Flache Hierarchien, klare Strukturen und agile Methoden zeichnen das Unternehmen Sipgate aus. Die 130 Mitarbeiter organisieren sich eigenständig. Doch das ist kein Selbstläufer. Wir haben das HR-Duo von Sipgate einen Tag lang begleitet.
Thu Pakasathanan und Carina Visser sind bei Sipgate für HR verantwortlich. Foto: Oliver Tjaden
Ein Flachbau im Hinterhof, hohe Räume, Holz- und Betonböden, Designermöbel. Die gewaltige Linotype-Setzmaschine im Eingangsbereich ist eine Referenz an die Druckerei, die ehemals in diesem Ambiente an der Gladbacher Straße in Düsseldorf ansässig war. Seit 2004 entwickelt das Unternehmen Sipgate hier, einen Steinwurf vom Medienhafen entfernt, Produkte für die Festnetz- und Mobilfunktelefonie.
Sipgate arbeitet agil, mit flacher Hierarchie und klaren Strukturen: Das zeichnet das Unternehmen aus, und dafür hat es zuletzt viel Anerkennung in der HR-Szene bekommen. Von der Buchhaltung über das Marketing bis zum Vertrieb organisieren sich die Teams in allen Unternehmensbereichen selbst. Das erfordert eine aktive, vorausschauende Personalarbeit. Hierfür verantwortlich sind mit Thu Pakasathanan und Carina Visser zwei junge Personalerinnen, die 2012 und 2015, rasch nach ihren Studienabschlüssen, bei Sipgate eingestiegen sind. Sie machen ihren Job mit Leidenschaft und wissen, worauf es ankommt. Denn um Selbstorganisation und individuelle Freiheit zu ermöglichen, braucht es gute Organisation und gelingende Kommunikation.
Mit einem Stand-up in den Tag
Es ist morgens früh halb neun. Im Start-up heißt das: Zeit fürs Früh- stück. Im Mitarbeiterrestaurant – der ehemaligen Poststelle des Gebäudes – stehen Marmelade und Aufschnitt, Joghurt und frisches Obst, diverse Brotsorten und Müsli für jeden der 130 Mitarbeiter bereit. Etwa 30 Kollegen sitzen zu dieser Stunde an den langen Tischen, mancher allein mit der Zeitung vor der Nase, andere in kleinen Gruppen palavernd.
Auch Thu Pakasathanan und Carina Visser starten jeden Arbeits- tag mit einem gemeinsamen Frühstück. Ihr Gespräch dreht sich um Naheliegendes: Thu geht am nächsten Tag in Mutterschutz, Carina wird dann von einer neuen Kollegin unterstützt. Da sie ihre Aufgaben klar strukturieren, verläuft aber auch dieser vorläufig letzte gemeinsame Arbeitstag unaufgeregt und nach Plan. Dazu gehört das morgendliche Stand-up-Meeting des HR-Teams täglich um 9.20 Uhr. Die beiden Personalerinnen stehen in ihrem Büro vor einer großen Tafel, auf der alle Termine für die laufende Woche notiert sind. Innerhalb von 15 Minuten besprechen sie, was heute anliegt. Und zwar klar und fokussiert – so erleben wir die Kom- munikation an diesem Tag insgesamt.
Trotzdem bleiben harte Nüsse zu knacken. Für Carina und Thu ist es das Thema Feedback. Seit etlichen Monaten beschäftigt die beiden Frauen die Frage, wie das interne Feedback für alle Mitarbeiter zum festen Bestandteil der Unternehmenskultur werden kann. Überlegungen dazu prägen auch den heutigen Tag.
Feedback, die Erste
Um 9.40 Uhr steht ein Stand-up-Meeting mit den vier Scrum Mastern (siehe Info rechts) an: In einem Team herrscht dicke Luft, Carina und Thu sind gespannt, was die Kollegen berichten. Die Scrum Master sind dafür verantwortlich, die Kommunikation innerhalb des Unternehmens zu gewährleisten, die Teams zu unterstützen und bei Konflikten zu moderieren. Kurz und konzentriert schildern sie, an welchen Ecken im Unternehmen es derzeit knirscht. Eine Gruppe von Kollegen, die Product Owner (siehe Info unten), befindet sich auf Geschäftsreise. Vor ihrer Abreise hatten sie die laufenden Projekte nicht priorisiert. Nun wissen die Teamkollegen nicht, was Vorrang hat. Das führt zu Stress. Eine Routinearbeit, die nach Ansicht von Scrum Master Jacqueline keinen großen Aufwand erfordert, aber dringend erledigt werden muss, bleibt liegen. „Zweieinhalb Tage haben wir das Problem diskutiert, ohne dass sich irgendwas oder irgendwer bewegt hätte“, berichtet Jacqueline sicht- lich verdrossen. Schließlich habe sie die Aufgabe selbst übernommen. Man beschließt, die Rückkehr der Product Owner abzuwarten und sie mit der Situation zu konfrontieren. Sie müssten ihre Verantwortung erkennen und beim nächsten Mal anders vorgehen, lautet das Resümee.
Scrum Master Pia, die seit vier Monaten im Unternehmen und noch in der Probezeit ist, hat derweil die Arbeitsergebnisse ihres Teams gemessen. Keine Kontrollmaßnahme, wie sie betont, sondern eine Grundlage, auf der sie gemeinsam diskutieren werden. Ist das Team zufrieden mit dem Status quo? Müssen Arbeitsabläufe verändert werden und wenn ja, welche? Braucht das Team personelle Unterstützung? „Ich bin gespannt, wie das Team das Ergebnis bewertet und ob es Änderungsbedarf gibt“, so Pia.
Bis zur Mittagspause bearbeiten die Personalerinnen die eingegangenen Bewerbungen. Ihrem Anspruch, auf jede binnen 24 Stunden zu reagieren, werden sie derzeit gut gerecht. Es herrscht Sommerflaute. Bliebe das so, wäre das ein Problem für das stark wachsende Unter- nehmen. Dennoch hält es an den hohen Anforderungen für eine Einstellung fest: Gesucht werden Softwareexperten mit Erfahrung – auch und gerade in selbst organisierten Unternehmen. Davon gibt es bis- lang nicht allzu viele. Die flache Hierarchie und der Verzicht auf Führungskräfte erfordert von jedem Mitarbeiter Selbstführung, Eigenverantwortung und eine hohe Bereitschaft zu konstruktiver Auseinandersetzung.
Auch die HR-Prozesse werden agil abgebildet. Wo andere Personalteams
seitenlange Excel-Listen pflegen, werden bei Sipgate Zettel geklebt. Foto: Oliver Tjaden
Mitarbeiter als Kulturgestalter
Und auch wer bereits in einem agilen Unternehmen gearbeitet hat, muss kontinuierlich darin unterstützt werden, Unternehmenskultur aktiv mitzugestalten. „Eine unserer Hauptaufgaben besteht darin, zusammen mit unseren Kollegen passende Formate zu entwickeln, die eine offene und konstruktive Arbeitsatmosphäre ermöglichen“, erläutert Carina. Das Thema Feedback steht hier ganz obenan. Bestes Beispiel hierfür ist der Umgang des Unternehmens mit Mitarbeitern in der Probezeit. „Wir wollen neue Kollegen während der ersten sechs Monate nicht nur aufmerksam beobachten. Wir wollen sie auch vom ersten Tag an weiterentwickeln“, betonen die Personalerinnen. Natürlich arbeite man darauf hin, dass der oder die Neue nach der Probezeit bei Sipgate bleibt. Aber auch wenn am Ende eine Trennung stehe, solle die Person etwas aus dieser Zeit mitnehmen können. Deshalb sei substanzielles Feedback wichtig.
Mit den Kollegen in der Probezeit funktioniere das bereits sehr gut. Zwei Gespräche finden während der sechs Monate statt, das erste nach zwei, das zweite nach vier Monaten. Jedes Gespräch dauert 60 Minuten. Teilnehmer sind die Scrum Master, eine der beiden Personalerinnen und die Kollegen, mit denen das neue Teammitglied während der Probezeit zusammenarbeitet („Peers“).
Keeps, Ideas, Highlights
Jeder Gesprächsteilnehmer gibt zu den drei Kriterien „Keeps”, „Ideas”, und „Highlights” seine Einschätzung ab, Wertschätzung steht an erster Stelle. „Keeps”: Welche Stärken und Fähigkeiten bringt der neue Kollege für den Job mit, wie bringt er sie in seiner Arbeit und im täglichen Umgang ein? „Ideas”: Welche Eigenschaften und Fähigkeiten sind aktuell noch ausbaufähig? „Highlights”: Womit beeindruckt der Kollege den jeweiligen Feedbackgeber besonders? Im Anschluss an diese Feedbackrunde äußert sich der neue Kollege zu seinen Erfahrungen während der Probezeit. Das strukturierte Vorgehen haben die beiden Personalerinnen im Zuge vieler Diskussionen mit den Teams entwickelt. Anfangs seien die Einschätzungen der Peers recht allgemein ausgefallen, berichtet Thu. Tenor: Der Kollege ist freundlich, kommt immer pünktlich und irgendwie ist er ganz okay. „Das reicht natürlich nicht, um zu beurteilen, ob der oder die Neue zu uns und unserer Kultur passt.“ Schlussfolgerung: Die Teams waren nicht daran gewöhnt, die richtigen Fragen zu stellen. Was muss jemand mit- bringen, um mit unserer Form der Zusammenarbeit klarzukommen? Welche Kriterien sollte er erfüllen, damit er uns weiterbringt? Es habe einige Jahre gedauert, berichtet Thu, bis das heutige Format stand. Ebenso intensiv hatte man diskutiert, wer die Entscheidung treffen soll, ob ein Kollege nach der Probezeit übernommen wird. „Letztlich muss das Team mit ihm oder ihr klarkommen. Deshalb haben die Teammitglieder das letzte Wort“, so Thu. HR steht bei den Feedback- gesprächen beratend zur Seite.
Halb eins, Zeit fürs Mittagessen. Gekocht wird für die Mitarbeiter jeden Tag frisch. Vegetarisch und konventionell, Vor- und Nachspeise, gesund und schmackhaft. Doch für eine behagliche Siesta im Nachgang bleibt keine Zeit. Gemeinsam mit Scrum Master Pia trifft Carina eine Kandidatin zum Gespräch, die gerade zwei Tage zur Probe arbeitet. Meike (Name von der Redaktion geändert) arbeitet derzeit als Softwareentwicklerin in einem größeren Unternehmen. Das Vor- stellungsgespräch bei Sipgate war sehr gut verlaufen. Die fachlichen Qualifikationen stimmen. Folglich die Einladung des Teams zur Probearbeit.
Nun möchte Scrum Master Pia wissen, was Meike an Sipgate besonders gut gefällt. „Die entspannte Atmosphäre“, so die prompte Antwort. Was genau sie mit „entspannt“ meine, hakt Pia nach. Irgend- wie seien alle so entspannt, meint Meike. „Was wolltest du während der beiden Tage, die du bei uns zur Probe gearbeitet hast, für dich heraus- finden?“, fragt Carina. Meike überlegt eine Weile. Die Leute gingen offen und freundlich miteinander um, ganz anders als bei ihrem der- zeitigen Arbeitgeber. Sie finde das Unternehmen und die Leute einfach cool.
Am Nachmittag kommt das Team mit Carina und Pia zusammen, um seine Eindrücke zu schildern. Die Enttäuschung ist den Peers anzusehen. Meike habe mit der offenen Diskussionsform wenig anfangen können und befangen gewirkt. Als einer der Kollegen sie aufgefordert habe, zu einem neuen Projekt Ideen vorzutragen, schien sie über- fordert. „Dabei haben wir keinen Informationsvorsprung. Es ist für uns alle ein neues Projekt“, so einer der Peers. Klar wird: Meike wird nicht zur neuen Kollegin werden. Schade, denn personelle Unterstützung wird dringend gebraucht. Wer sagt es ihr? HR-Frau Carina macht klar, dass dies eine rhetorische Frage ist. Teammitglied Thomas ist dran. „Du hast dich neulich davor gedrückt und versprochen, beim nächsten Mal die Absage zu überbringen.“ Ein leiser Seufzer, schließlich willigt er ein: „Aber nicht, wenn ihr alle zuhört.“
Gerade in einem solchen Fall bedeutet wertschätzendes Feedback eine Herausforderung. „Wir müssen immer wieder Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Carina. Und was passiert, wenn das nicht verfängt? „Na ja, wenn ein Einzelner aus einem Team versucht, sich daran vorbei zu mogeln, bekommt er meistens Druck von den anderen Teamkollegen. Schwieriger wird es, wenn ein ganzes Team sich als Feedbackmuffel outet. Dann fragen wir, ob ein solches Team überhaupt in der Lage ist, jemanden einzustellen und zu integrieren“, ergänzt Thu.
Zu viel des Feedbacks
Die Personalerinnen waren so zufrieden mit dem Format „Feedbackgespräche in der Probezeit“, dass sie im vergangenen Jahr begonnen haben, das Thema Feedback für alle Mitarbeiter stärker auf die Agenda zu nehmen. Ihr Ziel: Jeder Mitarbeiter soll zweimal pro Jahr eine Einschätzung von seinen Peers bekommen.
Aber das Angebot kam nicht an. Zwar hatten sich an der ersten Run- de noch nahezu alle Kollegen beteiligt. Aber schon ein halbes Jahr später flaute das Interesse spürbar ab. Vielleicht war die Zeitspanne zu kurz? Muss an der Form gearbeitet werden? Womöglich benötigen einige Kollegen Unterstützung, um das Gespräch führen zu können? Ein ganzer Hut voller Hypothesen, die Carina und Thu in der Folge intern diskutiert haben. Einer der entwickelten Lösungsvorschläge: Mitarbeiter, die sich fit im Feedbackgeben fühlen, sollen Kollegen als Sparringspartner dienen. Richtig in Schwung kam die Aktion jedoch nicht. „Das klingt wie eine Niederlage“, sagt Carina. Doch das sei nicht die ganze Wahrheit. „Tatsächlich dienen uns gerade solche Phasen dazu, mit unseren Kollegen das Thema weiterzuentwickeln.“
Also haben die HR-Frauen die Blickrichtung verändert. Statt „Feedback für alle“ sollte es nun „Feedback von allen“ heißen. Mitarbeiter sollten einem Kollegen offensiv ein Feedbackgespräch vorschlagen. Eine heikle Situation, wie Thu inzwischen zugibt. Im Selbstversuch habe sie gemerkt, dass das fröhliche „Du, ich würde Dir gern mal Feed- back geben“ durchaus irritierend sein könne. Was also tun? Druck rausnehmen. Einstweilen haben die Personalerinnen das Thema „Feedback für alle“ von der Agenda genommen. Es ist ein Semikolon, kein Schlusspunkt.
Wertschätzung wird wertgeschätzt
Den Schlusspunkt des heutigen Tages bildet um 17 Uhr ein weiteres Feedbackgespräch in der Probezeit. Diesmal steht Scrum Master Pia im Mittelpunkt. Auf farbigen Karten haben ihre drei Scrum-Master- Kollegen notiert, was sie an ihr schätzen, wo sie gern noch deutlicher Profil zeigen darf und welche Eigenschaften für das Unternehmen und für die Kollegen geradezu wie gebacken erscheinen.
Pia ist sichtlich gerührt über die Wertschätzung, greift Hinweise auf und schildert ihren Kollegen, wie sie ihr Onboarding empfunden hat. Auch hier keine lange Auseinandersetzung, sondern konzentrierte, gut vorbereitete Diskussion. Personalerin Thu bedankt sich bei den Kollegen. Sie freut sich, in Pia eine Kollegin zu wissen, die geschätzt wird – und die auch das wichtige Thema Feedback weiter vorantreiben wird.
Agiles Arbeiten bei Sipgate
Sipgate arbeitet agil und setzt in der Projektarbeit primär auf Scrum. Der Begriff Scrum steht für ein Vorgehen, mit dem Produkte und Projekte in einem Unternehmen gemanagt werden. Entwickelt wurde es zunächst für den Softwarebereich, ist jedoch nicht darauf beschränkt. Die Grundannahme: Entwicklungsprojekte sind oft komplex und unübersichtlich, Anforderungen und Lösungsansätze sind zunächst unklar. Deshalb wird sehr kleinschrittig gearbeitet, Zwischenergebnisse werden geschaffen und getestet, überarbeitet und wieder getestet.
Das Scrum Framework kennt drei Rollen – das sogenannte Scrum Team: Product Owner: Der Product Owner begleitet das Projekt fachlich, stellt Anforderungen und beurteilt die Umsetzung im Hinblick auf Funktionalität, Benutzbarkeit (Usability), Performanz und Qualität. Scrum Master: Aufgabe des Scrum Masters ist es, durch eine stabile Kommunikation mit allen an einem Projekt beteiligten Mitarbeitern für zielgerichtetes Arbeiten zu sorgen. Entwicklungsteam: Die Entwickler stehen im Zentrum des Scrum-Prozesses, weil sie für die kontinuierliche Umsetzung von Anforderungen sorgen.