Mehr Bewerber zu finden und freie Stellen schneller zu besetzen ist mit digitalem Recruiting kein Problem – so das Versprechen der Softwareanbieter. Doch sollten entsprechende Schritte wohl überlegt sein, damit die Tools – wie im folgenden Beispiel – auch die erhofften Effizienzvorteile bringen.
Montagmorgen, 9:45 Uhr: Sales-Manager Paul W. erhält im Büro eine Push-Nachricht mit einem Stellenangebot. Vor einer Woche hatte er sich bei einer Recruiting-App angemeldet. Der Jobtitel klingt interessant. Doch Paul muss zum Kunden. Im Taxi liest er das Inserat und informiert sich auf LinkedIn über das Unternehmen. Mit zwei Klicks hat sich Paul schon beworben. Nun widmet er sich seinem Kundenprojekt. Nach der Mittagspause überprüft er seine E-Mails. Er ist in der engeren Auswahl und wird zum Videointerview eingeladen. Das Interview führt Paul zu Hause. Am nächsten Morgen erhält er die Auswertung sowie eine Einladung zum Assessment-Center. Zuvor absolviert er noch schnell den Onlinetest der Personalabteilung.
Bei einem Software-Haus wird in neun Monaten eine Account-Manager-Stelle im Cloudvertrieb vakant. Talent-Acquisition-Spezialistin Paula M. prüft, ob bereits ein interner Nachfolger definiert oder im System ein geeigneter Kandidat hinterlegt wurde. Leider nicht! Mit wenigen Klicks verschafft sich Paula Informationen zu Vergütung, geforderten Skills etc. Das Texten des Stellenprofils übernimmt das System. Auf Basis Künstlicher Intelligenz identifiziert es die wichtigsten berufsrelevanten und psychologischen Merkmale von Leistungsträgern im Vertrieb und schlägt Formulierungen vor. Das Stellenangebot wird mit Hilfe eines smarten Multiposters in den performantesten Kanälen gepostet. Am Montag um 9 Uhr geht die Stelle live. Eine Stunde später sind zwei Bewerbungen da. Das System meldet, dass es einen A-Kandidaten gematched und zum Videointerview eingeladen hat. Der Login zur KI-basierten Stimmanalyse ist angelegt.
Job-Apps, RRS-Feeds für passende Positionen etc.: Digitale Recruiting-Tools sind bei Bewerbern gefragt. Auch Unternehmen können damit viel Zeit sparen. Doch ist die Digitalisierung nur ein Mittel zum Zweck. Zunächst ist zu fragen, was konkret erreicht werden soll. Eine Orientierung, wie Unternehmen dabei vorgehen, bietet der Leitfaden „In 10 Schritten zum digitalen Recruiting“. Doch Achtung! Manche der Ziele widersprechen sich.
1. Bestandsaufnahme: Bevor es losgeht, sind Basisfragen zu klären
- Verfügt mein Unternehmen über eine Digitalstrategie und eine HR-Strategie, an die ich andocken kann?
- Wie viel Digitalisierung vertragen meine Organisation und meine Zielgruppen?
- Wie hoch ist das Budget, und welche Ressourcen stehen zur Verfügung?
- Welche Prozess- und IT-Landschaft finde ich vor?
2. Ziele für das digitalisierte Recruiting
- Kosten einsparen
- schneller, effizienter werden
- mehr Bewerber finden
- die Qualität des Recruiting-Prozesses verbessern
3. Wie soll die Digitalisierung ablaufen?
- Auf einen Schlag oder schrittweise?
- Soll die Software geleast oder gekauft werden?
4. Soll-Ist-Vergleich: Zahlen, Daten, Fakten sammeln
Sicherlich wird man sich später fragen, was Ihnen das digitale Recruiting konkret gebracht hat. Spätestens dann werden Sie sich ärgern, wenn sie den Vorher-Nachher-Vergleich ausgelassen haben.
5. Prozessdesign: Abläufe ordnen
- Stellen Sie Ihre Prozesse auf den Prüfstand: Wie effizient sind sie? Gibt es Redundanzen, wiederkehrende Fehler? Wie ein prominenter IT-Manager einmal sagte, „If you digitize a shity process, you’ll get a shity digital process“. Auch die Offlineabläufe sollten geprüft werden.
- Führen Sie agile Methoden ein, damit die Digitalisierung Sinn macht. Methoden aus der Softwareentwicklung wie Scrum und DevOps sind auch im Recruitingumfeld anwendbar.
- Das Predictive Hiring, das Vorhersagen über die Zahl der Bewerber und die aussichtsreichsten Kanäle ermöglicht, ist neben der Digitalisierung einer der wichtigsten Hebel im Recruiting. Auch hier ist die IT nur Enabler. Das Wissen muss vorhanden sein, und die damit verbundenen Prozesse müssen funktionieren. Sonst geht die beste Digitalstrategie nicht auf.
- Ein digitalisierter Prozess ist immer anders als der jeweilige analoge oder Mischprozess. Bestehende Abläufe eins zu eins in die IT zu übernehmen, kann daher nicht gelingen.
6. Wichtig: Partner, Anwender, Schnittstellen einbinden
Ein digitaler Recruitingprozess führt nur zum Erfolg, wenn Sie den einstellenden Fachbereich, die Personalentwicklung und den HR-Business-Partner einbinden. Diese Abteilungen verfügen über Informationen, um den Einstellungsprozess zu optimieren.
7. Welche sind die richtigen Tools?
Wenn die Punkte 1 bis 6 geklärt sind, können Sie sich mit den Tools beschäftigen: Welches ist das passende System für meine Organisation? Wie lassen sich unsere Ziele am besten erreichen? Zunächst geht es um die folgende Softwareentscheidung:
- Best in Suite oder Best of Breed? Eine integrierte Recruiting-Suite ist schnell gekauft und implementiert. Wer Wert auf die neuesten und besten Tools legt, muss die Produkte verschiedener Hersteller evaluieren.
- Cloud oder On Premise? Cloud-Lösungen benötigen keine eigene IT-Infrastruktur, da die Programme auf den Servern des Anbieters laufen und in der Regel kostengünstiger sind. Auch lokal installierte Software hat Vorteile.
8. Was ist bei der Implementierung der Software zu beachten?
Wie bei jeder Softwareimplementierung müssen folgenden Variablen definiert werden:
- Welche Projektressourcen stehen zur Verfügung (Menge und Skills)?
- Wie sieht der Zeitplan aus?
- Wie hoch ist das Budget?
- Wie zuverlässig ist der Implementierungspartner?
9. Etablieren Sie Erwartungs- und Change-Management-Prozesse
Die Kultur und Organisation des Unternehmens sind nicht zu unterschätzende Einflussfaktoren bei Digitalisierungsprojekten:
- „Mit IT-Projekten kann man nicht gewinnen, im besten Fall verliert man nur nicht.“ Hilfreich ist, ein Erwartungsmanagement zu etablieren und die Schritte 1 bis 8 zu berücksichtigen.
- Sorgen Sie für eine rege interne Kommunikation vor, während und nach dem Projekt.
- Change-Management: Ihre Initiative hat nur Erfolg, wenn Sie das gesamte Unternehmen mitnehmen. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter ein digitales Mindset haben und die Ziele der Digitalisierung verstehen und mittragen.
10. Evaluieren Sie die Risiken und Grenzen der Digitalisierung
Wie viel Digitalisierung vertragen Ihr Unternehmen und die externe Zielgruppe? Beobachten Sie die Einführung der neuen Tools und evaluieren Sie, welche Teilbereiche künftig digitalisiert werden. Die Digitalisierung bringt Vorteile und Herausforderungen. Eine Analyse dessen, was wie erreicht wird, hilft dabei, Zeit und Geld nicht unnötig zu investieren.