Die Nachwuchskraft eines Autobauers wollte länger als üblich arbeiten, um noch ein Paar Dinge fertigzustellen. Die (Low-Level)-HR-Chefin verbietet ihr das. Begründung: „Dann ist ja keiner mehr im Büro – falls Dir was passiert.“
Wurde hier eine surreale HR-Variante des Hits „You’ll Never Walk Alone“ umgesetzt? Wurde Arbeitszeit als Individual-Waffe im Kampf gegen eine potenzielle (Nachwuchs-)Konkurrenz genutzt? Nein! Die Chefin hatte alles richtig gemacht. Schließlich ist es statistisch erwiesen, dass gesunde Mittzwanziger in einer typischen Büroumgebung zu den Hochrisikomitarbeitern zählen. Beim Sonnenbaden vom Meteor erschlagen zu werden, hat eine ähnlich dramatische Unfallwahrscheinlichkeit.
Der öffentliche Dienst ist bekanntermaßen ultraflexibel: Die Schwarmintelligenz der Landesinnenminister empfahl angesichts extrem hoher (wegen Personalmangels) nicht bearbeiteter Asylanträge des BAMF, dass diese Behörde Schichtbetrieb einführen sollte. Anders ausgedrückt: mit vorhandenem Personal statt acht endlich 16 Stunden arbeiten.
Das zeigt: Auch im 21. Jahrhundert ist Arbeitszeit ein Megathema. Vor allem als Bewertungsmaßstab von Arbeit. Der Denkansatz „Anwesenheit“ gleich „Arbeit“ beziehungsweise „Stechuhr“ gleich „Ergebnis“ liefert Standardparadoxien für HR: Eine Mitarbeiterin klagt täglich stundenlang über ihre Überlastung. Die Arme muss ständig Überstunden machen, weil sie ja in der regulären Arbeitszeit so viel von ihrer Überlastung erzählt. Diese Mitarbeiterin wird natürlich von der Vorgesetzten höher geschätzt als ihre Kollegin, die beste Ergebnisse erzielt – aber pünktlich nach Hause geht. HR sollte sich schleunigst im eigenen Unternehmen mit sämtlichen Führungskräften anlegen, die diesem Denken frönen. Sonst ist der „War for Talents“ verloren. Flexible und kreative Mitarbeiter finde und halte ich nicht, wenn die Flexibilität des Unternehmens der eines Beton-Trampolins gleicht. Wer heute nicht kapiert, dass der Vorgesetzte als Coach gefragt ist, nicht aber als Wächter der Zeit, der ist auf dem langen Weg von der Dampfmaschine zur digitalen Gegenwart mental irgendwo in den 50er-Jahren hängen geblieben.
Wir müssen einen anderen Bewertungsmaßstab finden als Zeit. Daher sollte HR sich um gute betriebsindividuelle Lösungen kümmern. Mit was können Arbeitsergebnisse besser bewerten als mit Zeit? Klar ist das die Kreisquadratur. Es geht um Führung und um Selbstverantwortung: Der Mitarbeiter sollte seine Grenzen kennen – der Chef beziehungsweise die Chefin sollte Flexibilität nicht willkürlich und gängelnd nutzen.
Es gibt schon gute Beispiele betrieblicher Einigkeit über Zeit-Alternativen. Wenn gute Führung auf selbstbewusste Mitarbeiter trifft und beide Seiten Konflikte aushalten, dann ist alles möglich. Es wird höchste Zeit, dass mit einer neuzeitorientierten Personalarbeit die Zeit endlich eingemottet wird.
Welche Zeit-Alternativen nutzen Sie? Schreiben Sie uns!
Autor: Jobst R. Hagedorn