Auch wenn die Wirtschaftssanktionen der EU-Staaten und ihre Folgen absehbar waren, waren viele westeuropäische Unternehmen mit Niederlassungen in Russland auf die doppelte Marktherausforderung aus Sanktionen und gleichzeitiger Abwertung des Rubels nicht vorbereitet. Zudem mangelt es den meisten Personalabteilungen der westeuropäischen Unternehmenszentralen an spezifischem Know-how über den Wirtschaftsstandort Russland.
Das sind erste Zwischenergebnisse einer Studie, in der die Beratungsgesellschaft Kienbaum sowohl russische Unternehmen als auch Firmen aus dem D-A-CH-Raum mit Aktivitäten in Russland zu den Auswirkungen der gegenwärtigen ökonomischen Situation auf dem russischen Markt befragt. Insgesamt zeichnen die westlichen Headquarters sowie die russischen Unternehmen und Niederlassungen ein ambivalentes Bild der derzeitigen wirtschaftlichen Lage: Fehlende Transparenz der Personalkennzahlen und eine momentan schwer vorhersagbare Geschäftsplanung betreffen nicht nur produzierende Unternehmen, sondern vor allem auch Vertriebseinheiten in Russland.
Organisationsmodelle und Personalstrukturen stehen auf dem Prüfstand
Mehr denn je stehen Themen wie das Halten von Schlüsselmitarbeitern und die flexible Aus- und Umgestaltung von Vertriebsvergütungssystemen im Fokus, ebenso die Frage, ob und wie Unternehmen die durch die Abwertung des Rubels entstandene Einkommenslücke ausgleichen. Bei den Executives denken viele Unternehmen über Alternativen zu einer Kopplung der in Rubel gefassten Arbeitsverträge an den Euro- oder Dollar-Wechselkurs nach und hinterfragen Vergütungsmodelle kritisch.
Bedingt durch die Wirtschaftskrise, haben viele Unternehmen einen Einstellungsstopp verhängt und stellen sowohl die Organisationsstruktur als auch die Mitarbeiterstruktur und die Kompetenzmodelle sowie notwendige Skillanforderungen auf den Prüfstand.
Efficiency, Agility, Simplicity
Die Kernfrage ist: Wie sieht die optimale Organisation mit den benötigten Positionen und Funktionen und den passenden Stelleninhabern aus? Das Erfolgsrezept lässt sich durch drei Schlagworte charakterisieren:
- Effizienz (Efficiency),
- Agilität (Agility) und
- Einfachheit (Simplicity).
In der derzeitigen Situation sind Unternehmen bereit, bisher starre internationale Guidelines flexibler zu gestalten und mit klar formulierten Ausnahmeregelungen (Exception Management) auf die Situation des russischen Marktes zu reagieren. Idealerweise wird dies durch eine Differenzierung und Segmentierung verschiedener Mitarbeitergruppen unterstützt. So lassen sich Maßnahmen gezielt auf die wichtigsten und am meisten zur Wertschöpfung beitragenden Mitarbeiter ausrichten. Zusätzlich werden derzeit Organisationen, Strukturen, Channels und Ziele des Vertriebs in Russland intensiv überprüft. Gleichzeitig wird die Vertriebsvergütung neu ausgestaltet. Außerdem zeigt sich, dass mit zunehmender Dauer der Krise Personalabbauprogramme auf der Agenda der Unternehmen nach vorn rücken. Gleichzeitig stehen die Unternehmen vor der Herausforderung, Investitionen zu sichern und neue Perspektiven zu eröffnen – für ihr Business und für ihre Mitarbeiter vor Ort.
Russische Unternehmen reagieren gelassener auf die Krise als die Headquarters internationaler Konzerne. Beide Gruppen sind jedoch gleichermaßen unentschieden, ob sie die Gehaltslücke, die ihren Beschäftigten durch die Abwertung des Rubel entstanden ist, ausgleichen sollen. Aus der Sicht der russischen Mitarbeiter ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Währung eine Abwertung erfahren hat, sondern dass auch wichtige Güter der täglichen Grundversorgung erheblich teurer geworden sind. Einige Unternehmen – zumeist große Konzerne – reagieren darauf, indem sie zum Beispiel den Subventionsbetrag für das Mittagessen erhöhen.
Darüber hinaus belastet die Krise russische Mitarbeiter unter Umständen doppelt: Das in Rubel gezahlte Gehalt ist weniger wert, und gleichzeitig sind Wohneigentumskredite in Euro, Dollar oder Schweizer Franken zu bedienen. Deshalb tendieren vor allem russische Unternehmen dazu, einen Ausgleich zum Wertverlust des Rubel zu zahlen. Dieser Ausgleich liegt dabei unterhalb der regulären Gehaltserhöhung.
Die Nachwirkungen der Krise werden noch zwei Jahre lang zu spüren sein
Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Die Mehrzahl der von Kienbaum befragten Unternehmen blickt optimistisch in die Zukunft und geht von einer Dauer der Aus- und Nachwirkungen der Krise von eineinhalb bis zwei Jahren aus. Der Optimismus wird gegenwärtig von einer leichten Erholung des Rubel, der sich aktuell stabil gegenüber schwankenden Ölpreisen zeigt, gestützt. Die von uns vor Ort im Moskauer Office beobachtete reale Wirtschaft wird noch durch eine sehr harte Zeit gehen müssen. Personalabbau und Reduzierung des verfügbaren Einkommens werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die russische Kaufkraft negativ beeinflussen. Es könnte dabei auch zu negativen Ketteneffekten kommen – die Konsumenten kaufen weniger, die Händler verkaufen weniger Waren und wären in der Folge gezwungen, Personal abzubauen Die Unternehmen, die auf lokales Marktwissen in Russland und auf Flexibilität in der Unternehmenszentrale setzen, haben die besten Chancen, die Beeinträchtigungen durch die Krise gering zu halten. Firmen ohne lokale Marktexpertise werden hier häufig das Nachsehen haben.
Dr. Jens Uwe Krämer,
Director Central & Eastern Europe, Russia & CIS
Kienbaum Management Consultants GmbH