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Der Recruitingprozess ist ein Wettbewerb


Herr Wagener, zahlreiche Unternehmen beklagen den derzeitigen Personalmangel. Trotz der gegenwärtigen Krisen scheint sich dieser Trend festzusetzen. Hat sich der Arbeitsmarkt von der Konjunktur abgekoppelt?

Nils Wagener: Absolut, und diese Entwicklung ist bemerkenswert. In der Vergangenheit war es immer so, dass der Arbeitsmarkt stark von konjunkturellen Schwankungen abhängig war. Befand sich die Wirtschaft in einer Krise, bedeutete das auch steigende Arbeitslosenzahlen, weil viele Unternehmen Personal abbauten und kaum noch einstellten. Das ist in dieser Krise erstmals anders.

Trotz Ukraine-Krieg, Pandemie und Inflation kommt kaum ein Unternehmen auf die Idee, die Recruiting-Bemühungen zurückzuschrauben. Ganz im Gegenteil: Der Mangel an geeigneten Arbeitskräften ist so massiv, dass die Mitarbeitersuche erstmals von wirtschaftlichen Problemen abgekoppelt ist. Denn der Arbeitskräftemangel ist ein demografisches Problem, das die Unternehmen weltweit in den nächsten Jahren sehr beschäftigen wird. Man kann also auch hier von einer Zeitenwende sprechen.

Wie äußert sich diese Situation im Verhältnis zwischen Kandidat:innen und Unternehmen?

Wagener: Mit dieser neuen Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern grundlegend verändert. Die Zeiten, in denen Arbeitgeber den Bewerbungsprozess alleinig bestimmten, gehören endgültig der Vergangenheit an. Das haben wir erst dieses Jahr im Rahmen einer Bewerber-Studie mit mehr als 1000 Teilnehmenden analysiert.

Demnach sagen mittlerweile nach einem Vorstellungsgespräch mehr Bewerberinnen den ausschreibenden Unternehmen ab als umgekehrt. Der Blick auf die Fälle, in denen beide Parteien nicht zusammenfanden, zeigt: 34 Prozent der Kandidat:innen sagten bei den Unternehmen ab, während nur jeder Fünfte (19 %) eine Absage vom Arbeitgeber erhielt. Unternehmen stehen also einem Paradigmenwechsel im Bewerbungsprozess gegenüber und müssen sich verstärkt Gedanken darüber machen, wie sie sich selbst bei den Kandidat*innen bewerben. Stellenanzeigen und Karriereseiten sind nicht länger Angebote. Sie sind Bewerbungsschreiben – vom Arbeitgeber in Richtung Bewerbende.

Wie gehen die Kandidaten mit dieser für sie eher vorteilhaften Situation um?

Wagener: Kandidaten sind in erster Linie Beschäftigte, die aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus rekrutiert werden müssen. Das bedeutet: Der Marktwert der Kandidaten steigt und diese kennen ihren Wert ganz genau. Das äußert sich auch darin, dass die Wechselbereitschaft in Deutschland ansteigt.

So sind derzeit laut des quartalsweise erhobenen Jobwechselkompass genau ein Drittel der Beschäftigten offen für einen Jobwechsel. Besonders auffällig: Vor allem junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren sind überdurchschnittlich offen dafür. 47 Prozent von ihnen hegen aktuell den Wunsch zur beruflichen Veränderung – 14 Prozent mehr als der altersübergreifende Mittelwert aller Teilnehmenden. Die auffällig hohe Wechselbereitschaft ist verbunden mit einem hohen Selbstbewusstsein der Kandidat:innen. So liegt der Anteil derjenigen, die sich selbst gute oder sehr gute Chancen bei einem Jobwechsel ausrechnen, bei aktuell 61 Prozent.

Was können Arbeitgeber tun, um dieser schwierigen Lage zu begegnen?

Wagener: Unternehmen sollten den Bewerbungsprozess wie bereits angedeutet so verstehen, dass sie es sind, die sich bei Kandidat:innen bewerben. Eine Bewerbung wird zur Dienstleistung an den Kandidaten. Wer das am schnellsten umsetzt, hat größere Chancen, die besten Talente zu gewinnen. Es ist also wichtig, die eigenen Recruitinginstrumente so umzustricken, dass sie diesem Anspruch genügen.

Es gilt: überzeugendes Employer Branding anstatt ellenlangen Anforderungsprofilen. Zudem müssen Arbeitgeber verstehen: Der Recruitingprozess ist ein Wettbewerb. Umworbene Talente suchen sich aus, bei wem sie arbeiten möchten. Diese Erkenntnis mag auf den ersten Blick wenig überraschen, denn wie gesagt, es suchen immer mehr Unternehmen immer weniger zur Verfügung stehende Talente. Trotzdem verlaufen weite Teile der Mitarbeitersuche noch zu wenig wettbewerbsorientiert. Wer seine arbeitgeberseitigen Wettbewerber kennt, weiß, wie er sich von diesem differenzieren kann – hinsichtlich möglichst vieler Arbeitskriterien, angefangen bei der Arbeitszeit über das Gehalt bis hin zu Karriereperspektiven und Benefits. Und diese Differenzierungsmerkmale gilt es in Stellenanzeigen, in Direktansprachen und auf Karrierewebsites auf den Punkt zu bringen.

Folgende Whitepaper der KÖNIGSTEINER Gruppe zum Kandidatenmarkt können Sie kostenfrei downloaden: