Malte Spitz, Digitalexperte und Netzpolitiker, veröffentlichte 2017 ein Buch mit dem Titel „Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts“. Auch Personalmarketing und Recruiting werden von Daten bestimmt. Als Fundament unterstützen sie die verantwortlichen Akteure dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Data Driven Recruiting kann helfen, passende Kandidatinnen und Kandidaten ausfindig zu machen, den Recruiting-Prozess zu optimieren oder Vorschläge für geeignete Media-Kanäle zu unterbreiten.
Entscheidungen sind nicht immer rational
Das bedeutet allerdings nicht, dass die Bewerberinnen und Bewerber immer und zu jeder Zeit auch rationale Entscheidungen treffen. Diese Erkenntnis führt zu der Frage, ob Talente ihre Arbeitsplatz- und Arbeitgeberentscheidungen als rein rationales Wesen treffen und inwieweit die Ratio – und damit das Bewusstsein – auf dem Weg zur Entscheidung für oder gegen einen Arbeitgeber überhaupt eine Rolle spielt.
Weitgehender Konsens scheint in der Wissenschaft dahingehend zu existieren, dass der Mensch zwei Wahrnehmungssysteme besitzt: das Bewusstsein und das Unterbewusstsein. Ebenfalls scheint man sich einig darüber zu sein, dass auf das menschliche Gehirn pro Sekunde elf Millionen Reize einströmen, davon aber jeweils nur 40 Reize im Bewusstsein ankommen. Von diesen 40 Reizen wiederum überdauern nur diejenigen, die als lohnend wahrgenommen werden, mehr als 30 Sekunden und bleiben im Gedächtnis.
Diese Überlegungen aus den Neurowissenschaften führen zu der konkreten Frage, was Personalmarketing und Recruiting tun muss, um unbewusste Prozesse bewusst zu machen. Hierzu wurde das Modell des Talent-Activation-Index entwickelt.
Der Talent-Activation-Index
Der Talent-Activation-Index geht von der Annahme aus, dass die Aktivierung von Zielgruppen durch Neugierde entsteht. Informationsangebote müssen immer zunächst eine Aufmerksamkeit bei Rezipientinnen und Rezipienten erzeugen. Diese Aufmerksamkeit wird erreicht, wenn ein Impuls des jeweiligen Informationsangebotes als reizvoll wahrgenommen wird, und zwar innerhalb von Millisekunden.
Fühlt sich beispielsweise der Rezipient beziehungsweise die Rezipientin durch eine Karrierewebsite oder eine Stellenanzeige angesprochen oder „gereizt“, folgt der zweite Schritt: Der Rezipient beziehungsweise die Rezipientin prüft, ob die transportierten Informationen und Impulse für ihn oder sie relevant sind. Nur ein als relevant wahrgenommener Kontext übt auch eine wirkliche Anziehung aus. Ist die Anziehung und damit die Bereitschaft gegeben, sich mit dem Informationsangebot intensiver zu beschäftigen, müssen die Informationen von der Zielgruppe zusätzlich als lohnend bewertet werden. Erst dann erfolgt eine tiefergehende Auseinandersetzung.
Zusammenfassend basiert das Modell auf der Arbeitshypothese, dass die unterschiedlichen Informationsangebote von Personalmarketing und Recruiting ihr Ziel nur dann erreichen, wenn sie von Kandidatinnen und Kandidaten als „reizvoll“ (= Aktivierung/Aufmerksamkeit), „relevant“ (=Anziehung) und „rentabel“ (=Auseinandersetzung mit den Inhalten) wahrgenommen werden. Der Talent-Activation-Index fasst diese drei Faktoren zusammen und gibt als Kennzahl Auskunft darüber, wie hoch die Anziehungskraft von Informationsangeboten durch Arbeitgeber im Rahmen der Candidate Journey ist.
Informationsangebote auf der Karriere-Website
Im Rahmen der Studie zum Talent-Activation-Index wurde von September 2022 bis Februar 2023 die HR-Kommunikation von 165 Institutionen des öffentlichen Dienstes in den Clustern Kliniken/Krankenhäuser, Entsorgungsbetriebe, gesetzliche Krankenkassen, Energieversorger/Stadtwerke, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sowie Kommunal- und Stadtverwaltungen untersucht.
Gegenstand der Untersuchung waren die Informationsangebote der jeweiligen Institutionen auf der Karriere-Website, in Stellenanzeigen sowie bei Instagram, Linkedin, Xing und Kununu. Da verschiedene Zielgruppen Informationen unterschiedlich wahrnehmen –Unterschiede also darin bestehen, was spezifische Zielgruppen als „reizvoll“, „relevant“ und „rentabel“ betrachten – erfolgte die Untersuchung gesondert für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Professionals.
Reizvoll, relevant und rentabel
Über alle Informationsangebote hinweg zeigt die Studie, dass der r1-Index („reizvoll“: Aktivierung, Aufmerksamkeit) immer dann hohe Werte erreichte, wenn die jeweiligen Informationsangebote einer Corporate Identity und einem Corporate Design folgten, ein strukturiertes Layout aufwiesen und professionelle, zur Zielgruppe passende Bilder enthielten. Auch deutliche Hervorhebungen von besonderen Inhalten und neu- und/oder andersartige Darstellungsformen und -formate wurden von den Rezipientinnen und Rezipienten als überdurchschnittlich reizvoll empfunden.
Der r2-Index („relevant“: Anziehung) entwickelte sich stets dann positiv, wenn die für die Zielgruppe wirklich relevanten und wichtigen Informationen sinnvoll auf den Punkt gebracht wurden und schnell zu finden waren. Weiter wirkte sich der unmittelbare zielgruppenspezifische Zugang –die Aufbereitung und Rubrizierung von individuellem Content– positiv auf den r2-Index aus.
Beim r3-Index („rentabel“: Auseinandersetzung mit den Inhalten) zeigte sich, dass nicht, wie ursprünglich erwartet, Einzelinhalte und/oder die Aufbereitung der Information als solche die Einschätzung über die Rentabilität positiv beeinflussten, sondern dass insbesondere der benötigte Zeitaufwand ausschlaggebend war: Je weniger Zeit für die Auseinandersetzung mit den relevanten Inhalten benötigt wurde, desto rentabler wurde das Informationsangebot eingeschätzt.
ZDF, enercity und Barmer mit höchstem Index
Die Institutionen des öffentlichen Dienstes, die im Sinne des beschriebenen Modells den höchsten Talent-Activation-Index verzeichnen, sind das ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen), enercity (Hannover) und die Barmer Krankenkasse. Beim Einzel-Index r1 („reizvoll“) konnte sich enercity (Hannover) auf Platz eins durchsetzen, gefolgt von der Barmer Krankenkasse und der Berliner Sparkasse.
Wenn es um die Relevanz ging (r2-Index), belegten das ZDF, die Kaufmännische Krankenkasse und die Hamburger Wasserwerke die ersten drei Plätze. Im r3-Index schließlich konnten das ZDF, die Norddeutsche Landesbank sowie die Stadt Köln besonders überzeugen.
Neben den oben genannten Gesamt- und Teilergebnissen wurden für alle untersuchten Institutionen weitere Indizes (unter anderem Kanal-Index und Zielgruppen-Index) ermittelt, analysiert und ausgewertet. Das vorläufige Ergebnis: Das Modell des Talent-Activation-Index ist im ersten Schritt grundsätzlich dazu geeignet, unternehmensspezifische Schwachstellen aufzudecken und entsprechende Optimierungsmaßnahmen abzuleiten.
Ferner zeigte sich, dass der kanalübergreifende konsistente Einsatz eines Corporate Designs den Talent-Acivation-Index positiv beeinflussen kann. Ebenfalls wurde deutlich, dass Qualität vor Quantität geht: Anstatt sämtliche Netzwerke und Medien zu bespielen, sollten Institutionen eine bewusste Auswahl von Kanälen vornehmen und diese dann kontinuierlich und professionell mit karriererelevanten Informationen „bespielen“.
Info
Weitere Erkenntnisse und Ausführungen zur Studie werden am 04. Mai 2023 auf der SYMpublic in Berlin – dem Symposium für Arbeitgeber im öffentlichen Dienst – vorgestellt.
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.