Mit 51,9 Prozent der Stimmen hat sich die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 im Rahmen eines Referendums für den Austritt („Leave!“) aus der Europäischen Union (EU) entschieden. Die Verhandlungen der Union mit Großbritannien über den Ausstieg sowie über die künftigen Beziehungen mit der EU beginnen jedoch erst, wenn die britische Regierung den Austritt formell beantragt. Dies könnte aktuellen Medienberichten zufolge im März 2017 geschehen. Die Austrittsverhandlungen müssen laut dem EU-Vertrag von Lissabon spätestens zwei Jahre nach der Beantragung abgeschlossen sein, wobei eine kürzere oder längere Verhandlungsfrist vereinbart werden kann.
Der Vorrang des EU-Rechts wird aufgehoben
Ebenfalls für das Frühjahr 2017 kündigte die britische Regierung zudem eine Gesetzesinitiative an. Durch diesen sogenannten Great Repeal Bill (Großes Aufhebungsgesetz) soll die im Gesetz von 1972 geschaffene Grundlage für die heutige EU-Mitgliedschaft Großbritanniens aufgehoben werden. Gleichzeitig wird durch das Aufhebungsgesetz der Vorrang des EU-Rechts aufgehoben und alle EU-Regelungen ins nationale Recht übertragen, wodurch diese wieder durch das britische Parlament änderbar werden. In Kraft treten soll das neue Aufhebungsgesetz jedoch erst mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU.
Was bedeutet das alles für deutsche Unternehmen und Staatsbürger mit Beziehungen zum Vereinigten Königreich?
Für Auswanderer, deutsche Studenten, die ein Auslandssemester in Großbritannien planen, sowie für Unternehmen, die Mitarbeiter nach Großbritannien entsenden, bestehen bis zum Inkrafttreten des Austrittsabkommens zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen. Nach aktuellem Zeitplan bleibt bis Ende 2018 beziehungsweise Anfang 2019 alles wie bisher.
Anschließend wird die Regierung vermutlich die Bereiche Gesundheitsversorgung, Aufenthaltsregelungen sowie Sozialversicherungen reformieren,
mutmaßt Omer Dotou, Sozialversicherungsexperte und Rentenberater bei der BDAE-Gruppe.
Private Krankenversicherung ratsam
Als besonders reformbedürftig erweist sich dabei das britische Gesundheitssystem. Dieses wird vom National Health Service (NHS) organisiert und gewährt jedem Bürger einen freien Zugang zur medizinischen Versorgung. Finanziert wird das NHS zum größten Teil aus öffentlichen Mitteln. Nur ein einstelliger Prozentsatz der Gesamtkosten stammt aus Zuzahlungen der Patienten. Auch deutsche Studenten, Auswanderer und Expatriates können derzeit die Leistungen des NHS in der Regel kostenfrei in Anspruch nehmen.
Doch schon seit Jahren wird dieses System von der Bevölkerung kritisiert. Neben langen Wartezeiten und einem fehlenden direkten Facharztzugang ist ein großer Kritikpunkt das Finanzierungsmodell. 80 Prozent der englischen Akutkrankenhäuser haben derzeit ein finanzielles Defizit. Vor drei Jahren waren es noch fünf Prozent. Die in der Notaufnahme angestrebten Wartezeiten werden derzeit in 90 Prozent der Fälle überschritten.
Der Regierung bleiben nun drei Optionen: mehr Geld für die Gesundheitsversorgung, das Akzeptieren eines weiteren Sinkens des Standards oder eine Einschränkung der Leistungen.
Vor diesem Hintergrund könnte es im Zuge des Ausstiegs Großbritanniens aus der EU vor allem Restriktionen bezüglich des freien Zugangs für Ausländer zum britischen Gesundheitssystem geben. Im schlimmsten Fall dürfen Ausländer die Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen,
erläutert Claus-Helge Groß, Spezialist für Auslandsversicherungen bei der BDAE-Gruppe. „In allem Fällen ist der Abschluss einer > privaten Auslandskrankenversicherung aus unserer Sicht dringend anzuraten, um die Gesundheitsversorgung sicherzustellen.“
Neue, verschärfte Visa-Regeln ab April 2017
Neben dem Zugang zur medizinischen Versorgung wird es aufenthaltsrechtliche Neuerungen geben. Bereits jetzt erfüllt laut einer Studie des > Migration Observatory – ein Institut der Universität Oxford – ein Großteil der Europäer, die aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb des Vereinigten Königreichs beschäftigt sind, die Visa-Voraussetzungen nicht, die für Arbeitnehmer außerhalb der EU gelten. Diese Zahl könnte laut Studienergebnissen sogar auf 81 Prozent steigen, sobald im April 2017 die neuen, verschärften Visa-Regeln in Kraft treten. Nach dem Brexit wären insbesondere jene EU-Bürger betroffen, die einen Zuzug nach Großbritannien planen.
Diejenigen, die bereits im Vereinigten Königreich arbeiten, dürften voraussichtlich bleiben. Laut besagter Studie arbeiten etwa 2,2 Millionen Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten in Großbritannien – das sind 6,6 Prozent aller britischen Beschäftigten. Dennoch: Tritt der Brexit ein, ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger in punkto Arbeiten im Vereinigten Königreich zunächst Geschichte. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Briten in der gesamten EU.
Deutsch-britisches Sozialversicherungsabkommen könnte wieder greifen
Sozialversicherungsrechtlich gelten bis zum endgültigen Austritt Großbritanniens aus der EU die EU-Verordnungen VO (EG) 883/2004 und VO (EG) 987/200. Diese Verordnungen koordinieren die Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und dienen somit dem Schutz der Sozialversicherungsansprüche bei Aufenthalten in anderen Mitgliedsstaaten.
Nach dem Brexit wird vermutlich das deutsch-britische Sozialversicherungsabkommen (SVA) Anwendung finden,
sagt BDAE-Sozialversicherungsfachmann Omer Dotou. Dieses wurde am 20. April 1960 unterzeichnet und trat am 1. August 1961 erstmals in Kraft. Es wurde seinerzeit jedoch nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am 1. Januar 1973 von den gemeinschaftlichen Koordinationsregelungen verdrängt.
Rentenansprüche und Wartezeiten sichern
Immerhin: Das Abkommen bezieht sich auf alle Sozialversicherungsbereiche und nicht nur auf einzelne Zweige, sodass Doppelversicherungen vermieden werden und Wartezeiten anerkannt werden können. Dieses Abkommen würde allerdings nur für deutsche und britische Arbeitnehmer in das jeweils andere Land gelten, denn es ist lediglich bilateral. Das bedeutet, dass es beispielsweise keine Anwendung fände, wenn eine deutsche Firma einen Schweizer Spezialisten nach England schickt.
Aufgrund dieser noch nicht geklärten Gegebenheiten empfiehlt die BDAE-Gruppe deutschen Expats in Großbritannien, sich die bereits erworbenen Rentenansprüche und Wartezeiten zu sichern, indem eine Rentenbescheinigung in Großbritannien beantragt und anschließend ein Antrag zur Kontenklärung bei der deutschen Rentenversicherungsanstalt gestellt wird. Noch werden die im EU-Ausland erworbenen Anwartschaften und Wartezeiten sozialversicherungsrechtlich zusammengerechnet. Ob diese Möglichkeit nach dem EU-Austritt weiterhin besteht, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch fraglich.
Mehr zum Thema finden Sie in unserem > Special: Der Brexit und die Folgen für HR.