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Arbeitszeiterhöhung als Lösung für den Fachkräftemangel?

Wenn es nicht genug Erwerbstätige gibt, um anstehende Aufgaben im deutschen Wirtschaftssystem zu erledigen und Aufträge abzuarbeiten, dann müssen die vorhandenen Beschäftigten mehr stemmen. Dafür benötigen sie mehr Arbeitszeit, so die Theorie einiger Politiker und Wirtschaftsvertreter. Sie sprechen sich dafür aus, die allgemeine Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden zu erhöhen und das offizielle Renteneintrittsalter nach hinten zu verschieben, um den Fachkräftemangel zu bewältigen und die Renten weiterhin bezahlen zu können.

Die Debatte ist an sich nicht neu, wurde jüngst aber vom Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, wiederbelebt. Der Wirtschaftsforscher schlug die Einführung einer bezahlten 42-Stunden-Woche vor. In der Schweiz arbeiteten Angestellte bereits so lange, in Schweden liege die wöchentliche Arbeitszeit bei 41 Stunden. Hüthers Kalkulationen nach könnte die deutsche Wirtschaft durch das Summieren der Extra-Stunden „bis 2023 den demografisch bedingten Verlust am Arbeitsvolumen kompensieren“.

10 Jahre Mehrarbeit nötig

Prominente politische Unterstützung erhielt Hüther vom früheren SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der aktuell allerdings kein größeres politisches Mitspracherecht besitzt. Die steigende Arbeitslosigkeit sei der Grund gewesen, weswegen die Arbeitszeit vor mehr als 30 Jahren verkürzt worden sei, wird Gabriel in der „Bild am Sonntag“ zitiert. „Heute haben wir genau das entgegengesetzte Problem: uns fehlen Menschen für die Arbeit, weil die Babyboomer in Rente gehen und danach der Pillenknick kommt“, sagt Gabriel. Seine Schlussfolgerung: Die Arbeitszeit sollte wieder heraufgesetzt werden. In seiner Vorstellung müssten die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese bezahlte Mehrarbeit für die nächsten rund zehn Jahre leisten, um „den Wohlstand in der Bundesrepublik zu behalten“. Damit reiht sich Gabriel in eine Reihe von Ökonomen, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer wieder betont hatten, dass sich die Arbeitszeit an wirtschaftliche Rahmenbedingungen anpassen muss.

Auf Arbeitgeberseite ist der Vorschlag bisher auf Sympathie gestoßen. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sagte gegenüber RP-Online: „Wir müssen jetzt alle die Ärmel hochkrempeln und uns mehr anstrengen, um aus diesen vielfältigen Krisen herauszukommen.“ Dabei gelte es, unter anderem das Thema (Lebens-)Arbeitszeit neu zu betrachten. Auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, befürwortet eine Wochenarbeitszeiterhöhung eingeklinkt, während er bei der Rente mit 70 vorsichtig ist. Letztere sei nicht leicht umzusetzen, ersteres schon. Das bestätigt ein Blick ins Arbeitszeitgesetz. Für die Umsetzung einer 42-Stunden-Woche müssten Tarif- und Arbeitsverträge angepasst werden – nicht aber das Gesetz selbst. Denn das erlaubt generell eine Woche mit bis zu 48 Arbeitsstunden.

Rente mit 70 nicht Teil des Koalitionsvertrags

Für eine Erhöhung des Rentenalters müsste durchaus ein Gesetz verändert werden. Eine solche Veränderung möchten die Regierungsparteien aktuell nicht auf den Weg bringen, denn die Rente mit 70 „sei mit der Lebensrealität vieler Menschen in Deutschland nicht vereinbar“, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Mai zur Funke Mediengruppe. Einer der Gründe: Bestimmte Jobs – gerade körperlich anstrengende – könnten im hohen Alter nicht mehr ohne Gefahr ausgeführt werden. Steigen wird das Rentenalter in den kommenden Jahren dennoch: Die aktuelle Rechtslage sieht vor, die Rente ohne Abschläge bis 2029 von derzeit 65 auf 67 Jahre anzuheben.

Doch Menschen können auch mit dem Beginn ihrer Rente als Fachkräfte fungieren und sich mittels einer Nebentätigkeit etwas zur Pension dazuverdienen. Das wurde durch die coronabedingte Sonderregelung Hinzuverdienst attraktiver. Konnten Rentnerinnen und Rentner vor der Corona-Pandemie nur 6.300 Euro brutto jährlich hinzuverdienen, durften sie seit 2020 bis zu 44.590 einnehmen, ohne eine Rentenkürzung befürchten zu müssen. Ob die Regelung auch 2023 gelten wird, ist derzeit unklar.

Zu den größten Kritikern einer Arbeitszeitverlängerung gehören Gewerkschaften – und das schon seit Jahrzehnten. Sie setzten sich mit Slogans „Samstags gehört der Vati mir!“ in den Sechziger Jahren für eine Fünf-Tage-Woche ein und hat sich seitdem an dem Motto orientiert „Mehr Zeit zum Leben“. „Längere Arbeitszeiten, egal, ob innerhalb einer Woche oder am Ende des Erwerbslebens – sind der fadenscheinige Versuch, die Herausforderung von Arbeitssicherung und Fachkräftemangel auf dem Rücken der Beschäftigten zu stemmen“, sagte Anja Piele, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds, der RP-Online.

Oftmals arbeiten Beschäftigte jetzt schon mehr als 40 Stunden

Auch ob eine offizielle Erhöhung der Arbeitszeit auf eine 42-Stunden-Woche wirklich hilft, die Arbeitskraft von fehlendem Personal zu ersetzen, ist aufgrund der bereits geleisteten Überstunden fraglich: Wie Zahlen des Statistischen Bundesamts belegen, arbeitet ein Großteil der Angestellten in der Bundesrepublik inoffiziell bereits mehr als 40 Stunden. Demnach machen 4,5 von 37,8 Millionen Beschäftigten in Deutschland jede Woche Überstunden. Zwei Drittel davon sogar mehr als fünf Stunden wöchentlich.

Laut Kritikern der Arbeitszeiterhöhung belastet das die Mitarbeitenden und erhöht die Gefahr von negativem Stress und Burnout. Außerdem passe der Vorschlag nicht in die Zeit und zu den Bedürfnissen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die nach einem nicht von der Arbeit dominierten Leben strebten. Familienfreundlich sei die 42-Stunden-Woche auch nicht, was den Fachkräftemangel nach Meinung von Ronja Ebeling noch verstärken könnte. Die Beraterin und Generation-Z-Expertin schreibt auf Linkedin: „Wenn Wirtschaft und Politik nicht wollen, dass sich der demografische Wandel in Zukunft fortsetzt oder gar verstärkt, sollten sie alles daran setzen, ein familien- und frauenfreundliches Arbeitsumfeld zu schaffen. Eine 42-Stunden-Woche und geplante Überstunden sind leider das komplette Gegenteil.“

Mit einer 42-Stunden-Woche würde Deutschland eine entgegengesetzte Richtung als andere europäische Länder einschlagen. So testen mehr als 70 Unternehmen in Großbritannien gerade die Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden und folgen damit Island, das ein ähnliches Arbeitszeitmodell vor rund drei Jahren getestet hat. Insgesamt 86 Prozent der Arbeitnehmer in Island haben nun kürzere Arbeitszeiten oder zumindest die Möglichkeit dazu. Und auch Arbeitgeber in der Bundesrepublik haben diesen Weg eingeschlagen, etwa der Maschinenbauer Wenzel oder der Hotelbetreiber 25hours.

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Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.