Personalwirtschaft: Herr Wiederhold, welche Kompetenzen müssen Menschen mitbringen, um in zehn oder zwanzig Jahren Chancen auf einen guten Job zu haben?
Simon Wiederhold: Der Arbeitsmarkt befindet sich aktuell im Umbruch. Technologischer Fortschritt und die Verlegung von Produktionsschritten ins Ausland sind für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein großes Thema. Umso wichtiger ist es, Kompetenzen zu erwerben, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger anfällig für die Umwälzungen am Arbeitsmarkt machen. Unsere aktuelle Forschung zeigt, dass Unternehmen vor allem Fähigkeiten suchen, die sich nicht so einfach ersetzen lassen. Dazu gehören soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kompetenzen wie Gewissenhaftigkeit, die bei Problemlösungen unterstützen, oder Führungskompetenzen wie Entschlossenheit. Darüber hinaus zeigt unsere Forschung, dass sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt kognitive und digitale Kompetenzen, die das deutsche Ausbildungssystem vermittelt, seit drei Jahrzehnten zunehmend stärker auszahlen. Zu den digitalen Kompetenzen etwa gehören grundlegende Computerkenntnisse oder Fähigkeiten zur Datenanalyse. Zu den kognitiven Kompetenzen zählen etwa Sprachkompetenzen und kritisches beziehungsweise analytisches Denkvermögen.
Müssen in Zukunft alle arbeitenden Menschen programmieren können?
Es wird auch in Zukunft Berufe geben, die keine fortgeschrittenen IT- und Programmierkenntnisse benötigen. Zum Beispiel werden in sozialen Berufen Fähigkeiten wie Organisationstalent und Stressresistenz von größerer Bedeutung sein. Unsere Forschung belegt jedoch, dass insbesondere in der IT-Branche die Nachfrage nach Arbeitskräften das Angebot bei Weitem übersteigt. Man kann sich als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin hier also einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wenn man über Fähigkeiten verfügt, die viele andere auf dem Arbeitsmarkt noch nicht haben. Gleichzeitig ist der IT-Sektor sehr schnelllebig. Die Kompetenzen, die man heute erwirbt, könnten in ein paar Jahren bereits „Schnee von gestern“ sein. Deshalb sind gerade in diesem Bereich Weiterbildung und lebenslanges Lernen wichtig.
Welche Kompetenzen werden bald nicht mehr so stark nachgefragt?
Wir beobachten, dass Kompetenzen, die leicht von günstigeren Arbeitskräften oder Robotern übernommen werden können, bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht mehr so stark nachgefragt sind. Das ist auch per se gar nichts Schlechtes, denn dadurch können sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Tätigkeiten konzentrieren, in denen sie produktiver sind, während Maschinen die eher ungeliebten Aufgaben übernehmen können. Oftmals handelt es sich dabei um Routineaufgaben, die leicht programmiert beziehungsweise automatisiert werden können.
Welche Fähigkeiten werden in Zukunft besser bezahlt werden?
Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass manuelle Tätigkeiten, bei denen körperliche Arbeit im Mittelpunkt steht, in den letzten 30 Jahren am deutschen Arbeitsmarkt deutlich geringer entlohnt wurden als zum Beispiel kognitive, soziale oder digitale Kompetenzen. Dies könnte wiederum dazu führen, dass gerade handwerkliche Berufe weniger lukrativ für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden. Die langen Wartezeiten auf Handwerkerinnen und Handwerker zeigen aktuell jedoch eindrücklich, wie wichtig genau diese Jobs für unsere Gesellschaft sind.
Sie untersuchen, welche Anforderungen aktuell an Bewerber gestellt werden und inwieweit sich das mit den tatsächlich im Berufsbildungssystem vermittelten Kompetenzen deckt – wie machen Sie das?
Wir nutzen Textdaten von staatlich anerkannten Ausbildungsplänen in Deutschland. Durch deren Analyse bekommen wir ein umfassendes Bild davon, was Berufseinsteiger beim Eintritt in den Arbeitsmarkt tatsächlich können. Wir sind weltweit die Ersten, die diese Daten für die Forschung nutzen.
Vermittelt das Ausbildungssystem in Deutschland die Kompetenzen, die heute am Arbeitsmarkt erforderlich sind?
Ja, die Kompetenzen, die durch das Bildungssystem vermittelt werden, sind definitiv noch auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Das spiegelt sich einerseits in den Löhnen wider: Wir beobachten, dass sich das in der Ausbildung Gelernte weiterhin auf dem deutschen Arbeitsmarkt auszahlt. Das Ausbildungssystem spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit, denn mehr als zwei Drittel der Auszubildenden in Deutschland werden vom Ausbildungsbetrieb übernommen. Deshalb ist das deutsche Ausbildungssystem auch für viele andere Länder interessant.
Sie sprechen die Monetarisierung der Fähigkeiten an. Welche Ausbildungen vermitteln besonders hohe Kompetenzen, und wie schlagen sich diese auf die Gehälter nieder?
Wir beobachten, dass Technikerinnen und Techniker, Steuerfachangestellte sowie Designerinnen und Designer über besonders hohe kognitive Kompetenzen verfügen, Bank- und Hotelkaufleute hohe soziale Kompetenzen aufweisen und Personen in IT-Berufen hohe digitale Kompetenzen haben. Bereits unmittelbar nach dem Eintritt in den Arbeitsmarkt bekommen Berufsgruppen, in denen kognitive, soziale und digitale Kompetenzen gefragt sind, höhere Gehälter. Diese steigen vor allem bei geforderten sozialen und digitalen Kompetenzen mit zunehmender Erwerbserfahrung an.
Sie haben über die deutsche Berufsausbildung gesprochen – wie zahlen sich dagegen an der Universität vermittelte Kompetenzen aus?
Für die USA wissen wir, dass es auch bei Hochschulabsolventinnen und -absolventen vor allem kognitive und soziale Kompetenzen sind, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Für Deutschland ist die Datensituation schlechter, und wir wissen noch sehr wenig darüber, welche Kompetenzen, die an den Universitäten vermittelt werden, sich besonders lohnen.
Sie haben erforscht, in welchen Berufen die Kompetenzen der Arbeitnehmenden oftmals nicht die Anforderungen erfüllen. Wo ist diese Diskrepanz besonders hoch?
Insbesondere in Berufen, die einen hohen Anteil an manuellen und repetitiven Tätigkeiten aufweisen, verfügen Mitarbeitende nicht immer über die Kompetenzen, die die Arbeit eigentlich erfordert. Eine mögliche Erklärung ist, dass diese Berufe stark von Automatisierung betroffen sind und wir belegen können, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade in solchen Berufen selten an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Dann ist es natürlich schwierig, die Kompetenzen up to date zu halten.
Wie sieht es im übrigen Europa aus?
Wir finden in allen 17 europäischen Ländern, für die Daten vorliegen, sehr ähnliche Muster: Gerade in Berufen, die stärker von Automatisierung betroffen sind, übersteigen die Kompetenzanforderungen das Kompetenzangebot. Unsere Analysen zeigen, dass das Auseinanderfallen von Angebot und Nachfrage ein Problem insbesondere in Griechenland, Italien, Polen oder Spanien darstellt, während dies in Frankreich oder Schweden weniger der Fall ist. Deutschland liegt hier ungefähr im Mittelfeld. Außerdem können wir belegen, dass diese Diskrepanz ökonomische Kosten hat: Regionen, in denen die Nachfrage nach Kompetenzen das Angebot übersteigt, haben ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen und eine höhere Arbeitslosenquote.
Betrachten Sie auch die Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Arbeitsmarkt in den USA?
Ja, das Pillars-Projekt zeigt, dass sich viele der Erkenntnisse aus den USA auch auf den europäischen Arbeitsmarkt übertragen lassen, insbesondere im Hinblick auf den hohen Stellenwert kognitiver und sozialer Fähigkeiten. Das ist sehr spannend, denn wir können zeigen, dass ähnliche Muster in sehr unterschiedlichen Kontexten auftreten.
Welche Muster sind das?
Ein Trend, der in den USA seit 2017 zu beobachten ist, ist das sogenannte „Skills-Based Hiring“, bei dem aufgrund von vorhandenen Kompetenzen statt formalen Abschlüssen eingestellt wird. Dies gilt insbesondere im IT-Bereich. Unternehmen wie IBM und Accenture verlangen in vielen ihrer IT-Jobs keine spezifischen Bildungsabschlüsse mehr. Gleichzeitig belegen unsere Forschungsergebnisse, dass Abschlüsse in den USA oft als Indikator für strukturiertes Arbeiten, Durchsetzungsfähigkeit und Stressresistenz angesehen werden. Gerade in den USA, in denen Abschlüsse wie Bachelor oder Master mit hohen Kosten verbunden sind, schließt das systematisch diejenigen von gut bezahlten Jobs aus, die sich das Studium einfach nicht leisten können.
Pillars soll ja nicht nur Analysen liefern, sondern auch konkrete Handlungsempfehlungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt geben. Welche Gruppen betrachten Sie im Hinblick auf Inklusion?
Pillars zielt darauf ab, Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, die unter den aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt besonders leiden – beispielsweise ältere Menschen oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Wir wollen dann auf Basis unserer Forschungsergebnisse Handlungsempfehlungen für genau diese vulnerablen Gruppen geben.
Und wie sehen die entsprechenden Handlungsempfehlungen aus?
Älteren Beschäftigten fehlen häufig grundlegende digitale Kompetenzen, weil sie zum Beispiel nicht in der Lage sind, einfache computerbezogene Aufgaben wie den Umgang mit einer Tastatur oder einer Maus auszuführen. Gerade für sie wäre Weiterbildung wichtig. Allerdings nehmen sie – übrigens in allen untersuchten Ländern – seltener an Weiterbildungen teil als jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dies ist nicht nur ein Problem für ihre Chancen am Arbeitsmarkt, sondern auch für die soziale Teilhabe in einer immer stärker digitalisierten Welt. Dabei können diese grundlegenden digitalen Kompetenzen bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besonders erfolgreich mittels Weiterbildungen aufgebaut werden.
Kommen Ihre Forschungsergebnisse auch in der Praxis an?
Wir treffen uns regelmäßig mit einer internationalen Gruppe von Stakeholdern, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmen, Gewerkschaften und Politik. Durch diesen Austausch ergeben sich neue Perspektiven hinsichtlich der Ursachen unserer Ergebnisse und Möglichkeiten für deren Übertragbarkeit in die Praxis.
Info
Das Forschungsprojekt
Pathways to Inclusive Labour Markets – PILLARS ist ein Projekt, das von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von zehn EU-Partnerinstitutionen durchgeführt wird. Das Forscherkonsortium analysiert, wie Arbeit in Europa in den nächsten Jahrzehnten aussehen wird und welche Personengruppen abgehängt werden könnten. Das Forschungsteam rund um Professor Dr. Simon Wiederhold von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) verantwortete hierbei fünf Teilprojekte.
Eine der zentralen Forschungsfragen war, welche immer wichtiger werdenden Kompetenzen das Bildungssystem zukünftig vermitteln muss. Darüber will das Team politische Entscheidungstragende und die Öffentlichkeit informieren. Für ihre Forschung nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ingolstadt unter anderem Textdaten von staatlich anerkannten Ausbildungsplänen in Deutschland, um zu messen, über welche Kompetenzen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich verfügen. Außerdem untersuchten sie mithilfe von Online-Stellenanzeigen die in den Berufen geforderten Kompetenzen. Dadurch können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen, in welchen Berufen die vorhandenen Kompetenzen besonders stark von den Kompetenzanforderungen abweichen.
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Themen Recruiting und Employer Branding. Zudem schreibt und recherchiert Sie zum Thema Transformation, Change Management und Leadership und ist verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.