrieben, und er trifft ganz gut das, was die Forschung über Werte herausgefunden hat: Werte sind etwas sehr individuelles und sehr stabiles, das häufig gar nicht so sehr an der Oberfläche zutage tritt. Wir handeln, entscheiden und kommunizieren ohne starkes Bewusstsein für unsere Werte. Wir tragen Autonomie, Fairness, Loyalität, Nachhaltigkeit, Zuverlässigkeit – oder welcher Wert auch immer für Sie wichtig sein mag – in der Regel nicht laut und deutlich vor uns her. Und doch sind Werte als Vorstellung dessen, was wir für richtig, wichtig aber, auch nichtig halten, relevant. Werte leiten unsere Weltanschauungen, Einstellungen und Verhaltensabsichten. Und sie lösen vor allem dann starke Gefühle aus, wenn wir sie nicht entfalten können. Weil die eigenen Werte in Konflikt mit denen anderer stehen; oder weil die Organisation jene Werte, die sie so schön auf ihrer Website ausstellt, immer wieder mit Füßen tritt.
Fragen Sie sich doch einmal: Für Ihre persönliche Vorstellung von einer guten Führungskraft, welche Werte sind Ihnen da wichtig? Welche davon können Sie in der Regel gut leben – und bei welchen müssen Sie Kompromisse machen? Welche Konflikte oder Schwierigkeiten in Ihrem Arbeitsumfeld, zum Beispiel in Change-Situationen, könnten vielleicht mit einem Werte-Konflikt erklärt werden – der zwar der Auseinandersetzung zugrunde liegt, aber nie wirklich zur Sprache kommt? Leistung versus Wohlwollen oder Sicherheit versus Lebendigkeit oder Tradition und Einklang mit Regeln versus Selbstbestimmung in Denken und Handeln: Das sind ganz typische Wertepole, aus und zwischen denen Konflikte entstehen.
Wozu Werte kennen, kommunizieren, mobilisieren?
Der amerikanisch-israelische Sozialpsychologe Shalom Schwartz gilt als weltweit führender Experte auf dem Gebiet der Werte-Forschung. Er hat in etlichen Studien zehn Grundwerte ermittelt, die über unterschiedlichste Kulturen hinweg – in jeweils unterschiedlich starker Ausprägung – gelebt und wertgeschätzt werden. Die in der Regel in einer gewissen hierarchischen Ordnung und häufig in Spannung zueinander stehen. Und die als Standards, als Kriterien für unsere Ansichten über gut und schlecht starken Einfluss auf eine Reihe von Einstellungs- und Verhaltensmustern haben, wie zum Beispiel religiöse Anhängerschaft, Konsumentscheidungen oder Wahlverhalten.
Es ist, auch dazu hat Schwartz an vielen Studien mitgewirkt, durchaus wert-voll, die eigenen Prinzipien und Normen zu ermitteln – etwa über validierte Testverfahren – und ausleben zu können. Wer sein Handeln mit den eigenen Werten weitgehend in Passung zu bringen vermag, die oder der
- erreicht mit höherer Wahrscheinlichkeit eigene Ziele
- berichtet über höheres Wohlbefinden
- ist weniger anfällig für Stressbelastung
- leidet seltener an chronischen Schmerz-, Angst- oder depressiven Erkrankungen.
Unser emotionaler Hund wedelt manchmal mit dem rationalen Schwanz und nicht anders herum, so bringt es der Arzt und Psychologe Jonathan Haidt auf den Punkt. In der Harvard Business Review, die nicht unbedingt des Sozialromantizismus verdächtig ist, war vor kurzem zu lesen, dass 9 von 10 Beschäftigten auf einen Teil ihres Lohns verzichten würden, wenn sie einen sinnvolleren Job hätten, der mehr ihren Werten entspricht. Dieses sogenannte psychologische Einkommen lässt sich sogar beziffern: Auf durchschnittlich 23 Prozent ihrer sämtlichen künftigen Einkommen würden Arbeitnehmer verzichten, wenn der Job dafür immer ihren Werten entsprechen würde. Werte im Job ausleben können: ein echter Geld-werter Vorteil sozusagen!
Weil besonders in Situationen der Ungewissheit und des Umbruches der Blick häufig nach oben geht und sich Menschen in Krisenzeiten besonders an ihren Vorbildern, Führungskräften und anderen Autoritäten ausrichten, sollten Sie Werte durchaus wertschätzen – die eigenen, die Ihrer Mitarbeiter und die der Organisation. Aber wie?
Wie Sie Wert-voller führen können
Hier einige Anregungen, um Werte in Ihrem Führungshandeln bewusster entfalten zu können:
Eigene Werte ermitteln und hierarchisieren:
Wie mit sich selbst oder mit den Mitarbeitenden in einen guten Dialog über Werte treten? Fragen wie die folgenden könnten dabei helfen, den eigenen Werten auf die Spur zu kommen:
- Wieso habe ich mal den Job aufgenommen, den ich jetzt ausübe?
- Was daran ist mir besonders wichtig und macht mir besonders Freude?
- Woran merke ich, dass ich gute Arbeit geleistet habe?
- Welche Devise, welcher Leitsatz prägt mein Tun (und Sein)?
- Nach welchen Kriterien und Standards entscheide ich, welche Ziele mir wichtig oder weniger wichtig sind?
- Mich kann man absolut auf die Palme bringen, indem man…
Sie könnten daraus, wenn Sie mögen, auch die wichtigsten fünf oder sieben Werte auflisten und eventuell sogar nach Rang ordnen – und zwar am besten in den Begrifflichkeiten, die für Sie oder den/die MitarbeiterIn am besten passen. Für Coaches, die sich intensiv mit positiver Psychologie befassen, ist das eine gängige Intervention.
Die deutsche Wertekommission übrigens befragt jährlich rund 500 gehobene Führungskräfte und fragt bei ihnen die wichtigsten Werte ab. 2020 lagen die fünf Prinzipien „Vertrauen“, „Verantwortung“, „Respekt“, „Integrität“,“Nachhaltigkeit“ und „Mut“ vorne. Welche dieser Werte sind für Sie besonders – nun ja: wertvoll? Und was heißen diese für Sie konkret?
Werte festhalten und kommunizieren:
„Wir erstellen jetzt mal unseren Wertekatalog“ oder „Wir brauchen endlich ein Mission Statement“ oder „Die Agentur Müllermeierhuber hilft uns jetzt bei der Ermittlung unseres Company Purpose“: In vielen Teams, Abteilungen, Firmen wir zu unterschiedlichsten Anlässen ein irgendwie geartetes Werte-Statement erstellt, zum Beispiel
- bei Fusionen
- wenn es in Changeprojekten hakt
- bei einem Führungswechsel
- in Krisensituationen
Forscher des renommierten MIT haben vergangenes Jahr eine große Studie unter 700 Unternehmen vorgelegt, von denen über 80 Prozent ihre Firmenwerte auf der eigenen Website publiziert haben. Drei von vier US-amerikanischen CEOs haben dieser Studie zufolge in Interviews mit großen Wirtschaftsmagazinen auf ihre Firmenwerte verwiesen – egal ob sie danach gefragt wurden oder nicht. Die meisten untersuchten Firmen schreiben sich zwischen drei und sieben Unternehmenswerte auf die Fahnen, zu den am meisten genannten Werten zählen „Integrität“, „Kollaboration“, „Kundenorientierung“, „Respekt“ und „Innovation“. Gleichzeitig wurde allerdings – anhand der systematisch ausgewerteten Mitarbeiterbeurteilungen über ein Karriereportal – festgestellt: Die schicken Werte von der Website scheinen sich nicht ganz so schick im unternehmerischen Alltagshandeln zu zeigen. Das sind nämlich die zwei typischen Gefahren an „mission statements“, „Führungsprinzipien“, „Unternehmensleitbildern“ et cetera:
- entweder sind sie zu generisch, zu allgemein, zu wolkig und damit schwer in konkrete Handlungsempfehlungen umzusetzen;
- oder sie sind eher präzise und konkret, werden aber – aus Sicht der Mitarbeitenden – zu häufig nicht vorgelebt. Oder beides zusammen.
Versuchen Sie daher, in Ihrer Führungsverantwortung möglichst klarzumachen und vorzuleben, was denn „Respekt“, „Verantwortung“, „Nachhaltigkeit“ oder welche Werte es auch immer sein mögen, konkret heißen. Zeigen Sie, wie Sie diese Prinzipien in Entscheidungs- oder Abwägungssituationen zumindest einfließen lassen. Und lassen Sie Ihre Mitarbeiter an möglichst konkreten Beispielen wissen, welche Form von werteorientiertem Verhalten Sie erwarten, welche Sie tolerieren – und welche Sie nicht akzeptieren.
Wertekonflikte transparent machen
Im Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Anforderungen von unten und Freiräumen oder Vorgaben von oben können Sie als Führungskraft nie alle Werte, die Ihnen eigentlich wichtig sind, voll ausleben. Es gilt permanent, Spannungsverhältnisse zwischen inneren und äußeren Anforderungen auszubalancieren, ständig abzuwägen zwischen Klarheit und Beteiligung, zwischen Effizienz und Fairness, zwischen ökologisch Wünschenswertem und betriebsökonomisch Wirtschaftlichem – um nur ein paar Beispiel zu nennen. Selbst die Debatte um die Impfpflicht lässt sich als Werte-Debatte führen: Individuelle Freiheit oder kollektive Sicherheit, was ist wichtiger? Und was, wenn der Wert der individuellen Freiheit mit der Autonomie anderer oder mit der kollektiven Freiheit in Konflikt gerät?
Wie gehen Sie mit solchen äußeren und inneren Werte-Konflikten um? Machen Sie diese gelegentlich sichtbar, im Sinne von „ich würde ja auch gern…“ oder „eigentlich wäre es mir an der Stelle auch wichtig, dass wir…“? Wenn Sie derartige Wertekonflikte transparent machen, ohne wiederum die Loyalität zu Ihrer eigenen Führung oder zum Gesamtunternehmen zu beeinträchtigen – eigentlich wieder ein eigener Wertekonftlikt an sich –, dann machen Sie sich möglicherweise als Person ein Stück nahbarer. Sie machen Ihre Werte, die Ihrer Mitarbeiter und die des Unternehmens fass- und erlebbarer. Und das wäre doch einmal bedenkens-wert, oder?
Viel Freude und Erfolg dabei!
Christian Thiele ist Autor und Coach für positive Leadership. Sein Buch „Positiv führen für Dummies“ ist gerade im Wiley-Verlag erschienen, sein Podcast „Positiv Führen“ lässt sich auf allen großen Podcast-Plattformen abrufen.
https://positiv-fuehren.com/