Learnagility – so lautet eine neue Wortkreation bei Bosch. Sie deutet an: Lernen und Agilität sind bei dem Konzern eng miteinander verbunden. „Durch die digitale Transformation und die damit verbundene geforderte Agilität im Arbeitsleben entsteht ein gewaltiger Qualifizierungsbedarf. Lernen wird zum Schlüssel für die Transformation“, erläutert Ingo Rendenbach, Leiter Robert Bosch Kolleg und Bosch Training Center. Um mit der Dynamik der Veränderungen Schritt zu halten, müsse Lernen schnell und agil erfolgen – Anforderungen, denen mit klassischen Lernmethoden nur unzureichend nachzukommen sei. Daher hat Bosch im Rahmen der Initiative „Bosch Learning Company“ die „Learnagility Toolbox“ aufgesetzt – ein Set an Methoden für agiles Lernen. Auch DB Systel hat sich weitgehend vom traditionellen Lernen verabschiedet: „Wir haben uns auf den Weg gemacht, agiler zu werden. Da können wir nicht mehr mit klassischen Lernformaten kommen“, sagt Ulrike Blumenschein, Change Managerin bei DB Systel. Statt Präsenzschulungen und Workshops, wie sie früher stattfanden, herrschen agile Formate wie das Barcamp, das Lean Coffee oder auch die kollegiale Fallberatung bei dem IT-Dienstleister der Deutschen Bahn inzwischen vor.
Selbstgesteuert und -organisiert
Ganz unabhängig davon, ob ein Unternehmen agil arbeitet oder nicht, Unternehmen werden in Zukunft agil lernen müssen. Davon ist Professorin Dr. Nele Graf, Leiterin Competence Center for Innovation & Quality in Leadership & Learning an der Hochschule für angewandtes Management, Erding/Berlin, und Autorin des Buches „Agiles Lernen“ überzeugt. „Lernen auf Vorrat greift nicht mehr, dafür erfolgen Veränderungen heutzutage zu schnell, neue Kompetenzen werden zeitnah benötigt“, sagt sie. Das gelte für den ITler genauso wie für den Mitarbeiter in der Produktion. „Die Produktzyklen werden immer kürzer und die Technologisierung schreitet voran, sodass auch Mitarbeiter am Band permanent neue Vorgänge lernen müssen“, so Graf.
Der Personalentwickler wird beim agilen Lernen zum Broker. Er
vermittelt passende Lernformate und bringt die Lernenden zusammen.
Prof.
Dr. Nele Graf, Leiterin Competence Center for Innovation & Quality
in Leadership & Learning an der Hochschule für angewandtes
Management, Erding/Berlin
Für den Produktionsmitarbeiter ist selten ein Seminar die Weiterbildung der ersten Wahl. Austausch mit Kollegen, Augmented Learning oder Hospitationen kommen eher in Frage. Auf jeden Fall ist er gefordert, sich um sein Lernen selbst mitzukümmern. „Agiles Lernen findet meist im Arbeitsalltag statt und ist immer selbstgesteuert und -organisiert“, nennt Nele Graf zwei typische Kennzeichen für agiles Lernen. Ferner sei der Lerner nicht nur Konsument, sondern auch „Prosument“. Soll heißen: Er unterstützt als Produzent auch andere dabei, zu lernen.
Inhaltlich flexibel
Ein bekanntes agiles Lernformat, bei dem die Lernenden Prosumenten sind, ist Working Out Loud (WOL). Über einen Zeitraum von zwölf Wochen trifft sich hier eine Gruppe von vier bis fünf Mitarbeitern – virtuell oder persönlich –, um sich gegenseitig (wöchentlich) für jeweils eine Stunde dabei zu helfen, in sogenannten Circles eine Veränderung zu bewältigen beziehungsweise ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Für die Arbeit im Circle hat der Gründer der WOLBewegung, der US-Amerikaner John Stepper, die „Circle-Guides“ entwickelt. Diese Leitfäden beinhalten Fragebögen zur Selbstreflexion sowie Anleitungen zu Diskussionsrunden und Rollenspiele. Die zwölfWochen sind also wie ein Trainingsprogramm für den Aufbau eines persönlichen Netzwerkes konzipiert. „Agiles Lernen heißt nicht, dass es keine Struktur gibt. Im Gegenteil! Inhaltlich jedoch ist es sehr flexibel“, merkt Nele Graf an. Entsprechend können die Themen in den Circles schnell wechseln. Im Vordergrund steht vielmehr, dass die Teilnehmer lernen, stabile, für ihre Arbeit wertvolle Beziehungen aufzubauen.
Wie gut das funktioniert, zeigt Bosch. Über WOL gelingt es dem Unternehmen, Mitarbeiter weltweit für die digitale Zusammenarbeit in virtuellen Expertennetzwerken fit zu machen. Heute vernetzen sich jeden Monat mehr als 200 000 Mitarbeiter über die interne Kollaborationsplattform „Bosch Connect“. Knapp 4000 davon sind Mitglied in der offenen „WOL@Bosch Community“, über 1500 haben bereits an einem WOLCircle teilgenommen. Zudem ist WOL auch Bestandteil des Onboardings für neue Mitarbeiter.
Die Lernkultur weiterzuentwickeln, ist die wichtigste Aufgabe für Unternehmen, die in Zukunft agil lernen wollen.
Ingo Rendenbach, Leiter Robert Bosch Kolleg und Bosch Training Center
Lernende in aktiver Rolle
Working Out Loud ist nicht die einzige agile Lernmethode, die bei Bosch Anwendung findet. Speziell für Teams hat das Unternehmen das „Competence Camp“ eingeführt. Mit diesem Tool wird die Kompetenzentwicklung in die Hände des Teams gegeben, wie Ingo Rendenbach erläutert. „Wir wollen die Teammitglieder als Lernende in eine aktive Rolle bringen“, führt er aus. Was kommt in Zukunft? Und was brauchen wir? In einem professionell moderierten Auftakt-Workshop diskutieren die Teammitglieder diese Fragen, leiten daraus Aufgaben ab und legen fest, wer sich um welches Thema kümmert. Auch beim selbst entwickelten Self Organized Learning Forum – kurz: SOLF –, das bei Bosch gerade pilotiert wird, sind die Mitarbeiter gefordert, selbst aktiv vorzugehen. Haben sie bezüglich eines Themas Lernbedarf, können sie eine Lerngruppe ins Leben rufen und sich treffen. SOLF gibt dabei nur den Rahmen vor, die Inhalte erstellen die Teilnehmer eigenständig. Jeder, der den gleichen Bedarf hat oder etwas zum Thema beisteuern will, kann sich er Gruppe anschließen.
Nachfrageorientierte PE
Bosch geht damit von einer angebotsorientierten immer mehr zu einer nachfrageorientierten Personalentwicklung über, bei welcher der Mitarbeiter bestimmt, was und wie er lernen will. Laut Nele Graf ist dies für agiles Lernen absolut notwendig. „Es wird immer wichtiger, dem Lernenden innerhalb der gesteckten Ziele Selbstgestaltungsmöglichkeiten zu geben“, findet auch Ulrike Blumenschein. Dass dies gleichzeitig auch der zielführendste Weg ist, sei DB Systel erst kürzlich wieder deutlich geworden. „Für unsere neuen Ausbildungen zum ,Agility Master‘ und ,Product Owner‘ hatten wir eigentlich einen ,normalen‘ Workshop als Auftakt geplant, dann aber festgestellt, dass dieser aufgrund der Heterogenität der Teilnehmer nicht wirklich gut funktioniert hätte. Die jeweiligen Lernbedarfe waren einfach zu unterschiedlich“, schildert Blumenschein. So habe man aus dem Workshop spontan ein Barcamp gemacht, bei dem die Teilnehmer sich ihr Programm jeweils selbst zusammenstellen konnten. „Wenn ich agile Formate ohne feste Agenda ansetze, wie ein Barcamp oder auch das Lean Coffee, sehe ich als Trainer beziehungsweise Personalentwickler viel deutlicher, was die Teilnehmer brauchen, welche Themen für sie wichtig sind. Diese kann ich dann gezielt vertiefen, die Erfahrungen und den Austausch der Teilnehmer untereinander viel stärker nutzen und so auch die Vernetzung untereinander fördern“, sagt Blumenschein.
Wir haben uns auf den Weg gemacht, agiler zu werden. Da können wir nicht mehr mit klassischen Lernformaten kommen.
Ulrike Blumenschein, Change Managerin, DB Systel GmbH
Bei aller Selbststeuerung sei wichtig, dass die Mitarbeiter bei ihrem Lernen und Vorankommen nicht alleine gelassen werden. „Eine Begleitung ist nötig“, stellt die Change Managerin klar. Das bedeutet letztlich auch, dass sich die Rollen ändern: nicht nur die des Lernenden wie bereits beschrieben, sondern auch die des Personalentwicklers.
DB Systel bildet Mitarbeiter aus der Organisation daher derzeit zu sogenannten Agile Instructors aus. Auch HR Business Partner und Personalentwickler nehmen an diesem Programm teil. Deren Aufgabe: die Teams zu begleiten und ihnen Hilfestellungen bei der Selbstorganisation des Lernens zu bieten, indem sie zum Beispiel Lernangebote machen und als Moderatoren wirken.
Die richtigen Rahmenbedingungen
„Der Personalentwickler wird beim agilen Lernen zum Broker. Er vermittelt passende Lernformate und bringt die Lernenden zusammen“, bringt es Nele Graf auf den Punkt. Aber auch der Führungskraft kommt der Expertin für agiles Lernen zufolge ein verändertes Rollenverständnis zu: „Die Führungskraft sollte sich als Befähiger und als Lerncoach sehen. Sie vermittelt dem Mitarbeiter, was das Unternehmen von ihm erwartet. Sie muss aber auch ergründen, was der Mitarbeiter vom Unternehmen braucht“, so Graf. Wie man Mitarbeiter motiviert, selbstgesteuert zu lernen, ist demnach der falsche Ansatz. Für die Unternehmen kommt es vielmehr darauf an, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um agiles Lernen zu fördern.
Doch auch wenn für die Rahmenbedingungen gesorgt ist, steht fest: Der Wechsel vom traditionellen zum agilen Lernen geht nicht von heute auf morgen. Denn agiles Lernen erfordert ein neues Mindset. „Die Lernkultur weiterzuentwickeln, ist die wichtigste Aufgabe für Unternehmen, die in Zukunft agil lernen wollen“, sagt Ingo Rendenbach. „Wir werden in Zukunft permanent lernen müssen. Und dies zu vermitteln, braucht Zeit.“ Um die Mitarbeiter für die neue Art des Lernens zu gewinnen, seien Vorbilder genauso wichtig wie Best-Practice-Beispiele – so wie Working Out Loud, das bei Bosch zum Selbstläufer wurde. „Wir setzen darauf, dass jene Mitarbeiter, die vom agilen Lernen begeistert sind, die anderen anstecken“, so Rendenbach. Sie vermitteln die wohl wichtigste Sache: den Spaß am Lernen.
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› Die wichtigsten agilen Lernformate als Glossar
Dieser Beitrag ist im Special Weiterbildung 12/2018 erschienen. Sie können es › hier bestellen