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Strategie und Kultur gemeinsam entwickeln

Junge Menschen am Tisch mit großen Puzzleteilen
Bild: ALotOfPeople/istock

2013 berief der Verwaltungsrat der AOK Bremen/Bremerhaven den neuen Vorstand. Unter Vorsitz von Olaf Woggan entwickelte die Direktorenrunde rasch eine Zukunftsstrategie, wie sich die Krankenkasse im immer härter umkämpften Gesundheitsmarkt aufstellen wollte.Die Strategie umfasst Vision, Leitbild, die Werte der  Organisation und definiert strategische Unternehmensziele.

Um die Strategie mit Leben zu erfüllen, so, dass die Mitarbeiter sie auch im beruflichen Alltag tragen und gestalten, hatte die Führungscrew die Kultur der Krankenkasse in den Blick genommen: Inwieweit unterstützt die gewachsene Kultur die neue Strategie und die Ziele? Wie kann sich der historisch eher behördlich ausgerichtete Charakter der Organisation noch stärker zu einem serviceorientierten Dienstleistungsunternehmen entwickeln? Was braucht es, dass die Mitarbeiter  diesen Wandel der Unternehmenskultur mittragen? Denn den handelnden Personen war klar: Kultur kann nicht verordnet werden, sondern muss sich im Miteinander entwickeln. Deswegen waren die Scheinwerfer zunächst auf unterschiedliche Fragen gerichtet: Wo kann die strategische Neuausrichtung auf kulturelle Ressourcen zurückgreifen? In welche Richtung soll die Kultur weiterentwickelt werden, um die Strategie mit Leben zu erfüllen?

Dazu setzte die Führung des Unternehmens zusammen mit externen Beratern den Prozess der „Strategieorientierte Kulturentwicklung“ (STROKE) in Gang – und betrat damit Neuland: Die gewachsene Kultur der Organisation sollte bewusst wahrgenommen und daraufhin betrachtet werden, wie sie Strategie und Ziele unterstützt: Es ging also um eine aktive Entwicklung der Kultur von der Strategie her gemäß dem St. Galler-Management-Dreieck.

Ziele definieren, Standort bestimmen

Wunsch der Verantwortlichen war, alle Hierarchieebenen und Funktionsbereiche gleichermaßen einzubeziehen und so eine tragfähige Basis der Unternehmenskultur für die strategische Neuausrichtung herzustellen. Vom Vorstandsvorsitzenden über die Direktoren, Abteilungs- und Teamleiter bis hin zu den Sachbearbeitern und Azubis war eine intensive Beteiligung am Prozess oberstes Gebot. Auch Gremien wie der Personalrat waren gut eingebunden. Dabei wurde zunächst die vorhandene Kultur mit allen positiven und negativen Aspekten in den Blick genommen und analysiert. Auf dieser Grundlage haben die Mitarbeiter eine Soll-Kultur erarbeitet und in Leitsätze gegossen. Diese wurden in einer Großveranstaltung mit allen Mitarbeitern und in Workshops mit konkreten Maßnahmen hinterlegt, die derzeit umgesetzt werden.

Mit gutem Beispiel voran gehen

Damit die langfristige Kulturentwicklung mittelfristig in der Organisation etabliert werden kann, baut der Beratungsansatz vor allem auf die Vorbildfunktion der Führungskräfte und eine größtmögliche Beteiligung der Mitarbeiter:
– Umfassender Einbezug und Beteiligung von Führungskräften und Mitarbeitern.
– Von oben her vorleben, oben anfangen und ebenenübergreifend arbeiten: Vorstand und Direktorenrunde als wesentliche Kulturträger.
– Die Kulturentwicklung wird in Pilotprojekten sichtbar: Begleitung von strategischen Schlüsselprojekten.
– Ressourcenschonendes Vorgehen: Bestehende Formate, Plattformen und Prozesse in der Organisation werden genutzt.
– Emotionale Greifbarkeit: Interaktive, veranschaulichende und bewegende Formen der Kommunikation werden etabliert.

Phasen 1 bis 3: Was ist der Kern der Kultur?

In Phase 1 hat das Führungsteam einen Prozessplan erarbeitet und bei den Mitarbeitern im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung für dessen Akzeptanz geworben. Dort stellte der Vorstandsvorsitzende die neue Strategie und den Prozess zur Kulturentwicklung vor; Mitarbeiter bekräftigten in Interviews die Notwendigkeit eines kulturellen Wandels.

Allen Involvierten war klar, dass die AOK Bremen/Bremerhaven in eine neue Ära aufbrechen muss, um die Zufriedenheit von Kunden und Mitarbeitern nachhaltig zu erhöhen. Um den Erfolg des Projektes sicher zu stellen, hat das Projektteam frühzeitig Schlüsselakteure wie Personalrat und Aufsichtsgremien eingebunden, Auftakt-Workshops zur Kulturanalyse organisiert und fortlaufend den Reifegrad der Organisation in Bezug auf den angestoßenen Kulturentwicklungsprozess analysiert. Eine Kulturarbeitsgruppe, bestehend aus rund 30 Mitarbeitern aller Hierarchie-Ebenen, wurde als Resonanzgremium für den Prozess gebildet. Sie begleitet den Prozess bis heute.

In Phase 2 stand die Analyse der Ist-Kultur auf Basis einer vorliegenden Mitarbeiterbefragung aus dem Jahr 2013 auf der Tagesordnung. Darüber hinaus konnten die Mitarbeiter freiwillig an Workshops teilnehmen, in denen mit dem Storytelling-Ansatz für die Kultur typische Alltagsbeispiele gesammelt und erläutert wurden.

Dabei kamen, durchaus beabsichtigt, zunächst vor allem (aber nicht nur) negative Beispiele zu Tage. Diese reinigende Wirkung der ersten Kulturworkshops war ein wichtiges Durchgangsstadium für den gesamten Prozess. Ein weiterer Baustein in den Workshops war Kreativarbeit der Mitarbeiter: In dieser Phase entstanden rund 40 von ihnen gemalte Bilder der Organisation, die die Kultur in all ihren Facetten widerspiegeln. Die AOK wurde unter anderem als Schiff, als Garten, als Baum oder als Hochhaus dargestellt – das zwar guten Chancen und Möglichkeiten biete, aber auch viele Probleme beherberge. Diese über das Storytelling hinausgehende Einheit diente zugleich dazu, Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten im Blick auf die Kultur in der Organisation aufzudecken und die Fokusthemen zu identifizieren.

Leitsätze für die Arbeitspraxis entwickelt

Nachdem die Konturen der Ist-Kultur umrissen waren, wurde in Phase 3 die Soll-Kultur der AOK Bremen/Bremerhaven erarbeitet – auf Basis der erkannten Ressourcen und bezogen auf die Unternehmens-Strategie. Zudem sollte die zu definierende Soll-Kultur an die Beispiele und Bilder aus Phase 2 anknüpfen und ebenfalls in Maßnahmen, Bildern und Beispielen zeigen, was in Zukunft gestärkt, vertieft und weiterentwickelt wird.

Gut ein Drittel aller Mitarbeiter aus allen Hierarchieebenen setzte sich in Workshops mit den Beispielen und Geschichten aus der Gegenwart sowie den strategischen Zielen des Unternehmens auseinander. So entstanden Leitsätze, an denen sich die Organisation künftig mit dem Blick auf Strategie, Marke und Kultur ausrichten soll.

In einer gemeinsamen Klausur des Führungsteams mit der Kulturarbeitsgruppe wurden die 102 Leitsätze nochmals auf ihren Bezug zu den strategischen Zielen überprüft, anschließend auf 31 Leitsätze verdichtet und mit positiven Zukunftsgeschichten aus der Workshop-Serie verknüpft. Diese intensive Arbeit war einer der Schlüsselpunkte, um den Markenkern der Organisation neu zu definieren. Die vermeintlich einfache Aufgabe der Verdichtung und Zuordnung entwickelte sich zu einer Grundsatzdebatte über Charakter und Ausrichtung der Organisation. Im Anschluss an die Klausur wurden die Leitsätze lediglich noch einmal leicht redaktionell bearbeitet.

Zwei Jahre nach Beginn des Prozesses gab es erneut ein besonderes Event: In einer Großveranstaltung mit allen Mitarbeiter stellten die Mitglieder der Kulturarbeitsgruppe – nicht der Vorstand – schließlich die erarbeiteten Leitsätze und ihre Entstehungsgeschichte vor. In einem anschließenden Austausch (World-Café) setzten sich die rund 700 Teilnehmer erstmals konstruktiv mit den Leitsätzen, die mit Beispielen hinterlegt waren, auseinander. Während der Veranstaltung konnten auch die gemalten Bilder aus den Workshops besichtigt werden. Somit war die Erstbegegnung der Mitarbeiter mit den Leitsätzen nicht nur Information, sondern bereits eine erste Auseinandersetzung.

Damit die Leitsätze bestmöglich in den Arbeitsalltag implementiert werden können, wurden in Phase 4 über mehrere Monate hinweg rund 70 Workshops „von oben nach unten“ mit allen Mitarbeitern durchgeführt. Das Ziel: Ableitung konkreter Maßnahmen für den jeweiligen Verantwortungsbereich mit Blick auf die Ressourcen – und nicht auf die Nachbarbereiche oder andere organisationale Schwachstellen.

Zuvor steckten 65 Führungskräfte die Rahmenbedingungen und Ziele für die Implementierungsphase ab, zu denen unter anderem auch die Anpassung der Zielvereinbarungen mit dem Management gehörte.

Maßnahmen bis zum Jahresende umgesetzt

Stand heute haben alle Organisations-Einheiten Workshops durchgeführt und Maßnahmen erarbeitet, die bis zum Jahresende umgesetzt sein werden. Von Beraterseite werden begleitend Workshops angeboten, die die Verantwortlichen für die Maßnahmen bei der Umsetzung stärken und kollegiales Feedback ermöglichen. Ab 2018 steht dann die Entwicklung Feedback-Kultur auf der Agenda. Die Vorbereitungen dazu laufen bereits an, eine Pilotphase mit ausgewählten Teams ist für Spätherbst/Winter 2017/2018 geplant.


STOLPERSTEINE: Wo hat es im Projekt gehakt?
• Strategie-Überdruss: Jede neue Strategie wirft die Frage auf, warum diese es nun endlich richten soll?! Das erforderte viel Geduld und Fingerspitzengefühl im Prozess. Zudem werden Strategien häufig in der Organisationführung entwickelt und verabschiedet, kommen aber selten als praktische, verstehbare Aufgabenbeschreibung bei Mitarbeitenden an.
• Change-Müdigkeit: Bei einem langwierigen und komplexen Veränderungsvorhaben mussten gemeinsam mentale Durststrecken überwunden und immer wieder neue Reizpunkte gesetzt werden.

UNTERM STRICH: Was hat das Projekt gebracht?
Die „Strategieorientierte Kulturentwicklung“ bei der AOK Bremen/Bremerhaven hat das Unternehmen in seinem Charakter positiv und nachhaltig verändert:
• Die Unternehmensstrategie wurde nicht im Elfenbeinturm des Direktoriums entwickelt, sie ist allen bekannt und wird von den meisten Mitarbeitern mitgetragen.
• Das beteiligungsorientierte Vorgehen hat die Akzeptanz der Ziele und des Prozesses im gesamten Unternehmen erhöht.
• Durch das behutsame Vorgehen der Berater verbunden mit der Würdigung der vorhandenen Kulturelemente wurde das für Veränderungsprozesse typische „Tal der Tränen“ kurz und schnell durchschritten.
• Das Betriebsklima hat sich nach dem Eindruck der Führungskräfte heute spürbar verbessert. Positive Kulturbeispiele werden bewusster erlebt und im Alltag gewürdigt.

Die Autoren:
Olaf Woggan, Vorstandsvorsitzender, AOK Bremen/Bremerhaven, Bremen, olaf.woggan@hb.aok.de
Dr. Daniel Dietzfelbinger, Partner, institut persönlichkeit+ethik, München, dietzfelbinger@pro-ethik.de
Dr. Andreas Grabenstein, Partner, institut persönlichkeit + ethik, Augsburg,
grabenstein@pro-ethik.de


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Dieser Beitrag stammt aus der Personalwirtschaft 08/2017.