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Gegen den Trend

Die betriebliche Ausbildung steht kurz vor der Zerreißprobe. Angesichts sinkender Schülerzahlen und wachsender  Anziehungskraft der akademischen Bildung müssen Unternehmen umsteuern. Einigen gelingt das – wir haben uns angesehen, wie.

Bild: oneinchpunch/istock
Bild: oneinchpunch/istock

„Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal, weltweit. Auch die duale Berufsausbildung genießt einen international hervorragenden Ruf. Umso erschreckender ist der gravierende Ansehensverlust der dualen Ausbildung im eigenen Lande. Jahr für Jahr, heißt es im Berufsbildungsbericht 2017, werden weniger Ausbildungsverträge geschlossen. Dies mit dem demografisch bedingten Rückgang der Schülerzahlen zu begründen, greift zu kurz. Denn umgekehrt schrieben sich zuletzt 508 000 und damit so viele Studienanfänger wie noch nie an den Hochschulen ein. Zwischen 2007 und 2016 ist die Zahl wählbarer Studiengänge von rund 11 000 auf 18 000 gestiegen, berichtet das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Immer mehr Hochschulen werben um Kundschaft. Laut Statista wuchs ihre Zahl seit den 1990er-Jahren um 35 Prozent.
Parallel dazu steigt der Anteil der Azubis mit Studienberechtigung. Seit 2009 wuchs ihr Anteil von 20 auf nunmehr 28 Prozent eines Jahrgangs. Viele von ihnen nutzen die Lehrjahre als Intermezzo bis zum verschobenen Studienbeginn, während Haupt- und Realschülern – für die eine Ausbildung der klassische Einstieg ins Berufsleben ist – oft das Nachsehen bleibt. Wie der Deutsche Gewerkschaftsbund konstatiert, gab es 2016 im dualen System erstmals mehr Studienberechtigte als Hauptschulabsolventen (26,7 Prozent). Zugleich gelingt es Unternehmen immer weniger, ihre Lehrstellen zu besetzen. 43 500 Ausbildungsplätze, immerhin 4,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor, blieben leer.

Stärken und Schwächen offen benennen

„Seit Jahren tut sich ein überwältigend hoher Anteil der Unternehmen schwer, Azubis zu finden“, beobachtet Daniela Gieseler, Inhaberin von AzubiScout in Freudenberg. „Wem es nicht gelingt, Nachwuchs zu gewinnen, der muss sich Fachkräfte teuer einkaufen.“ Doch das setzt überzeugende Strategien voraus, um Jugendliche möglichst früh auf sich aufmerksam zu machen, sie für interessante, zukunftsträchtige Berufe zu begeistern und ihnen schließlich als Nachwuchskräften im Betrieb nicht minder spannende Aufgaben zu übertragen. Beginnen sollten Personaler und Ausbildungsleiter mit einer schonungslosen Analyse: Warum sollte sich eigentlich jemand bei uns bewerben? Wer sich eigener Stärken besinne, erläutert Gieseler, könne die für Jugendliche „attraktiven Facetten“ gezielt an die Zielgruppe kommunizieren. Doch damit tun sich viele Betriebe schwer. Auf die Frage, warum sich ein Jugendlicher bewerben sollte, müssten Personaler die schlagenden Argumente wie ein Ass aus dem Ärmel schütteln. „Oft kommt jedoch nur Wischiwaschi“, sagt die Expertin, die derlei Erfahrungswerte auf dem 2. Deutschen Ausbildungsleiterkongress Ende November in Düsseldorf präsentieren wird.
Was ist zu tun? „Wer seine Mitarbeiter befragt, erfährt viel Wissenswertes“, empfiehlt Karl-Heinz Reitz, Leiter HR Business Partner und Organisationsentwicklung des Kabelnetzbetreibers Unitymedia in Köln. Der ehemalige Technikbetrieb der Deutschen Post hat einen hohen Altersdurchschnitt. Strategisch ist das Buhlen um den Nachwuchs also Pflicht. Weg vom alten Behördenmief, hin zur modernen digitalen Welt, hat die Analyse der Mitarbeiterbefragung ergeben: Eingeladen werden Kandidaten nicht in irgendein „Allerweltsbüro“, sondern ins schicke Medienloft, wo Produkte und Marke laut Reitz „hautnah erlebbar“ sind und in lockerem Plauderton gleich aufs „Du“ umgeschaltet wird. Wertschätzung spiegelt sich auch im Auswahlprozess wider: „Nicht nur wir allein, auch die Kandidaten sollen entscheiden, ob man zueinander passt.“ Gingen Bewerber mit dem Gefühl nach Hause, etwas Besonderes erlebt zu haben, „haben wir viel erreicht“, betont Reitz.

Die eigene Position hinterfragen

Von solchen Bedingungen sind viele Ausbildungsbetriebe jedoch Lichtjahre entfernt. Dennoch lohnt es sich, die eigene Position kritisch auf den Prüfstand zu stellen. So kommen die Fehler ans Tageslicht – aber auch die Potenziale, wie Gieseler berichtet. Jahrelang fand eine Firma aus der Elektrobranche keinen einzigen Auszubildenden. Das musste der Betrieb sich selbst ankreiden. Fehler Nummer eins: Stets wurde dieselbe Stellenanzeige geschaltet. Fehler Nummer zwei: Niemand erfuhr, dass die Firma in einem Teilchenbeschleuniger-Projekt mitmischte, einer aus Sicht der Zielgruppe spannenden Themenwelt. Umgehend sorgten die Berater im Recruiting für frischen Wind und peppten die Inserate mit wichtigen Botschaften auf. Das zahlt sich aus: „Inzwischen bewerben sich mehr Kandidaten als je zuvor. Jedes zweite Profil ist von hoher Qualität“, so Gieseler.

Blicke hinter die Kulissen ermöglichen

Je breiter das Ausbildungsangebot, desto wichtiger ist eine umfassende Information der Jugendlichen. Als ehemalige Abteilung für Aus- und Weiterbildung der Hoechst AG bildet die Provadis GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main jedes Jahr 1400 Jugendliche in 40 Berufen aus. Parallel betreibt das Unternehmen die mit rund 1200 Studenten zweitgrößte duale Hochschule Hessens. Um mit der Zielgruppe ins Gespräch zu kommen, gewährt die Firma nach Angaben von Marketingleiter Karsten Rudolf verschiedene Blicke „hinter die Kulissen“: vom Kennenlernen der MINT-Berufsfelder inklusive Schnupperkurs über Berufsinformationstage für Schüler, Lehrer und Eltern bis hin zu Patenschaften mit Schulen.

Perspektiven für Gehalt und Karriere bieten

Ein Selbstläufer ist das trotzdem nicht. Für viele Jugendliche klingt die Arbeitswelt in der Chemieindustrie ziemlich abstrakt. „Für mich ist das eine Nummer zu hoch“, reden sie sich ein. Erfahren sie aber, dass lediglich 16 Prozent der Beschäftigten Akademiker sind und der überwiegende Teil mit einer betrieblichen Ausbildung ins Berufsleben gestartet ist, „sind sie völlig verblüfft“, so Rudolf. Was ebenfalls zieht: In der Chemiebranche kann man bestens verdienen. Nach Realschule und Ausbildung steigt etwa ein Chemikant inklusive Schichtzulage mit rund 3600 Euro Monatsgehalt ein. Rudolf: „Das schaffen viele Hochschulabsolventen nicht.“
Tief sitzende Vorbehalte kann auch Martin Kaindl, Ausbildungsleiter der Stadt München, nicht einfach ignorieren. Eine Ausbildung in der kommunalen Verwaltung klingt nicht unbedingt nach hipper Arbeitsatmosphäre und coolen Aufgaben. Aber: Azubis sowie duale Studenten erhalten ein vergleichsweise hohes Entgelt. Die Kommune übernimmt nicht nur Studiengebühren, auch Fahrtkosten und Ausbildungsmittel muss niemand aus eigener Tasche bestreiten. Teilweise gibt es für die Zeit der Ausbildung sogar ein Tablet zur freien Verfügung.
Die Stadt München ist stolz auf ihre Ausbildungsquoten. In den letzten Jahren wurde das Angebot an Ausbildungsberufen und dualen Studiengängen in einem ausgewogenen Verhältnis ausgebaut. Für eine Ausbildung bewarben sich zuletzt rund 5700 Personen, allein 4000 für Berufe in Verwaltung und IT. Knapp 1000 Kandidaten erhielten den Zuschlag und begannen im September 2016 ihren Job. Bei Eltern punktet man mit Aspekten wie hoher Sicherheit und beruflichen Aufstiegsperspektiven. „Im Verwaltungsbereich etwa kann man sich schnell zum Fachwirt qualifizieren“, betont Kaindl.
Irrige Annahmen hartnäckig zu bekämpfen und möglichst umfassend zu informieren, ist zweifelsfrei ein anstrengender Job, der sich meist erst langfristig auszahlt. Auch der Run zur Uni ist trotz hoher Abbruchquoten nicht von heute auf morgen aufzuhalten, weiß Provadis-Manager Rudolf. „Oft wird mangelnde Betreuung beklagt, der Student fühlt sich allein.“ In der Ausbildung hingegen werde man vom ersten Tag an „intensiv persönlich betreut“. Aber auch hier wird die Berufswahl nicht immer sorgsam erwogen, Statistiken zufolge bricht jeder dritte Azubi vorzeitig ab. Tests könnten helfen, sich richtig zu entscheiden, raten Experten. Zu empfehlen sei eine Ausbildung allein, wenn der Jugendliche in dem Beruf einen Sinn erkennt und ihm die Arbeit auch Spaß macht.

Kreative Lösungen wagen

Während große Arbeitgeber wie Provadis und die Stadt München im Ausbildungsmarketing über vergleichsweise üppige Ressourcen verfügen, müssen sich die meisten Mittelständler nach der Decke strecken. Jegliche Strategie steht unter Finanzierungsvorbehalt. Bei solchen Bedingungen braucht es engagierte Personaler wie Angelika Teppe. Vor etwa zehn Jahren nahm die Personalleiterin der Almo Erzeugnisse Erwin Busch GmbH in Bad Arolsen an einer Veranstaltung des Arbeitgeberverbands Hessenchemie teil. Als der Referent über eine Kooperation von einigen KMU mit einer Schule im Taunus berichtete, sprang der Funke über: „Für ein nachhaltiges Ausbildungsmarketing mit kleinem Budget braucht man Mitstreiter“, hatte Teppe verstanden und machte sich sofort an die Arbeit. Heute zieht sie gemeinsam mit 60 weiteren Ausbildungsbetrieben an einem Strang.
Soweit ist Alice Kronauer, Personalleiterin der Firma Weck Glaswerk in Bonn, zwar noch nicht. Lediglich auf Messen rückt die Firma mit anderen Betrieben zusammen, um sich als potenzieller Arbeitgeber vorzustellen. Dafür trägt die 2010 geschlossene „Lernpartnerschaft“ zwischen Weck-Glas und einer vor Ort ansässigen Realschule erste Früchte und soll künftig durch weitere Initiativen ergänzt werden. Regelmäßig engagieren sich Firmenvertreter in der Schule, um zum Beispiel in Bewerbungstrainings Vorstellungsgespräche zu simulieren. Zudem werden Betriebsbesichtigungen für neunte und zehnte Klassen organisiert. Mittendrin: Azubis als Botschafter. „Im Dialog mit Schülern und Lehrern zeigen wir auf, welche Vorteile eine betriebliche Ausbildung bietet“, erläutert Kronauer ihre Strategie. „So wirken wir frühzeitig darauf ein, dass der eine oder andere, der sich gedanklich schon auf Abitur und Studium eingestellt hat, vielleicht noch umsteuert.“
Um der umworbenen Zielgruppe möglichst auf „Augenhöhe“ zu begegnen, sollten Ausbildungsbetriebe nicht nur in Schulen präsent sein und auf Messen agieren, sondern auch im digitalen Raum Gesicht zeigen. Wer das „Lebensgefühl“ von Jugendlichen zwischen 14 und 20, das sich zunehmend in sozialen Medien niederschlägt, vernachlässigt, läuft Experten zufolge Gefahr, von der Zielgruppe diskreditiert zu werden. Dagegen arbeitetet die Feinkost Käfer GmbH in München an. Laut Personalleiterin Martina Eberl berichten Azubis per Instagram vorübergehend über ihr persönliches Arbeitsumfeld oder betreiben eigene Youtube-Kanäle.

Die Informationskanäle der Jugend nutzen

Während Martin Kaindl bei der Stadt München derzeit den Einsatz von Virtual-Reality-Brillen testet, um Interessenten auf Messen seine vielfältigen Ausbildungsangebote nahezubringen,, testet die Rewe-Gruppe aktuell den Einsatz der Videobewerbung per App. Inzwischen sei es „vollkommen normal“, per App einzukaufen, zu kommunizieren oder nach Jobs zu suchen, findet Melanie Berthold, Sachgebietsleiterin im Rewe-Kompetenzcenter Employer Branding & Recruiting. Die Schlussfolgerung: „Warum sollte man sich nicht auch per App schnell und einfach bewerben?“ Rewe fand heraus, dass es Schülern viel leichter fällt, ein ansprechendes Video über sich zu produzieren, als ein Bewerbungsanschreiben zu verfassen. Testweise können nun Kandidaten für ausgewählte Ausbildungsplätze in Vertrieb und Logistik ihr Anschreiben durch ein Video ersetzen, wofür sie die App Job Ufo anwenden. Erste Statistiken legen nahe, dass das Tool bei Vertriebsstellen am besten ankommt. Ein Volltreffer, wie Berthold erklärt: „Als Lebensmitteleinzelhändler suchen wir Azubis, die sich gut präsentieren und ausdrücken können. Das ist insbesondere im Umgang mit Kunden wichtig.“
Vergleichbare Erfahrungen sammelt Rabea Grünewald, bei Provadis zuständig für das Ausbildungsmarketing. Warum sie mit Jugendlichen chattet, erklärt sie so: „Die Hemmung, eine offizielle E-Mail oder einen Brief zu schreiben, ist bei ihnen weit größer als sich über Whatsapp auszutauschen.“ Doch im Unterschied zu Rewe werden Online-Tools zur Unterstützung des Prozesses hier nicht genutzt.
Auch die herkömmliche Bewerbung per Post ist noch nicht abgeschrieben. „Nach wie vor schätzen Eltern diesen Weg am vertrauensvollsten ein“, betont Rabea Grünewald. Weil die Entscheidung für eine Ausbildung nicht an den Eltern vorbeiführt, schaltet die Stadt München nach wie vor Print-Stellenanzeigen. Und weil sich auf Ausbildungsmessen immer mehr Eltern über Zukunftsperspektiven ihrer Kinder erkundigen, betreuen erfahrene Kollegen die Messestände.

Neue Zielgruppen ansprechen

Es geht jungen Menschen nicht allein darum, gutes Geld zu verdienen und sich auf allen denkbaren Kanälen Gehör zu verschaffen. Sich sozial engagieren zu können, gehört ebenfalls zum Lebensgefühl vieler Jugendlicher. Während Azubis der Deutschen Telekom Videoclips drehen, um problematisches Verhalten wie Alkoholkonsum oder Vandalismus zu thematisieren, gestalten andere Benefizkampagnen für Knochenmark- und Blutspenden. Knapp 100 Azubis des Chemie- und Pharmakonzerns Merck greifen zu Kelle und Pinsel, um ein ehemaliges Altenheim in eine Flüchtlingsunterkunft umzubauen.
Den Firmen geht es um das Ziel, Azubis zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten heranreifen zu lassen. Wenn Käfer-Azubis ihren Eltern ein Siebengängemenü kredenzen und das dafür eingeheimste üppige Trinkgeld an „Ghetto Kids“ oder Obdachlose spenden oder wenn sie in Kooperation mit der Kindernothilfe Patenschaften für junge Menschen übernehmen, die in ihrer Heimat von deutschen Verhältnissen nur träumen können, dann spricht sich das zudem in Windeseile herum und zieht die richtigen Bewerber an. Soziale Verantwortung können aber auch Betriebe übernehmen und sich so in eine bessere Wettbewerbsposition bringen. Gieseler empfiehlt deshalb, neue Zielgruppen anzusprechen, etwa junge Mütter, die von ihrer Persönlichkeit her Gleichaltrigen „oft weit voraus sind“. Oder Kandidaten, die bereits eine Lehre abgebrochen haben. „In vielen Regionen gibt es Netzwerke aus ehrenamtlichen Akteuren, die sich persönlich der Jugendlichen annehmen und sie erfolgreich durch eine erneute Ausbildung begleiten.“
Und der gute Ruf der deutschen Ausbildung im Ausland macht sich bezahlt. Betriebe, die Jugendliche aus südeuropäischen Ländern anwerben und ausbilden, sammeln zahlreiche positive Erfahrungen. Die Unternehmen berichten von motivierten jungen Leuten, die sich schnell „erstaunlich gute Sprachkenntnisse“ aneignen und mit „unbedingtem Leistungswillen“ zu Werke gehen. Das Qualitätskriterium „Made in Germany“ zieht also auch im Azubi-Marketing.

Autor: Winfried Gertz


Der Beitrag stammt aus dem Titelthema Ausbildungsmarketing der
Personalwirtschaft 06/2017. In der ersten
› „PW Sneak Preview“ hat Christoph Athanas unser Thema analysiert.

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