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Die Illusion der Künstlichen Intelligenz

Zeichnung von einem vernetztem Gehirn.
Bild: metamorworks/istock

Der derzeitige Hype um das Thema künstliche Intelligenz (KI) ist ebenso vielfältig wie facettenreich: Industrie 4.0 und das Internet der Dinge, die Auswirkungen auf die Arbeitswelt, auf Tätigkeitsprofile und Qualifikationsbedarfe. Ständig werden neue Potenziale aufgezeigt, doch führen sie am Ende auch zu einer höheren Gesamtproduktivität?

Zusammen mit Andrew McAfee hat Erik Brynjolfsson, Professor am MIT Massachusetts Institute of Technology, das wegweisende Buch „The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird“ verfasst – mittlerweile ein weltweiter Bestseller. In dem Working Paper „Artificial Intelligence and the Modern Productivity Paradox: A Clash of Expectations and Statistics“ geht Brynjolfsson nun gemeinsam mit seinem MIT-Kollegen Daniel Rock und Chad Syverson von der University of Chicago den Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf Produktivität und Realeinkommen auf den Grund.

Das neue Produktivitätsparadox

Folgt man den Statistiken, so war das Produktivitätswachstum in allen OECD-Staaten in den vergangenen zehn Jahren nicht einmal halb so hoch wie in der Dekade davor. In den USA stagnieren die Realeinkommen seit Ende der 1990er-Jahre. In Deutschland sind sie seit 1991 zwar um 15 Prozent gestiegen, ohne dass jedoch die unteren Einkommensklassen davon profitieren konnten. Offensichtlich ist der technologische Fortschritt nicht in der statistischen Realität angekommen?

Die Forscher untersuchen vier mögliche Gründe: überzogene Erwartungen, statistische Messfehler, Umverteilungseffekte sowie zeitliche Verzögerungen in der Umsetzung. Ereilt die künstliche Intelligenz das gleiche Schicksal wie Kernenergie und Überschallflugzeug? Können Statistiken den wirklichen Nutzen neuer Technologien erfassen, solange sie sich allein an monetären Größen orientieren? Werden die Gewinne einzelner Pionierunternehmen durch die Restrukturierungskosten zahlreicher Unternehmen überkompensiert?

Am Ende der Analyse wird deutlich, dass es letztendlich der Faktor Zeit ist, den neue Technologien für eine weite Verbreitung benötigen. Hinzu kommt die Notwendigkeit ergänzender Innovationen, die das volle Potenzial einer Technologie erst erschließen und Produktivitätswachstum generieren. So nutzten 30 Jahre nach Einführung der Elektrizität die Hälfte der amerikanischen Produktionsunternehmen diese noch nicht. Der wirkliche Schub kam dann mit der Reorganisation der Arbeits- und Geschäftsprozesse, die für viele etablierte Unternehmen jedoch eine Hürde darstellte, da sie an Bewährtem festhalten wollten. In dem Spannungsfeld von Informationstechnologie, Mitarbeiterqualifikation und Unternehmensorganisation beziehungsweise -kultur sehen Brynjolfsson und seine Kollegen auch aktuell die größte Herausforderung. Sie illustrieren dies am Beispiel des Online-Handels. In den 1990er-Jahren Gegenstand eines ähnlichen Hypes wie gegenwärtig die künstliche Intelligenz lag sein Anteil 1999 bei 0,2 Prozent und nähert sich erst heute nach mehr als 20 Jahren der Zehn-Prozent-Marke.

Während die Kapitalmärkte Erwartungen abbilden und der ökonomischen Realität vorauseilen, basieren nationale Statistiken auf den Daten der Vergangenheit und sind daher keine validen Indikatoren für das künftige Produktivitätswachstum, so die Autoren.

Analog zur Entwicklung von Elektrizität und Verbrennungsmotor sehen sie für die künstliche Intelligenz ebenfalls eine positive Zukunft, unter der Maßgabe von Komplementärinvestitionen in Mitarbeiter und Geschäftsprozesse. Allerdings handelt es sich auch hier wieder überwiegend um immaterielle Investitionen, die sich nicht in den Unternehmensbilanzen niederschlagen. Fazit: Ein Working Paper, das die Entwicklung der künstlichen Intelligenz gesamtwirtschaftlich betrachtet, in eine interessante historische Perspektive setzt und vielfältige Impulse für die Zukunft vermittelt.

Der Mensch bewertet und entscheidet

Nicht die volkswirtschaftlichen Implikationen, sondern die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf das einzelne Unternehmen sind Gegenstand des Buches „Prediction Machines: The Simple Economics of Artifical Intelligence“. Die Autoren Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb, allesamt als Strategie-beziehungsweise Marketingprofessoren an der Rotman School of Management der Universität Toronto tätig, liefern eine ökonomische Analyse der Potenziale und Einsatzfelder. Dabei gehen sie zunächst auf die Datenprognose und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ein. Anschließend betrachten sie Entscheidungsprozesse und die Notwendigkeit der Bewertung von Handlungsalternativen. Die entsprechenden Werkzeuge sowie der organisatorische und strategische Kontext künstlicher Intelligenz sind Gegenstand der weiteren Ausführungen, die mit einem gesamtgesellschaftlichen Ausblick enden. Im Mittelpunkt stehen Entscheidungen unter Unsicherheit, die mittels künstlicher Intelligenz auf einer besseren und kostengünstigeren Grundlage getroffen werden können. Vorhandene Daten werden mittels lernfähiger Algorithmen verarbeitet, neue Informationen auf der Grundlage von Kausalitäten und Korrelationen erzeugt. IT-Programme zur Prognose künftiger Entwicklungen eröffnen vielfältige Perspektiven in einem dynamischen und immer komplexeren Umfeld – von der Wahrscheinlichkeit eines Kreditausfalls über die Vorhersage des Wechselrisikos von Mitarbeitern oder Kunden bis hin zur Nachfrageentwicklung für bestimmte Produkte.

Zahlreiche Beispiele aus der Unternehmenspraxis illustrieren die Chancen, aber auch die Risiken künstlicher Intelligenz. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, zwischen Datenanalyse, Diagnose und Prognose einerseits sowie Entscheidung andererseits zu differenzieren. Jede Entscheidung setzt eine Bewertung der Handlungsalternativen voraus. Hier sind nach wie vor menschliche Intelligenz und Urteilsvermögen gefordert, vor allem wenn es um ethische Fragen, Emotionalität und Kreativität geht. Es sind diese komplementären Fähigkeiten, denen sich das Personalmanagement verstärkt widmen sollte, so das Fazit der Autoren.

Agrawal, Gans und Goldfarb ist mit „Prediction Machines“ eine wissenschaftlich fundierte, aber dennoch gut lesbare Einführung in die Thematik gelungen. Weitgehend frei von technologischem Ballast vermittelt das Buch ein umfassendes Gesamtverständnis und ermöglicht es dem Leser, eine eigene Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen künstlicher Intelligenz vorzunehmen.


Mehr zum Thema

Das Working Paper „Artificial Intelligence and the Modern Productivity Paradox“ steht auf der Website des National Bureau of Economic Research (NBER) zum kostenfreien Download bereit: www.nber.org/chapters/c14007.pdf.

Weitere Informationen und Materialien zum Thema KI finden sich auf der Website der von Erik Brynjolfsson und Andrew McAffee geleiteten MIT-Initiative on the Digital Economy: ide.mit.edu.

Ajay Agrawal, Joshua Gans & Avi Goldfarb: Prediction Machines, Harvard Business Review Press 2018.

Auf der Website zum Buch www.predictionmachines.ai finden sich zahlreiche weiterführende Materialien – insbesondere ergänzende Artikel sowie Präsentationen der Autoren.