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„Die klassische Zielgruppe ist tot“

Frühstück mit viel Inhalt: Rund 70 Gäste lauschten der Podiumsdiskussion Beats & Breakfast; Bild: Meinestadt.de
Frühstück mit viel Inhalt: Rund 70 Gäste lauschten der Podiumsdiskussion Beats & Breakfast; Bild: Meinestadt.de

Beatboxing ist eine Kunstform, bei der man vieles gleichzeitig tun muss. Nur mit einem Instrument, dem menschlichen Mund, ersetzt der Beatboxer viele andere Instrumente. Ähnlich wie ein Smartphone also, das inzwischen diverse andere Geräte überflüssig gemacht hat, vom Taschenrechner über das Navigationsgerät bis zum Desktopcomputer. Dementsprechend war es passend, dass ein Beatboxer den Auftakt einer Podiumsdiskussion zum Thema Mobile Recruiting machte, die am Rande der Messe „Zukunft Personal“ in der Kölner Kunstbar stattfand.

Das Konzept der Veranstaltung, die das Onlineportal > Meinestadt.de in Kooperation mit der Personalwirtschaft ausrichtete: „Beats & Breakfast“. Während der Beatboxer die rund 70 Teilnehmer in der Bar mit Rhythmen versorgte, gab es – passend zur Veranstaltungszeit morgens um halb neun – ein Frühstücksbuffet. Und Inhalte: Der Hauptpunkt des Morgens war ein Gespräch zwischen sechs Experten zum Thema Mobile Recruiting. Diskutiert wurde über die grundsätzlichen Fragen, die das Thema für die HR-Branche mit sich bringt: Brauchen wir das wirklich? Und falls ja: Wann werden wir es brauchen? Und wie sollen wir es vernünftig umsetzen?

Differenzierte Perspektive nötig

„Wir leben in einem Zeitalter, in dem fast jeder Mensch ein Smartphone hat“, sagte Georg Konjovic, der Geschäftsführer von Meinestadt.de. Viele junge Bewerber hätten heute gar keine klassischen Rechner mehr. Dementsprechend müsse man sich fragen, wie man die Nutzer auf mobilen Geräten ansprechen kann.

Ein Großteil der DAX-Konzerne hat heute noch keine für den mobilen Gebrauch optimierten Bewerbungsseiten,

bemängelte Konjovic.

Eine Ausnahme ist hier die Allianz, die bereits 2013 ein komplett mobiles Stellenportal aufgebaut hat. Dominik Hahn, der dafür verantwortlich war, mahnte aber zur Besonnenheit bei dem Thema. Etwa 150.000 Leute bewerben sich bei jährlich bei dem Versicherungskonzern. „Sicher, ein paar dieser Leute hätten sich vielleicht sonst nicht bei uns beworben“, sagte Hahn. Aber: „Aktuell werden nur 1,3 Prozent aller Bewerbungen auf dem Smartphone vollendet“, erklärte er. Die restlichen Bewerbungen kämen auf anderen Wegen. Außerdem sei die mobile Bewerbung nicht für alle Zielgruppen geeignet. Nur wenn Bewerbermangel in einem Bereich herrsche, mache Mobile Recruiting als Zusatzmaßnahme Sinn.

Willkommene Abbrüche

Ähnlich sieht es Jo Diercks. Der Geschäftsführer der Beratung Cyquest und Betreiber des „Recrutainment Blogs“ glaubt nicht, dass alles mobil sein muss. „Wir können HR nicht eins zu eins mit dem E-Commerce vergleichen“, sagte er. Dort gehe es darum, möglichst viele Kunden mit dem eigenen Produkt anzusprechen.

Beim Recruiting ist die entscheidende Währung aber nicht Masse, sondern Passgenauigkeit,

so Diercks. Manchmal sei es für HR gar nicht schlecht, wenn gewisse Bewerber den Vorgang abbrechen. Stichwort: Vorselektion.

Ein Punkt, den Dr. Sascha Krause nicht nachvollziehen kann. Krause verantwortet den Bereich Classifieds beim Internetdienstleister Google und blickt damit von außen auf die HR-Szene. „Wenn wir schlechte Bewerbungsprozesse als Mittel sehen, um die Spreu vom Weizen zu trennen, ist das gefährlich“, erklärte er. Auch die Begrenzung des Mobile Recruiting auf bestimmte Zielgruppen hält er in Zeiten immer stärkerer gesellschaftlicher Fragmentierung für falsch: „Die klassische Zielgruppe ist tot.“ Ein bemerkenswerter Satz, heißt es doch in reinen Recruiting-Expertenzirkeln meist, es komme bei der Frage, ob mobile Bewerbungsoptionen erfolgreich sein können, in erster Linie  auf die Zielgruppe an.

Aus Sicht des Kandidaten denken

Professor Dr. Wolfgang Jäger von der Hochschule Rhein-Main hält den Siegeszug von Mobile Recruiting für unaufhaltsam. Viele Kandidaten könnten mit klassischen Bewerbungen einfach nichts mehr anfangen: „Sie bewerben sich auf Stellen in der Industrie 4.0, aber müssen Bewerbungen aus der Welt 1.0 schreiben.“ Personaler müssten ihr Kommunikationsverhalten umstellen. Kurznachrichtendienste wie Whatsapp würden zunehmend an Bedeutung gewinnen. In China sei dies bereits zu beobachten.

Beatboxer MaZn (l.) sorgte für die Beats, Moderator Cliff Lehnen (r.) und seine Expertenrunde für die Inhalte; Bild: Meinestadt.de
Beatboxer MaZn (l.) sorgte für die Beats, Moderator Cliff Lehnen (r.) und seine Expertenrunde für die Inhalte; Bild: Meinestadt.de

„Die Bewerber könnten zum Beispiel die Möglichkeit bekommen, ihre Zeugnisse mit dem Handy zu fotografieren, anstatt sie einzuscannen“, sagte Georg Konjovic und verwies dabei auf die App Talent Hero. Dort können Bewerber den gesamten Prozess in einer App abwickeln. „In sieben Wochen wurden über die App 3.000 Bewerbungen an Unternehmen geschickt“, erzählte er. Der Vorteil einer In-App-Lösung: Die Nutzer können ihre Unterlagen einmal hochladen und haben eine übersichtliche Plattform für die Jobsuche.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Yacine Coco, Gründerin des Karriere-Start-ups Talent Rocket. Die App stellt Juristen verschiedene Arbeitgeber vor und fungiert als Suchmaschine: „Wir setzen den Fokus auf den mobilen Bewerbungsprozess aus Sicht der Kandidaten.“ Einmal angemeldet, hinterlegt der User seine Daten zentral und kann sich mobil auf unterschiedliche Jobs bewerben. „Müsste ich mich heute noch so bewerben wie 2005, bei meinem ersten Praktikum, dann würde ich mich auch wahnsinnig aufregen“, sagte Coco. Schließlich würden Unternehmen von mobilen Angeboten auch selber profitieren: „Mobil gewinnt man viel mehr Informationen über die Bewerber.“

Maschinen können helfen

Gute Erfahrungen mit neuen Kommunikationswegen hat auch Dominik Hahn bei der Allianz gemacht. Dort können Bewerber mittlerweile die Recruiter auch per Whatsapp kontaktieren. Die Nachfrage sei groß, auch weil die Leute es zu schätzen wüssten, wenn sie direkt mit einem Menschen kommunizieren könnten. Ironischerweise führe aber gerade die große Nachfrage dazu, dass man über den Einsatz eines Chatbots nachdenke, um das zusätzliche Arbeitsaufkommen überschaubar zu halten. Denn neue Recruitingwege zu beschreiten, macht zu Anfang vor allem eines: mehr Arbeit.

Wolfgang Jäger setzt dabei mit Blick in die Zukunft voll auf die Unterstützung von HR durch Künstliche Intelligenz: „Eine Vorauswahl durch Maschinen ist mittlerweile technisch möglich.“ Junge Leute hätten damit auch weniger Probleme, weil sie glaubten, dass Computer womöglich gerechter entscheiden als Menschen. Der Nasenfaktor fällt jedenfalls weg. Auch Blogger Diercks hält solche Konzepte für praktikabel. Kritik, dass zum Beispiel Quereinsteiger an Maschinen scheitern könnten, wies er zurück:

Quereinsteiger haben es doch in Deutschland so schwer, weil die Recruiter keine Leute nehmen, die zum Beispiel einen eigentlich für die Stelle unpassenden Abschluss haben.

Langfristig kann sich Diercks vorstellen, dass auf beiden Seiten digitale Helfer den Großteil der Arbeit erledigen. So könnten dann etwa ein Bot im Auftrag des Personalers und ein Bot im Auftrag des Bewerbers schon die Formalitäten des Bewerbungsprozesses klären. „Der Mensch muss dann nur noch zum persönlichen Bewerbungsgespräch erscheinen.“

Das löst bei manchem Beobachter Ängste aus. Aufgabe der Personaler wird es in Zukunft sein, diese abzubauen. „Wir müssen den Leuten die Technik erklären und Vertrauen aufbauen“, erklärte Sascha Krause. Auf keinen Fall sollte das HR daran hindern, Innovationen umzusetzen: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu lange am Alten festzuhalten.“

Die Welt wird smarter

Am Ende der Veranstaltung blieb noch die große Frage, wann mobile Bewerbungen genauso verbreitet und akzeptiert sein werden wie heute bereits Onlinebewerbungen. Die Meinungen darüber gingen auseinander. Am äußeren Ende des Spektrums: Dominik Hahn und Georg Konjovic. Während Hahn das Jahr 2025 nennt, kann sich Konjovic vorstellen, dass es schon 2017 so weit ist. „Die Entwicklungszyklen werden immer kürzer“, erklärte er. „Die Welt wird smarter werden“, erwartet auch Professor Jäger. Auf kurz oder lang führe für Personaler kein Weg am Mobile Recruiting vorbei.

MOBILE RECRUITING: Die sechs wichtigsten Learnings aus der Expertendiskussion
(1) Denken Sie vom Ende her: Wen möchte ich mobil erreichen, und wie kann ich diese Kandidaten am besten ansprechen?
(2) Try & Fail: Personaler sollten Freiheiten bekommen. Wenn ein Ansatz nicht klappt, versuchen Sie den nächsten.
(3) Keep it simple: User möchten nicht, dass ihr Smartphone mit Daten zugemüllt wird. Beschränken Sie sich bei Dateien und Dokumenten auf das Wesentliche.
(4) Mobile Optimierung: Auch wenn Sie nicht online recruiten wollen, sollten Sie zumindest Ihre Bewerbungsseiten für mobile Endgeräte optimieren. So haben Bewerber mehr Möglichkeiten, sich über Ihre Firma zu informieren.
(5) Von Mensch zu Mensch: Bewerber schätzen den persönlichen Kontakt. Geben Sie Ihnen diese Möglichkeit und gehen Sie aktiv auf diejenigen zu, die an Ihrem Unternehmen interessiert sind.
(6)
Mehrarbeit: Mobiles Recruiting bedeutet vor
allem am Anfang zusätzliche Arbeit, weil Bewerbungen auf viel mehr Wegen zu
Ihnen kommen als vorher. Das kann die alten Prozesse im Unternehmen
durcheinander bringen. Langfristig lohnt sich der Aufwand aber.

Autor:
Lars-Thorben Niggehoff, freier Journalist, Köln