Frage an die HR-Werkstatt: Wir können wir Wissen nachhaltig und praxisnah vermitteln?
Es antwortet: Joachim H. Kipke, Geschäftsführer des Raisch Instituts für Personal- und Organisationsentwicklung
Die Digitalisierung verändert unsere Wertschöpfungsszenarien und verkürzt die Innovationszyklen dramatisch. Um mit dem rasanten Wandel mitzuhalten und ihn aktiv gestalten zu können, müssen Mitarbeitende auf allen Ebenen effizienter lernen. Und das Gelernte konsequent in praktisches Handeln überführen.
Eine strategisch ausgerichtete Personalentwicklung muss sich diesen veränderten Anforderungen anpassen: Wer in unserem komplexen, reizüberfluteten Alltag zielgerichtet, klar und effizient agieren will, braucht Kenntnisse und Kompetenzen, die auch in Stresssituationen sofort abrufbar sind und zur Gewohnheit werden.
Sie zu erlangen ist das Ziel einer Lernkultur, die die Eigenständigkeit der Mitarbeitenden in Eigenverantwortung nachhaltig stärken und zu adäquatem Verhalten in der Praxis führen soll. Das Schlagwort dafür ist „blended learning“, also das Lernen mit einem Mix an unterschiedlichen Medien, Mitteln und Methoden.
Lernen als Prozess
Vermittelt man Wissen ausschließlich in Einzelevents wie Seminaren oder Workshops, ist der Lernerfolg in der Regel wenig nachhaltig. So generiert nach den Erkenntnissen der Lernpsychologie in der Erwachsenenbildung die reine Wissensvermittlung nur etwa zehn Prozent von Lernfortschritt und Verhaltensänderung. Rund 70 Prozent bilden sich durch praktische Erfahrung, und die restlichen rund 20 Prozent entstehen durch Feedback und Reflexionsschleifen.
Das zeigt sich auch bei der Transformation von Seminarwissen in praktisches Verhalten: Nur etwa ein Sechstel aller Workshop-Teilnehmenden setzen ihr dort erworbenes Wissen dauerhaft in die Praxis um. Die Mehrheit versucht es zwar, fällt aber relativ rasch wieder in alte Routinen zurück. Und dann gibt es noch jene, deren Arbeitgeber sich ihre Teilnahme hätten schenken können, weil sie schlicht nichts umsetzen. Insgesamt ein problematisches Verhältnis zwischen Ressourceneinsatz und Ertrag.
Die Konsequenz: Lernen muss als Prozess begriffen und aktiv vorangetrieben werden. Als Prozess, der die Lebensrealität in ihrer Vielschichtigkeit spiegelt. Und die Probanden müssen ihr Wissen immer wieder im Arbeitsalltag anwenden, überprüfen und verinnerlichen. Dazu sind die praktische Umsetzung und Reflexionsschleifen als feste Elemente in den Lernprozess zu integrieren. Wie ein solcher Schulungs- und Lernprozess aussehen kann, soll im Folgenden am Beispiel einer Lernreise für potenzielle Führungskräfte gezeigt werden.
Lernreise für potenzielle Führungskräfte
Schritt 1 – die Auswahl: Zunächst gilt es zu klären, welche Mitarbeitenden das Potenzial für Führungsfunktionen haben.
Dabei empfiehlt es sich, neben der subjektiven Beurteilung durch Vorgesetzte ein einheitliches Bewertungsschema heranzuziehen, das die Auswahl ein Stück weit objektivieren kann. Ein solcher „Talentkompass“ erfasst beispielsweise Engagement und Potenzial der Mitarbeitenden jeweils anhand verschiedener Kriterien, die wiederum jeweils mit mehreren Bewertungsstufen verknüpft sind. Die Kriterien bei der Bewertung des Engagements sind zum Beispiel:
- Persönlicher Einsatz
- Selbstdisziplin
- Loyalität zum Unternehmen
- die Bereitschaft, Unternehmensinteressen vor die eigenen zu stellen
- Mut und die Bereitschaft, sich für seine Überzeugungen einzusetzen.
Um das Potenzial einzuschätzen, können folgende Kriterien hilfreich sein:
- Auffassungsgabe
- Sprachlicher Ausdruck
- Lernfähigkeit
- Proaktivität – Energielevel
- Eigenmotivation/Zielorientierung.
Eine zentrale Rolle im gesamten Lernprozess spielt die aktive Mitwirkung der Vorgesetzten. Sie müssen mit den „Lernreisenden“ regelmäßig deren Lerninhalte besprechen und ihnen Feedback zu Lernfortschritt und möglichen Problemstellungen geben.
Schritt 2 – die Zieldefinition: Sie findet im engen Zusammenspiel mit den jeweiligen Führungskräften und dem Unternehmen statt, das die Weiterbildung veranlasst.
Hier werden Inhalte und Ziele in drei Bereichen definiert. Erstens die Ziele des Unternehmens, zweitens die Messbarkeit von Lernfortschritt und Ergebnissen und drittens schließlich die Erkenntnisse und Fertigkeiten, die zu erreichen sind. Das Ergebnis ist ein detaillierter „Programme Performance Path“ (PPP), dessen Inhalte in die Trainings einfließen, und der immer wieder „Kontrollpunkte“ enthält.
Schritt 3 – der Kickoff: Der Kickoff dient der Einstimmung der Teilnehmenden – idealerweise maximal zwölf Personen pro Lerngruppe.
Dabei gilt es größtmögliche Transparenz über die Ziele und den Weg sowie den angepeilten Nutzen für das Unternehmen, das Team und jede Einzelne und jeden Einzelnen herzustellen. Das schafft Verständnis dafür, was in den kommenden Monaten passiert, und stärkt die Motivation der Teilnehmenden, sich aktiv einzubringen.
Die Teilnehmenden erhalten einen Überblick über Organisatorisches, sie erfahren, welche Inhalte und Aktivitäten sie auf ihre Lernreise erwarten. Und sie bekommen eine Einführung in die Online-Lernplattform. Sie ist ein wesentliches Element, um die Inhalte zu vertiefen und in die Praxis zu übernehmen.
Schritt 4 – die Reise: Als Vorbereitung für den ersten Workshop erhalten die Teilnehmenden Aufgaben, die sie im Vorfeld bearbeiten sollten.
Der Workshop selbst – ein bis maximal zwei Tage – widmet sich der Persönlichkeit der Probanden und ihrem Rollenverständnis als potenzielle Führungskraft. Anhand interaktiver Aufgaben, in Rollenspielen und mit wechselnden didaktischen und methodischen Ansätzen erleben sie, wie sie mit sich selbst, mit Stresssituationen und anderen Anforderungen des Arbeitsalltags umgehen.
In den Wochen nach dem Workshop stehen Reflexion und die Überführung des Gelernten in den Arbeitsalltag im Fokus. Ihre Aufgaben dazu bekommen und erledigen die Lernenden über die Online-Plattform. Parallel finden Gespräche der Probanden mit ihren Führungskräften statt. Auch dafür sind Aufgaben und Zielsetzung klar definiert.
Zusätzlich gibt es ein individuelles Transfer-Coaching mit dem Trainer – in der Regel zwei- bis dreistündige Einzelgespräche, in denen sich die Teilnehmenden mit ihrem Trainer austauschen, Probleme ansprechen und nächste Schritte definieren. Sechs bis acht Wochen nach dem Workshop stellen sie ihre Erfahrungsberichte auf die Online-Plattform. Es geht darum, sich Erkenntnisse bewusst zu machen und zu teilen. Der Trainer sichtet die Erfahrungsberichte und kommentiert sie.
Dranbleiben ist entscheidend
Nach diesem Schema – Vorbereitung, Workshop, Nachlese, Transfer-Coaching, Erfahrungsbericht – laufen die nächsten Lernmodule im Abstand von zwei bis drei Monaten. Ihre Überschriften können beispielsweise sein: „Sag es treffender“ (sprachlicher Ausdruck, Präsentation), „Teams@Work“ (Wie organisiere ich die Arbeit im Team, wie gehe ich mit Konflikten um?), „Leute, Leute, Leute“ (Welche Wirkung hat mein Verhalten auf andere?) und „Nächste Ausfahrt Zukunft“ (Was sind meine Ziele, persönlich wie im Zusammenhang mit meinen beruflichen Aufgaben?).
Wichtig für den Erfolg einer solchen Lernreise ist das Zusammenspiel der Medien und Methoden und die konsequente Verzahnung von Workshops, praktischer Anwendung, Coaching und Reflexion. Nicht zu vergessen die aktive Mitwirkung der jeweiligen Führungskraft. Denn die Weiterbildung der Mitarbeitenden ist kein reines HR-Thema. Vielmehr gehört es zu den nicht delegierbaren Aufgaben einer Führungskraft, ihre Organisation, ihre Teams und ihre Mitarbeitenden zu entwickeln.
Dazu gehört auch, dass die Führungskraft den Rahmen schafft, damit die Lernenden ihr Wissen in die Praxis umsetzen und ihre Fähigkeiten trainieren können. Ohne Praxis bleibt Wissen akademisch und geht im Arbeitsalltag unter. Die Erfahrung zeigt: Diese Art der Weiterbildung fördert Wissen, Zufriedenheit und Loyalität der Mitarbeitenden nachhaltig. Und sie verbessert in aller Regel das Verhältnis zwischen Ressourceneinsatz und Ertrag signifikant.“
Autor
Joachim H. Kipke ist Geschäftsführer des Raisch Instituts für Personal- und Organisationsentwicklung in Waldenbuch bei Stuttgart.