Frage an die HR-Werkstatt: Wieso sollten wir und wie können wir unser Onboarding inklusiv gestalten?
Es antwortet: Beatriz González Mellídez, Head of Accessibility & Digital Inclusion, Central Europe, bei Atos
15 Prozent der Menschen leben weltweit mit einer Beeinträchtigung körperlicher und/oder geistiger Natur. In Deutschland lag der Anteil beeinträchtigter Menschen im Jahr 2019 bei 10,4 Millionen, etwa 9,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Viele davon sind unsichtbare Behinderungen, und viele Menschen wissen nicht, dass sie mit einer Behinderung leben oder sind spät im Leben erst diagnostiziert.
Im Zuge der Digitalisierung entstehen auf der anderen Seite ständig neue Stellen, die besetzt werden wollen – doch es mangelt an Fachkräften. Schätzungen von Bitkom zufolge bleiben alleine in Deutschland 96.000 IT-Stellen unbesetzt. Betriebe können es sich daher schlicht nicht mehr leisten, qualifizierte, aber beeinträchtigte Mitarbeitende nicht einzustellen.
Aber auch jenseits des Fachkräftemangels bringt die Inklusion von Menschen mit Behinderungen Vorteile: Sie weisen beispielsweise gegenüber Unternehmen, die ihre Arbeitsumgebungen ihren Bedürfnissen anpassen, eine hohe Loyalität sowie Arbeitsmoral auf. Nicht zuletzt bringen sie neue Sichtweisen und Erfahrungen mit in die Unternehmen, von denen ihre Kolleginnen und Kollegen profitieren können.
Technische Hilfsmittel zum inklusiven Onboarding
Die technischen Möglichkeiten, um Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsalltag zu inkludieren, sind in den letzten Jahren zahlreicher und ausgefeilter geworden. Sie beginnen bei einfachen Screenreadern, die Texte auf Bildschirmen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung vorlesen und reichen bis zu Augmented-Reality-Lösungen.
Für Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen onboarden wollen, lohnen sich diese fünf Lösungen ganz besonders:
1. Textverarbeitung und digitale Assistenten
Dies schließt jene Screenreader ein, die sehbeeinträchtigten Personen die Arbeit mit Texten erleichtern, indem sie Schrift in gesprochene Sprache umwandeln. Auch der umgekehrte Weg in Form von Diktiersystemen ist erprobt. Mittlerweile sind die Lösungen so ausgefeilt, dass sie nicht mehr auf bestimmte Sprecherinnen oder Sprecher trainiert werden müssen und sofort einsatzbereit sind. Darüber hinaus sind sie problemlos in Anwendungen integrierbar, die typischerweise im Arbeitsalltag in Benutzung sind (Betriebssysteme, Textprogramme, Browser und so weiter). Sie helfen nicht nur dabei, Texte zu erstellen, auch Anweisungen zur Software-Bedienung wie “Öffne den Browser/Texteditor” können sie verarbeiten.
Die Weiterentwicklung stellen Natural-Language-Processing-Lösungen (NLP) dar, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) auch indirekte Befehle auswerten und umsetzen können. Sie sind dabei nicht auf Desktops und andere Endgeräte beschränkt, sondern lassen sich auch zur Gebäudeautomatisierung nutzen, beispielsweise, um Zugang zum Gebäude zu erhalten oder einen Aufzug zu rufen. Die Verarbeitung von Sprache zu Text lässt sich auch in virtuellen Meetings in Form von Echtzeituntertiteln bewerkstelligen. Dennoch sollten Schriftdolmetscher für wichtige Themen einbezogen werden. Sie können mittlerweile auch in virtuelle Meeting-Software integriert werden.
2. Biometrische Zugangssysteme
Für einige Menschen mit Behinderungen stellen Zugangssysteme mit physischen Schlüsseln, Passwörtern und Zahlencodes eine Hürde dar. Sie können etwa die zur Eingabe notwendige Tastatur nicht korrekt bedienen. Neben den oben genannten digitalen Assistenten unterstützen hier biometrische Zugangssysteme in Form von Fingerabdrucksensoren oder Gesichtserkennung. Sie lassen sich mit einer einfachen Berührung oder einem kurzen Blick in eine Kamera bedienen.
Neben der Inklusion bieten diese Systeme einen weiteren Vorteil: Sie sind bei weitem sicherer als Passwörter oder Zahlencodes, da sie eine höhere Fälschungssicherheit aufweisen. Zudem lassen sich biometrische Informationen nicht auf Zettel schreiben, die in die Hände unberechtigter Dritter gelangen könnten. Unternehmen, die solche Zugangssysteme implementieren, treiben so nicht nur ihre Inklusionsbemühungen voran, sie stärken auch die Unternehmenssicherheit.
3. Technische Unterstützung für Menschen mit Neurodiversität
Menschen, die sich im Spektrum der Neurodiversität verorten, haben häufig Probleme damit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, sind dafür aber umso engagierter, sobald sie sich einer solchen ganz widmen. Für diese Menschen gibt es Lösungen, die Ablenkungen im Arbeitsalltag reduzieren. Funktionen wie ein „Reader Mode“ oder „Immersive Reader“ in der Textverarbeitung und in Web-Browsern reduzieren Bilder und Werbung oder blenden aktuell nicht benötigte Teile der Benutzeroberfläche aus. Somit ergibt sich ein klar sichtbarer Text ohne zusätzliche Elemente, der Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit nicht ablenkt. Man kann auch durch KI Sprachparts in Grammatikoptionen aufheben, und sogar automatisierte Übersetzung von Text und Bildwörterbuch sind vorhanden.
4. Augmented & Virtual Reality (AR & VR)
Was vor ein paar Jahren noch Zukunftsmusik war, wird in Zeiten immer leistungsfähigerer und günstigerer Hardware zur Realität: Smartphones können mit Hilfe ihrer Kameras und entsprechenden Anwendungen zusätzliche Informationen zur Umgebung in Echtzeit auf ihrem Bildschirm darstellen. Darüber hinaus können sie sehbehinderten Menschen dabei helfen, Schilder, Pläne und Anzeigen zu verstehen, indem sie den geschriebenen Text in Sprache umwandeln – inklusive einer Übersetzung in die eigene Sprache. AR-Brillen gehen einen Schritt weiter und blenden wichtige Informationen für Hörbehinderte direkt ins Sichtfeld ein. Das können im Unternehmensalltag Arbeitsanweisungen und Nachrichten sein, aber auch Notfallinformationen (Alarme, Weg zum nächsten Fluchtpunkt/Notausgang) lassen sich so direkt allen Kolleginnen und Kollegen vermitteln.
5. Haptische Lösungen
Zahlreiche Blinde lesen die Braille-Schrift, in der viele Zeitschriften und Bücher gedruckt werden. Für die Arbeit am Computer gibt es sogenannte Braillezeilen, die 40 Zeichen eines Textes in die ertastbare Schrift übersetzen. Erfahrene Braille-Leser können damit eine hohe Lesegeschwindigkeit erreichen und dabei sogar die Rechtschreibung prüfen. Zusammen mit dem Einsatz einer entsprechenden Braille-Tastatur sind blinde Menschen in der Lage, Texte nicht nur zu schreiben, sondern auch zu redigieren.
Zusatztipp: Inklusion beginnt schon vor dem Onboarding
Die oben genannten fünf Technologien helfen bei der Inklusion von Mitarbeitenden mit Behinderungen im Unternehmen und unterstützen sie dabei, ihre Aufgaben kreativ und produktiv durchzuführen. Aber was ist mit neuen Talenten, die noch nicht unterschrieben haben? Auch bei der Suche von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt es, die Technik als Inklusionshelfer mitzudenken: Dies beginnt schon bei Stellenanzeigen, die gegebenenfalls in einfacher Sprache gehalten sein sollten.
Ein wichtiger Punkt für neurodiverse Kolleginnen und Kollegen im Bewerbungs- und Einstellungsprozess ist es, zu verstehen, dass Körpersprache, wie zum Beispiel zu viel Bewegung, kein Augenkontakt oder dergleichen, nicht immer einen direkten Zusammenhang mit dem Interesse eines Bewerbers oder einer Bewerberin hat. Wenn man KI zur Analyse von Bewerbungsvideos einsetzen, muss darauf geachtet werden, dass man niemanden deswegen diskriminiert: Die Unternehmen müssen überwachen und darüber berichten, wie KI-gestützte Einstellungsinstrumente geschult werden und ob sie dabei die Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention einhalten.
Da in einer Remote-Arbeitswelt Bewerbungsgespräche immer häufiger virtuell stattfinden, sollten Entscheiderinnen und Entscheider darauf achten, dass inklusive Technologien nicht nur bereits eingestellten Beschäftigten zur Verfügung stehen: Eine Bewerberin oder ein Bewerber hat in den seltensten Fällen eine Lizenz samt barrierefreier Add-Ons. Daher müssen Unternehmen hier vorausplanen und eventuelle Präferenzen antizipieren, um allen die gleichen Chancen geben zu können.
Autor
Beatriz González Mellídez ist Expertin für inklusive Benutzererfahrung (User Experience), kommt aus Spanien und wohnt in Köln. Sie ist zertifizierte Fachkraft für Web-Barrierefreiheit (Internationaler Verband der Barrierefreiheitsexpert*innen, IAAP) und User Requirements Engineer (UXQB’s CPUX-FL und CPUX-UR). Sie verfügt über 20-jährige Berufserfahrung als UX-Beraterin, Webdesignerin und Front-End-Entwicklerin in mehr als 10 Ländern und in 5 Sprachen. Ihre besonderen Interessen liegen in den Bereichen barrierefreie Innovation, IoT für alle und kulturübergreifendes Design.