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Diversity-Recruiting: Die eigenen Vorurteile besiegen

Was gibt es beim Diversity-Recruiting zu beachten? (Foto: Prostock-Studio - Stock.adobe.com)
Was gibt es beim Diversity-Recruiting zu beachten? (Foto: Prostock-Studio – Stock.adobe.com)

Mitarbeitende sollen sich voneinander unterscheiden – so das neue Kredo in der Unternehmenswelt. Diversity ist zum Trendthema geworden, eine diverse Belegschaft zum Ziel vieler Personalverantwortlichen. Dabei ist Diversität ein Gewebe aus zahlreichen Elementen und Ebenen, wie die Initiative Charta der Vielfalt beschreibt, und weit mehr als die Frauenquote im Vorstand. So spielen neben Vielfalt der ethnischen Herkunft und sexuellen Identifikation auch Elemente, wie Persönlichkeitsaspekt, die soziale Herkunft, Familienstand, die Dauer der Unternehmenszugehörigkeit und die Art der Ausbildung eine Rolle.

Die Grundprinzipien von Diversity im Unternehmenskontext haben es in die öffentliche Debatte der HR-Welt wohl nie in einer solchen Intensität geschafft, wie derzeit. Das hat einen Grund: Der Fachkräftemangel in vielen Branchen macht es essenziell, Talente außerhalb der bisherigen Zielgruppe zu finden. Zudem gibt es einen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen der Diversität der Belegschaft und wirtschaftlichem Erfolg. „Unternehmen mit einem divers aufgestelltem Topmanagement haben eine 25 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein“, sagt Victoria Wagner, Gründerin und CEO der Diversitätsinitiative Beyond Gender Agenda.

Am Anfang der Reise

Und trotzdem bleibt es vielerorts beim verbalen Bekenntnis. Bei der Entwicklung und Durchführung konkreter Pläne und Aktionen, wie diverse Teams rekrutiert werden können, tun sich einige schwer. Denn sie müssen sich mit der eigenen Voreingenommenheit und der der Führungsetage sowie der Belegschaft auseinandersetzen. Und den (unconscious) Bias zu erkennen sowie ihn bestmöglich abzubauen ist keine angenehme Aufgabe.

Diversity-Recruiting wird oftmals falsch verstanden, sagt Olga Thiel, Diversity- und Inclusion-Expertin. (Foto: privat)
Diversity-Recruiting wird oftmals falsch verstanden, sagt Olga Thiel, Diversity- und Inclusion-Expertin. (Foto: privat)

„In vielen Unternehmen steckt das diverse Recruiting und das Verständnis für die Themen Diversity und Inclusion noch in den Kinderschuhen“, sagt Olga Thiel, Diversity- und Inclusion-Expertin aus der Schweiz. Dabei sei die Definition von Diversity-Recruiting ganz leicht: „Es geht immer noch darum, den besten Kandidat oder die beste Kandidatin für die Rolle zu finden, aber es sollen alle Bewerbenden unabhängig von ihrem Hintergrund eine faire Chance bekommen.“ Wer das einmal erkannt habe und von den Vorteilen diverser Teams überzeugt sei, würde als Unternehmen und Recruiting-Team oft in großen Schritten vorwärtsgehen und nötige Veränderungen anstoßen, hat Thiel beobachtet.

Orientierung an Zahlen

Der Software-Konzern SAP kann zu diesen Unternehmen gezählt werden. Dort bemühen sich Eva Löwenberg, COO Global Talent Attraction, und ihr Team – die Talent Attraction Organisation – darum, möglichst diverse Talente zu rekrutieren. Dabei fokussiere man sich vor allem darauf, ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen und mittels Tracking und KPIs (Key Performance Indicators) sich selbst und die Führungskräfte hinsichtlich (unconscious) Biases zu prüfen. Um die Recruiting-Prozesse zahlenbasiert analysieren zu können, bedarf es im ersten Schritt klarer Definitionen von Zielen und Erfolgskriterien.

Laut Eva Löwenberg, COO Global Talent Attraction bei SAP, sollte bei jedem Recruiting-Schritt darauf geachtet werden, alle Talentgruppen anzusprechen. (Foto: SAP)
Laut Eva Löwenberg, COO Global Talent Attraction bei SAP, sollte bei jedem Recruiting-Schritt darauf geachtet werden, alle Talentgruppen anzusprechen. (Foto: SAP)

So hat es sich SAP zum Ziel gemacht, bis 2030 eine Genderparität im Unternehmen zu haben. Derzeit liegt der Frauenanteil im Unternehmen etwa bei 40 Prozent. Um die Prozentzahl zu erhöhen, hat die Talent Attraction Organisation bei SAP in Zusammenarbeit mit den Businessverantwortlichen beschlossen, die Panels für Vorstellungsgespräche gendergemischt zu halten. Je nach Bereich sei dies nicht immer möglich, oft aber schon. Ob das Ziel erreicht wird, müsse gemessen werden. Und das tun neben SAP noch die wenigsten Unternehmen. Laut dem German Diversity Monitor 2021 von Beyond Gender Agenda setzen sich rund 26 Prozent der Unternehmen messbare Ziele.

Daran müssten konkrete Maßnahmen gekoppelt werden, sagt Löwenberg. Wie viele andere Unternehmen auch setzt SAP hier auf ein entsprechendes Branding. Dazu kommt eine sehr bewusste Gestaltung der Stellenausschreibung. „In den Stellenanzeigen versuchen wir, gezielt mit inklusiver Sprache und Darstellung unterschiedlichste Talentgruppen anzusprechen“, sagt Löwenberg. „Dabei orientieren wir uns an den Fragen: Was interessiert sie? Welche Formulierungen sprechen nur bestimmte Zielgruppen an und müssen daher vermieden werden? Haben wir sie auf unserer Karrierewebseite abgebildet und die Barrieren für sie so niedrig wie möglich gehalten, um sich zu bewerben?“

Eine gezielte Präsenz in den virtuellen und physischen Räumen der Zielgruppe sei zudem essenziell. „Wir suchen nach Events, auf denen wir mit der Zielgruppe in Kontakt kommen können“, sagt Löwenberg. Um an die jeweilige Zielgruppe so nah wie möglich heranzukommen, gebe es im Recruiting-Team von SAP seit Anfang 2021 ein sogenanntes Talent Intelligence Team, das sich genau anschaue, wie der Markt in welchem Bereich aussieht und wo sich welche Talente verbergen.

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Auch eine KI kommt in den SAP-Niederlassungen außerhalb Deutschlands zum Einsatz, um diverses Recruiting zu gewährleisten. Sie schaut sich alle Profile der Kandidatinnen und Kandidaten nach Fähigkeiten und Kompetenzen an, gleicht diese mit einem zuvor erstellten Anforderungsprofil ab und leitet aus Begriffen teilweise auch andere Skills und Qualifikationen ab. So werden Recruiterinnen und Recruiter dabei unterstützt, mögliche unbewusste Bewertungen zu umgehen und sich auf die meist qualifiziertesten Bewerbenden zu fokussieren.

Doch eine KI ist aus finanziellen oder datenschutzrechtlichen Gründen nicht immer eine Option. Deshalb hat Olga Thies einen generellen Tipp: „Lassen Sie die persönlichen Daten der Kandidatinnen und Kandidaten bei der Analyse weg.“ Bei anonymen Daten sei es einfacher, eine neutrale Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Selbstanalyse und Wissensaneignung

Recruiter müssen sich zunächst mit den eigenen Vorurteilen beschäftigen, ist Andisheh Ebrahimnejad, Verantwortliche für People, Structure & Processes beim Pflege-Start-up Kenbi, überzeugt. (Foto: privat)
Recruiter müssen sich zunächst mit den eigenen Vorurteilen beschäftigen, ist Andisheh Ebrahimnejad, Verantwortliche für People, Structure & Processes beim Pflege-Start-up Kenbi, überzeugt. (Foto: privat)

Auf die menschliche Seite mit all ihren Voreingenommenheiten beim Recruiting achtet auch Andisheh Ebrahimnejad, Verantwortliche für People, Structure & Processes beim Pflege-Start-up Kenbi. Sie zeigt, dass auch jenseits von Konzernen diverses Recruiting möglich ist, auch ein Start-up kann seinen Fokus darauf richten: „Man muss immer bei sich selbst anfangen“, sagt Ebrahimnejad, die sich auch außerhalb ihres Unternehmens als Mitgründerin der Initiative „Love HR, hate Racism“ für Gleichberechtigung einsetzt. Denn: „Oftmals spielt der erste Eindruck oder das eigene Bauchgefühl eine wichtige Rolle bei der Auswahl. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dabei voreingenommen sind, ist sehr hoch.“ Beim ersten Eindruck würden Talente oftmals schnell anhand von Erlerntem und Erlebtem eingeordnet und bewertet werden, wobei wir sie kategorisierten, ohne den Mensch dahinter wirklich als Individuum wahrzunehmen.

„Recruiter und Recruiterinnen müssen sich darüber bewusst sein und im nächsten Schritt den eigenen Bias bekämpfen“, sagt Ebrahimnejad. Dafür sollten sie sich mit Theorien des Unconcious Bias beschäftigen, sich selbst analysieren und immer auf dem neusten Forschungsstand zum Thema sein. Das Erlernte solle dann an die Geschäftsführung und das Team weitergegeben werden.

Das erfordere Mut. „Diversity und alles, was dazugehört, ist für viele immer noch ein unangenehmes Tabuthema und wird daher bewusst oder unbewusst vermieden“, sagt Ebrahimnejad. Doch HR müsse das Risiko eingehen, abgewiesen zu werden oder in zunächst ungemütliche Auseinandersetzungen zu geraten. Neben dem wirtschaftlichen Aspekt ginge es schließlich auch um die Menschlichkeit, darum, jeden und jede fair zu behandeln und sie wertzuschätzen.

Unterstützung von anderen Abteilungen nötig

Das Bewusstsein für beide Aspekte muss nicht nur im Recruiting-Team vorhanden sein, sondern im ganzen Unternehmen. Schließlich wird die finale Kandidatenwahl von der Führungskraft oder der Fachabteilung getroffen. Bei SAP wird deshalb laut Eva Löwenberg festgehalten, wie viele nicht der Norm entsprechende Talente zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurden, wie viele es auf die Shortlist geschafft haben und wie viele schließlich eingestellt wurden. Die Ergebnisse werden – wenn nötig – mit den Managern besprochen, um ihnen ihre möglicherweise eigenen Vorurteile zu spiegeln und sie dafür zu sensibilisieren.

Victoria Wagner, Gründerin und CEO der Diversitätsinitiative Beyond Gender Agenda, betont den Zusammenhang zwischen Vielfalt und wirtschaftlichem Erfolg. (Foto: Anne Wirtz)
Victoria Wagner, Gründerin und CEO der Diversitätsinitiative Beyond Gender Agenda, betont den Zusammenhang zwischen Vielfalt und wirtschaftlichem Erfolg. (Foto: Anne Wirtz)

Hier wird sichtbar, dass Diversitätsbemühungen kein Alleingang des Recruiting-Teams sein können, auch wenn die Verteilung des Diversity-Budgets anderes vermuten lässt. Laut dem German Diversity Monitor 2021 stellen rund 70 Prozent der Unternehmen Gelder für Aktionen zur Förderung von Diversität bereit. 84 Prozent davon gehen an das Recruiting. Dabei ist Diversity ein Kraftakt des ganzen Unternehmens – schließlich handelt es sich um eine Kulturänderung. Das betont auch Victoria Wagner: „Die Erhöhung von Diversität alleine, ohne in die Maßnahmen zur Inklusion der Mitarbeitenden zu investieren, bringt wenig Nutzen. Entscheidend ist es, ein inklusives Arbeitsumfeld zu schaffen, das vom gesamten Unternehmen gelebt wird.“

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.