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Recruiting jenseits des 100%igen fachlichen Fits: So geht’s

Frage an die HR-Werkstatt: Wie finden wir auch heute noch die am besten passenden Kandidatinnen und Kandidaten?
Es antwortet: Silvia Hänig, Inhaberin der Kommunikationsberatung iKOM

Spätestens seit dem Tag, an dem auf eine ausgeschriebene Stelle nur noch zwei anstatt zehn Bewerbungen beim Unternehmen eingehen, dürfte auch dem letzten Recruiter und der letzten Recruiterin klar sein: Die nahezu 100-prozentige Passung zwischen Stelle und Kandidatenprofil gibt es nicht mehr.

Das idealtypische Stellenprofil, das sich hauptsächlich aus fachlichen Qualifikationen und ein paar persönlichen Stärken zusammensetzt, erodiert immer mehr. Und zwar branchenübergreifend in ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während im Bereich der technischen Jobs die fachliche Passung vergleichsweise hoch ist, müssen Bewerbende im Baugewerbe oder kaufmännische Sachbearbeiter mit rund 40 Prozent noch nicht einmal zur Hälfte für die Position qualifiziert sein.

Passung zwischen Bewerber und Job erodiert

Diese Ergebnisse hat das Institut der deutschen Wirtschaft in Zusammenarbeit mit der Personalberatung Hays für 279 unterschiedliche Berufsbilder im Zeitraum von 2018 bis 2022 anonymisiert ausgewertet. Insgesamt wird dabei deutlich, dass neue Mitarbeitende heute berufsbildübergreifend weitaus weniger auf eine Stelle passen müssen, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Beziffert wird die durchschnittliche Passung dabei mit 60,5 Prozent im Jahr 2018 und 58,4 Prozent in 2021 – ein Rückgang von immerhin gut 2 Prozentpunkten.

Dieses schleichende Auseinanderklaffen von Bewerberprofilen und Stellenanforderungen macht dem Recruiting zunehmend Probleme. Denn einerseits geht es darum, möglichst schnell eine offene Position zu besetzen, und mit einem Stellenprofil möglichst viele Kandidatinnen und Kandidaten anzusprechen, andererseits braucht es ganz bestimmte Fähigkeiten, um den Job überhaupt erfolgreich machen zu können. Rückblickend sind also unzählige Unternehmen innerhalb der vergangenen drei Jahre schon dazu übergegangen, ihre Stellenanforderungen zu lockern. 

Zu wenig Fokus auf qualitative Bewerberauswahl

Aber darf ein zunehmender Mismatch in der Konsequenz dazu führen, dass fachliche Anforderungen immer weiter gesenkt werden? Oder sollten Personalabteilungen die schwindende Passung besser dazu nutzen, mehr Gewicht auf individualisierte Auswahlverfahren zu legen, um bisher unberücksichtigte Job-Potenziale der Bewerbenden zu identifizieren?

Eine klare Antwort darauf hat die Wissenschaft. „Trotz einer hohen Fachkräftenot wäre es falsch, die Qualität der Personalauswahl generell zu senken. Ganz im Gegenteil, je weniger geeignete Personen in einer Bewerberstichprobe anzutreffen sind, desto valider muss das Verfahren sein, um die entsprechenden Personen auch noch identifizieren zu können“, sagt Prof. Dr. Uwe Kanning von der Hochschule Osnabrück. Seiner Ansicht nach ist das vielen Personalern nicht wirklich bewusst, da tendenziell zu wenig Fokus auf strukturierte Auswahlverfahren gelegt wird. „Das Vorgehen einer qualitativ hochwertigeren Auswahl in Zeiten der Arbeitskräfteknappheit scheint auf den ersten Blick eher kontraintuitiv.“

Stellenprofile passen nicht zur Lebensrealität der Kandidaten

Der starke Fokus auf die reine Bewerberanzahl sowie die mangelnde Qualität bei der Personalauswahl zeigt sich laut Kanning vor allem an folgenden Praktiken: Viele Personalverantwortliche nehmen sich keine Zeit mehr für erprobte Anforderungsanalysen. Im Gegenteil: Sie denken sich die fachlichen und persönlichen Anforderungen für eine Position einfach aus. Frei nach dem Motto: Viel hilft viel. Oder es wird sich an formalen Standards aus der Ratgeberliteratur orientiert. Diese Angaben korrespondieren dann aber ebenso wenig mit fachlicher und persönlicher Eignung eines Kandidaten.

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Die mühsam entwickelte Jobbeschreibung hat also in der Tendenz immer weniger mit den Vorstellungen eines Bewerbenden von einer sinnvollen Beschäftigung zu tun, die zur eigenen Lebensrealität passt. Und das nicht nur bei den begehrten Talenten erster Wahl. Wer sich trotz hoher fachlicher Eignung im Stellengesuch nicht „wiederfindet“, wird auch nicht in den Bewerbungsprozess einsteigen. Dem sollte die Rekrutierung entschieden entgegentreten, wenn horrende Budgets nicht verpuffen sollen. Grob gesagt, geht es darum, die Stellenprofile zugunsten der Kompetenzen der Bewerbenden aufzubrechen.

Stellenprofile haben zu starken Vergangenheitsbezug

Wie genau das geht, erläutert die Chefin des Tandem-Anbieters Twise, Dr. Nina Gillmann: „Wir beobachten, dass der abnehmende Job-Match hausgemacht ist“, sagt die Unternehmerin, deren Geschäft es ist, Frauen und Männern über ein Tandem-Modell eine Vollzeitkarriere zu ermöglichen. „Da die meisten Stellenbeschreibungen starken Vergangenheitsbezug zur klassischen Ausbildung haben, spielen die Herausforderungen, die eine zu besetzende Position künftig haben wird, kaum eine Rolle.

Das wiederum hat laut Gillmann zur Folge, dass sich auf die Positionen nur Kandidaten bewerben, die sich maßgeblich auf diese vergangenen beruflichen Erfahrungen stützen. Menschen, die sich in eine neue Position hineinentwickeln möchte, bleiben außen vor. Aber genau diese Kandidaten zu erreichen, die sich vorstellen könnten, sich ein neues Aufgabengebiet oder einen neuen Karrierepfad zu erschließen, darauf wird es in einem klammen Arbeitsmarkt ankommen.

Persönlicher Fit wird unterschätzt

Bei der Auswahl kommt es daher vor allem auf die Interessen und Fähigkeiten der Bewerbenden an. „Unsere Kandidatinnen wollen mit dem Jobwechsel auch einen persönlichen Entwicklungsschritt machen. Es geht vor allem um neue Arbeitsumfelder und auch Führungsverantwortung“, sagt Gillmann. Die Facette des Persönlichkeits-Matchs wird weitgehend unterschätzt. Aber genau damit sollten sich Recruiterinnen und Recruiter verstärkt beschäftigen. Fehlt es nämlich beispielsweise an der nötigen Fachkompetenz, lässt diese sich in den meisten Fällen mit entsprechenden Weiterbildungsoptionen oder Personalentwicklungsmethoden kompensieren.

Im Bereich der Persönlichkeit sieht das allerdings völlig anders aus. Hier ist es wichtig, dass Personalentscheider eine klare Vorstellung davon haben, wo die persönlichen Stärken und Fähigkeiten des Bewerbenden liegen. „Konkret geht es darum, über einen Persönlichkeits-Match herauszufinden, wie entwicklungs- oder veränderungsbereit Menschen sind“, so Nina Gillmann. „Ob sie wirklich bereit und in der Lage sind, sich schnell wichtige Führungsvoraussetzungen für eine neue Rolle anzueignen.“ Hier braucht es dringend ein neues Verständnis und reflektiertes Vorgehen für einen erfolgreichen Job-Match entlang gelebter Karrierepfade der Kandidaten.

Auf Potenziale statt auf Erfahrungen setzen

Zielgruppen wie Frauen in Teilzeit, oder Menschen, die aus ihrem bisherigen Job in einen anderen wechseln, brauchen Stellenprofile, die sie in ihren Karriere- und Entwicklungsambitionen ansprechen. Wer sich dem verschließt, und weiter angestammte Bewerbungsraster bedient, wird Schwierigkeiten haben, mittel- und langfristig als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. „Wir müssen weg von ‚hiring for experience’, hin zu ‚hiring for potential’“, fordert Nina Gillmann.

Wenn Bewerbende und Job künftig zueinanderpassen sollen, braucht es erweiterte Indikatoren für einen Job-Fit, die neben Fachlichkeit, vor allem Persönlichkeit und Entwicklungsbereitschaft von Kandidaten einschließen. „Für unsere Tandem-Positionen fokussieren wir die gezielte Abfrage von Interessen und Fähigkeiten, jenseits des klassischen CVs. Dazu sichern wir diese Talente durch ein flexibles Arbeitsmodell. Hier schlummert noch ein gigantisches Bewerber-Potenzial, das beim aktuellen Mismatch brach liegt, schlussfolgert die Unternehmerin.

Erweitern Unternehmen also ihre Stellenanforderungen um flexible Arbeitsmöglichkeiten und wählen Kandidatinnen und Kandidaten dezidiert nach Interessen, Vorstellungen und Werten aus, können sie gleichzeitig ihren Pool um neue Zielgruppen ergänzen, die womöglich über die rein fachliche Qualifizierung gnadenlos durch das Raster gefallen wären.

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