Der Mittelstand besticht als Rückgrat der deutschen Wirtschaft durch innovative Produkte und Flexibilität. Zugleich kennzeichnen ihn kontinuierliches Arbeiten und Bodenständigkeit – Eigenschaften, die sich auch in seiner Vergütungspraxis wiederfinden. Gerade Inhaber kleinerer Familienunternehmen entscheiden über Vergütung gerne nach eigenem Gutdünken. Das Resultat ist häufig ein wenig strukturiertes Entgeltgefüge, das die Entscheider zwar für richtig halten, das aber bei genauem Hinsehen Defizite bei Effizienz und Effektivität hat. Mittelständische Betriebe denken bei der Vergütung oft erst dann um, wenn die Personalkosten aus dem Ruder laufen oder Fachkräfte vermehrt zu Wettbewerbern abwandern. Eine systematische Funktions- und Leistungsbewertung als Basis für die Vergütung kann hier helfen.
Wie viel ein mittelständischer Arbeitgeber seinen Beschäftigten zahlt und welche Vergütungsbausteine er ihnen anbietet, richtet sich zunächst danach, ob er als Mitglied eines Branchenverbands an einen Tarifvertrag gebunden ist. Bis heute prägen Tarifverträge das Lohn- und Gehaltsniveau in vielen Wirtschaftszweigen – ungeachtet des anhaltenden Rückzugs vieler Unternehmen aus der Tarif- und Verbandswelt. In Deutschland gelten derzeit Flächentarifverträge für über 250 Branchen. Sie finden sich in den großen Zweigen wie der Metall- und Elektroindustrie ebenso wie in kleineren Bereichen. Über 5.000 Unternehmen haben firmeninterne Tarifverträge ausgehandelt, vor allem mittelständische Betriebe.
Insgesamt existieren derzeit über 50.000 Tarifverträge hierzulande. Davon stehen 6.000 bis 7.000 Verträge pro Jahr zur Neuverhandlung an. Rund 70 Prozent aller Arbeitnehmer arbeiten in Betrieben mit einer Tarifbindung. Im Einzelnen unterliegen drei Viertel der westdeutschen und knapp zwei Drittel der ostdeutschen Beschäftigten geltenden Tarifverträgen.
Jenseits der Tarifbindungen bietet der Mittelstand im Vergütungsmanagement ein heterogenes Bild. Viele Betriebe mit bis zu 5.000 Mitarbeitern führen lediglich die klassische Entgeltabrechnung durch, verzichten aber auf eine systematische Funktions- und Leistungsbewertung sowie auf eine strukturierte Vergütungsarchitektur. Das Personalcontrolling steckt dort oft noch in den Kinderschuhen. Personalleiter in kleineren Unternehmen verantworten neben der Entgeltabrechnung weitere Funktionen im Personalmanagement, sie sind aber keine Experten für Zeitwertkonten oder Flexible Benefits.
Größere Mittelständler, die nicht nur auf dem regionalen oder bundesweiten Arbeitsmarkt agieren, sondern auch international rekrutieren, sind hier schon weiter. Sie unterhalten häufig hochprofessionelle Fachabteilungen für die Vergütung. Hier arbeiten oft Spezialisten für Compensation & Benefits, die zuvor für Großkonzerne oder Personalberatungen tätig gewesen waren, ehe sie in den Mittelstand gewechselt sind. Häufig administrieren sie eine ganze Unternehmensgruppe, sowohl die inländischen als auch die internationalen Gesellschaften mit ihren verschiedenartigen Vergütungsmodellen.
Gerade in der ersten Zeit nach einem M&A-Deal existieren separate Personalabteilungen und unterschiedliche Vergütungsstrukturen noch eine Zeit lang fort, vor allem bei internationalen Übernahmen. Dann beginnt die Integrationsarbeit. Viele Muttergesellschaften geben ihren Töchtern zumindest Richtlinien für die Vergütung vor, um zum Beispiel die Prinzipien für Bonuszahlungen auf der Basis gleichartiger Key-Performance-Indicators (KPI) gruppenweit zu vereinheitlichen. Internationale Tochtergesellschaften behalten dadurch einen abgesteckten Handlungsspielraum, innerhalb dessen sie ihre Vergütungspakete eigenständig ausgestalten dürfen.
Bonuszahlungen beäugen Mittelständler eher kritisch, ebenso variable Vergütung. Lieber finanzieren sie ihren Beschäftigten Weiterbildungsmaßnahmen oder eröffnen ihnen interne Karrierechancen. Doch die Globalisierung des eigenen Geschäfts und die Nachfrage internationaler Mitarbeiter treiben die Einführung variabler Komponenten voran. Im Vergleich zu Großkonzernen sind Vergütungspakete im Mittelstand einfacher gestrickt und enthalten weniger Bausteine. So kommen Prämien oder Tantiemen zur Auszahlung, sobald feste Grenzwerte für den Umsatz oder das Ebitda erreicht sind. Belohnt werden eher kollektive Ergebnisse, weniger individuelle Leistungen.
Wendepunkt ERA-TV
Ein erster Umbruch in der Vergütungslandschaft mittelständischer Betriebe liegt elf Jahre zurück. 2003 markierte die Einführung des Tarifvertrags über das Entgelt-Rahmenabkommen (ERA-TV) in der Metall- und Elektroindustrie einen Wendepunkt. Mit dem ERA-TV war das Hauptziel verbunden, die Grenzen zwischen Arbeitern und Angestellten beim Entgelt zu beseitigen, die Strukturen zu vereinheitlichen und damit die Vergütung gerechter zu gestalten. Den tarifgebundenen Unternehmen wurde erstmals eine einheitliche und dadurch vergleichbare Arbeitsbewertung vorgegeben. Viele Betriebe begannen damals erstmals, methodisch zwischen Produktionsmitarbeitern, Teamleitern und Topführungskräften zu segmentieren.
Druck auf die veraltete Vergütungspraxis mancher Arbeitgeber entstand nicht nur von oben, sondern auch von unten. Der technische Fortschritt und der Einsatz neuer Technologien haben in den Betrieben einen Bedarf an neuartigen Kompetenzen und damit neue Funktionsprofile entstehen lassen. Der Mittelstand benötigt hochqualifizierte Mitarbeiter für Schlüsselfunktionen auf der zweiten und dritten Führungsebene. Kurzfristig lassen sich solche Fach- und Führungskräfte nur aus Großunternehmen anwerben. Dort haben sie zumeist moderne Vergütungsmodelle kennengelernt und erwarten diese auch von ihrem neuen Arbeitgeber. „Führungskräfte mit einer Konzernvergangenheit fordern im Erfolgsfall nicht nur Bonuszahlungen, sondern nehmen auch gerne Long Term Incentives mit“, berichtet ein Comp & Ben-Experte, der in seiner Berufskarriere schon mehrere Unternehmen durchlaufen hat.
Vergütung nach dem Bauchgefühl
Gerade kleinere Familienbetriebe ohne Tarifbindung zeigen wenig Interesse daran, ihr Vergütungsmodell neu zu strukturieren. Ihr Lohn- und Gehaltsgefüge ist bis heute durch interne Hierarchien und durch eine Vergütungspraxis „aus dem Bauch heraus“ geprägt. Davon abzuweichen und die Mitarbeiter nach neuen Prinzipien zu bezahlen, würde das Betriebsklima stören.
Auch wissen manche Unternehmer und Geschäftsführer im Mittelstand nicht, wie sie eine Leistung definieren sollen, die eine Prämie wert ist. Mancher Topentscheider sieht es schon als Spitzenleistung an, wenn ein Beschäftigter regelmäßig pünktlich am Arbeitsplatz erscheint. Ein anderer unterlegt die Bewertung individueller oder kollektiver Leistungen ausschließlich mit Kennzahlen. Ein dritter Geschäftsführer bestreitet generell, dass die Arbeit seiner Mitarbeiter überhaupt zusätzlich vergütet werden sollte: „Spitzenleistungen, die einen Bonus rechtfertigten, gibt es bei uns nicht.“ In allen drei Fällen sind sich die Entscheider nicht des Unterschieds zwischen der Bewertung einer Arbeitsleistung und der Werthaltigkeit einer Funktion und der darin erbrachten Leistung bewusst.
Häufig begründen Familienunternehmer ihre Vergütungspraxis mit der Unternehmenskultur und dem Fairnessgedanken. Für sie sind nur einheitliche Lohn- und Gehaltserhöhungen denkbar. Der Aspekt, Mitarbeiter und Teams über Incentives zu überdurchschnittlichen Leistungen zu motivieren, kommt dabei zu kurz. In vielen mittelständischen Betrieben stellen sich die Verantwortlichen kaum die Frage, welche Ziele sie durch Vergütung erreichen wollen und welche Perspektiven sie den Mitarbeitern eröffnen wollen.
Gerade langjährige ältere Mitarbeiter genießen oft zusätzliche Besitzstände und sind damit besser gestellt als Kollegen in der gleichen Funktion, aber mit kürzerer Betriebszugehörigkeit. Vom Senioritätsprinzip kann sich der Mittelstand nur schwer trennen. Zwar hat der ERA-TV das Senioritätsprinzip etwas aufgeweicht. Doch in den meisten Betrieben außerhalb der Tarifvertragsbindung gilt die Regel: Je länger ein Mitarbeiter dabei ist, desto mehr verdient er, ungeachtet der individuellen Leistung. Zwar ist vielen Geschäftsführern bewusst, dass dieses Prinzip weder sinnvoll noch gerecht ist.
Doch Gesellschafter-Geschäftsführer wie auch angestellte Manager halten lieber an einer fehlerbehafteten, aber funktionierenden Vergütungspraxis fest, als durch Neuerungen interne Unruhe zu riskieren. Neu strukturierte Vergütungsmodelle entfalten ihre positive Wirkung erst nach einigen Jahren, wenn ein Teil der älteren Belegschaft aus dem Unternehmen ausgeschieden ist und der Anteil der Mitarbeiter steigt, die nach den neuen Prinzipien vergütet werden. Ein solcher evolutionärer Prozess dauert vielen Managern zu lange. Sie wollen kurzfristige Wirkungen erzielen und begnügen sich damit, das bestehende Modell hier und da zu reparieren, ohne die Grundfehler zu beseitigen. „Ich bin für die Geschäftsergebnisse verantwortlich, die ich in diesem und im nächsten Jahr erziele, nicht für die Erfolge meiner Nachfolger“, argumentiert der Geschäftsführer eines mittelständischen IT-Unternehmens in Düsseldorf. Lieber akzeptiert er stillschweigend gleiche Gehaltsrunden und alte Besitzstände, als ein neues Vergütungssystem einzuführen, für das er keine Lorbeeren ernten wird.
Im Mittelstand kommen die große Nähe zwischen den Entscheidern und Mitarbeitern sowie die unmittelbare Verknüpfung von Planung und Umsetzung hinzu. Ein Geschäftsführer, Personalleiter oder Leiter Comp & Ben muss seine Pläne für die Neugestaltung des Gehaltsgefüges im direkten Gespräch gegenüber den Familiengesellschaftern und dem Betriebsrat, oft auch gegenüber den Mitarbeitern beim Mittagessen in der Kantine verteidigen. Der Gesellschafterrat will genau erfahren, welche Vorteile die angedachten Veränderungen bringen und wie viel sie kosten sollen. Im Mittelstand vollziehen sich solche Grundsatzentscheidungen also unter der direkten Anteilnahme vieler Menschen. Die Mitarbeiter wollen zeitnah darüber informiert werden, was geplant wird, und die Geschäftsführung ist gut beraten, den Informationsbedarf zu bedienen, um falsche Gerüchte zu vermeiden.
Abschied vom Paternalismus
Ungeachtet der Vorsicht bei Veränderungen in sensiblen Bereichen wächst im Mittelstand die Einsicht, im Personalmanagement Veränderungen vornehmen zu müssen. Besonders wichtig ist, genauer zwischen Mitarbeitern mit sehr guten Leistungen und solchen, die dauerhaft unterdurchschnittlich performen, zu differenzieren. Die paternalistische Grundhaltung vieler Familienunternehmer führte in der Vergangenheit – zum Teil auch noch heute – häufig dazu, dass Mitarbeiter trotz permanent nicht zufriedenstellender Arbeitsleistungen allein aufgrund eines engen persönlichen oder gar verwandtschaftlichen Verhältnisses mitgeschleppt wurden. Die geringe Rentabilität der Personalkosten, die schwache Performer verursachen, fällt den Betrieben letztlich wieder auf die Füße.
Deshalb sollten auch kleinere Mittelständler damit beginnen, ihre Mitarbeiter leistungsbezogen zu bewerten und das Vergütungsmanagement nach Funktionsgruppen auszurichten. Dadurch kann ein Unternehmen für seine Personalkosten eine bessere Performance erzielen. Beispielsweise lassen sich strategische Ziele über Bonuszahlungen, die auf einen bestimmten Mitarbeiterkreis beschränkt sind, besser erreichen als über die gleiche Lohnerhöhung für alle Beschäftigten.
Effektive Entgeltsysteme, die auf einer Funktions- und Leistungsbewertung aufbauen, müssen nicht aufwendig sein. Als zentrales Instrument für die Bewertung dienen Mitarbeitergespräche in den Fachbereichen. Die Personalabteilung muss die Fachbereichsleiter vorab instruieren und in die Lage versetzen, Mitarbeitergespräche zielorientiert zu führen und ein qualifiziertes Feedback zu geben. Dabei gilt das Augenmerk nicht nur der aktuellen Position eines Mitarbeiters, sondern seinem ganzen Lebenszyklus im Unternehmen, dem Employee Life Cycle, beginnend mit der Einstellung. Das Resultat der Mitarbeiterbewertung sollte ein differenzierter und qualifizierter Überblick über die Funktion und die Performance jedes einzelnen Beschäftigten sein. Häufig wird erst dabei transparent, wie abhängig ein Unternehmen von einzelnen Mitarbeitern ist, die die Träger des relevanten Wissens sind.
Im nächsten Schritt sollten die Entscheider die verschiedenen Fachkarrieren, die im Unternehmen vorhanden sind, in einem Vergütungsmodell abbilden. Damit bekommen die Verantwortlichen im Unternehmen ein Instrument an die Hand, um beispielsweise brachliegendes Potenzial für signifikante Produktivitätsfortschritte zu heben. Verfügt ein Unternehmen also über die Mittel zur Bewertung von Funktionen und Mitarbeitern, kann es klare Verknüpfungen zwischen dem Grad der Funktionsausfüllung und der Entgeltentwicklung herstellen und Geschäftsziele über die Vergütung steuern.
Interne und externe Vergleichbarkeit herstellen
Neben der internen Neustrukturierung sollten die Betriebe auch den Wettbewerb im Auge behalten. Mancher Mittelständler stimmt die Vergütung, die er seinen Beschäftigten zahlt, zu wenig auf das marktübliche Entgeltniveau ab – mit der Folge, dass er, gemessen an den Benchmarks, zu viel oder zu wenig zahlt. Die Transparenz der Vergütung ist im Mittelstand ohnehin relativ gering. Natürlich tauschen sich die Vorstände und Geschäftsführer einzelner Branchen untereinander aus, und natürlich existieren Vergütungsdatenbanken und Studien der Beratungsgesellschaften, der Kammern und Verbände.
Doch solche Daten zu einzelnen Berufsgruppen lassen sich nicht beliebig auf ein Unternehmen übertragen. Tatsächlich lässt sich am Markt für die Vergütung einer Funktion jeweils eine Spanne mit einer Ober- und einer Untergrenze für das Grundgehalt und gegebenenfalls weitere Vergütungskomponenten und Nebenleistungen feststellen. Ein Beispiel: Betriebsingenieur ist eine gängige Funktionsbezeichnung, doch in der Praxis verbergen sich dahinter unterschiedliche Anforderungen an Kompetenzen und Verantwortungen. Je nachdem, ob es sich dabei um eine nachgelagerte Tätigkeit oder um das Profil eines Topleistungsträgers handelt, wäre die Funktion unterschiedlich zu vergüten.
Disziplin, Kommunikation und Vorbildfunktion sind gefordert
Selbst die besten Bewertungs- und Vergütungsmodelle scheitern, wenn es an Systemdisziplin im Betrieb mangelt, wenn neue Modelle boykottiert und nicht gelebt werden. Deshalb tragen die Geschäftsführung, die Personalleiter und die Fachbereichsleiter eine doppelte Verantwortung. Zum einen müssen sie die Neuerungen intern frühzeitig, verständlich und vollständig kommunizieren und alle Betroffenen einbinden.
Zum anderen kommt ihnen eine Vorbildfunktion zu. Das Topmanagement sollte sich selbst keine Extras genehmigen, die nicht in das Gesamtgefüge passen. Andernfalls würden die Mitarbeiter auf den nachgelagerten Ebenen dies als Aufforderung deuten, den eigenen Spielraum maximal auszunutzen. Solchen Praktiken kann von Anfang an eine zentrale, autonome Steuerung vorbeugen, die unterbindet, dass sich in einzelnen Fachbereichen durch Budgetzuweisungen kleine Fürstentümer bilden und etablieren.
Dr. Guido Birkner
verantwortlicher Redakteur Comp & Ben, F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH