Frau Adelhardt und Herr Dr. Jasper, was ist für Sie das Besondere am bAV-Preis 2021?
Susanna Adelhardt: Das Besondere am diesjährigen bAV-Preis ist, dass er nichts Besonderes war – im positiven Sinne. Die Pandemie haben wir im Wettbewerb und bei den Einreichungen überhaupt nicht gemerkt.
Thomas Jasper: Dem kann ich zustimmen. Ungewöhnlich war aber die Preisverleihung, die in diesem Jahr pandemiebedingt erstmals digital stattfand. Hinterher konnten wir beobachten, dass die Preisträger ihre Auszeichnungen noch viel mehr als in der Vergangenheit über die sozialen Medien mitgeteilt haben. Das veranschaulicht, dass die betriebliche Altersversorgung gerade jetzt eine große Rolle spielt. Wir müssen die Gesundheits- und Wirtschaftskrise meistern, und zugleich steht die bAV auf der Agenda der Unternehmen. Wir haben uns in diesem Jahr sogar über mehr Bewerber für den Preis als in den vergangenen Jahren gefreut. Gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen gab es tolle Preisträger, wie die Jury in ihrem Fazit „Die Kleinen kommen ganz groß raus“ betont. Die betriebliche Altersversorgung ist ein komplexes Thema, und gerade in den kleinen und mittleren Unternehmen stehen hierfür in der Regel keine spezialisierten Fachkräfte zur Verfügung. Deshalb brauchen diese Betriebe Beratung und Unterstützung von außen, um zu erfahren, wie sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch ein kluges Vorsorgemodell viel Gutes tun können. Und sie brauchen einfache Lösungen, die leicht zu kommunizieren und zu verstehen sind.
Welchen Einfluss hat die COVID-19-Pandemie generell auf die bAV?
Susanna Adelhardt: In meinem Unternehmen Evonik lässt sich aus den Aussagen vieler Mitarbeiter entnehmen, dass die betriebliche Altersversorgung seit dem Ausbruch von Corona deutlich an Wahrnehmung und an Wertschätzung gewonnen hat. In der Pandemie brauchen die Beschäftigten ihren Dienstwagen kaum noch, einen Gymnastikkurs können sie sich auch im Internet suchen, aber die betriebliche Altersversorgung überdauert die Zeit und bleibt. Im Lockdown ist den Mitarbeitern bewusst geworden, was auf lange Sicht für sie wirklich wichtig ist, auch unter den Benefits des Arbeitgebers. Der Benefit, der die Pandemie am besten überdauert, ist die bAV. Uns bei Evonik haben viele Anfragen aus der Belegschaft zur Altersvorsorge erreicht. Die Menschen wollten wissen, wie sie ihre Vorsorge optimieren können und – natürlich auch – welche Auswirkungen Corona auf ihre bAV hat. Wir haben im Konzern eine rückgedeckte Unterstützungskasse, die neben dem Evonik-Konzern auch Arbeitgebern, die nicht mehr zum Evonik-Konzern gehören, offen steht. Von dort haben uns andere Fragen erreicht. Es ging etwa darum, ob sich in der Krise Arbeitgeberbeiträge zur bAV einfrieren oder verschieben lassen. Wie beeinflusst die Zahlung von Kurzarbeitergeld die Beiträge zur bAV? Wie kann das Unternehmen den Aufwand kurzfristig reduzieren und Pensionsverpflichtungen so strecken, dass das zur angepassten Geschäftspolitik passt?
Thomas Jasper: Die Pandemie hat die Unternehmen sehr unterschiedlich getroffen. Aktuell haben einige Unternehmen große wirtschaftliche Schwierigkeiten und kümmern sich vorrangig darum, ihre Zukunft zu sichern und das Kerngeschäft fortsetzen. Trotzdem zeigt sich in der Breite, dass auch schwer getroffene Unternehmen die betriebliche Altersversorgung nicht grundsätzlich in Frage stellen. Sie wollen die Mitarbeiter und deren Kompetenz auch in Zukunft an das Unternehmen binden und neue Mitarbeiter gewinnen. Dafür braucht es eben auch die bAV. Ich halte das für richtig. Arbeitgeber sollten bei krisenbedingten Maßnahmen in der bAV mit Augenmaß vorgehen. Das ist durchaus möglich: Sie ist gerade in der Direktzusage so anpassbar, dass Unternehmen zum Beispiel die Auswirkungen auf die Liquidität vielfach zeitlich flexibel steuern können, ohne ihre Zusage einschränken zu müssen. Bei Kurzarbeit sinken in entgeltbasierten bAV-Systemen temporär auch die bAV-Beiträge, aber der Versorgungsplan bleibt bestehen. Hingegen haben die Betriebe – auch schon vor der Pandemie – solche bAV-Pläne auf den Prüfstand gestellt, die mit Blick auf den Niedrigzins und die Garantien nicht mehr zeitgemäß waren. Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen bAV-Modelle, die risikoarm auf der Verpflichtungsseite sind und Chancen auf der Anlageseite eröffnen. Ein schönes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der diesjährige Preisträger Munich Re. Der Rückversicherer gewährt den Beschäftigten eine Garantie, die unter der Beitragsgarantie liegt und ihnen zugleich Chancen auf höhere Erträge eröffnet.
Wo entsteht zwischen Krise und Niedrigzins die Rendite für eine lukrative Betriebsrente?
Thomas Jasper: Aus dem Kapitalmarkt, und das müssen wir den Menschen erklären. Wir müssen ihnen im persönlichen Gespräch und über digitale Tools aufzeigen, dass für sie sichere Kapitalanlagen vor allem bedeuten, dass die Rendite mit Sicherheit niedrig ist. Mit einer ertragsorientierten Anlage lässt sich hingegen über lange Zeiträume hinweg mehr Rendite verdienen als mit vermeintlicher Sicherheit in der Anlage. Vieles spricht dafür, dass Investments in Aktien langfristig besser performen als Anleihen. Hier ist Financial Education notwendig, damit die Menschen verstehen, wie sie mit angemessenen Beiträgen eine ausreichende Versorgung für sich in Zukunft erreichen können. An dieser Stelle sehe ich auch die Arbeitgeber in der Pflicht, ihren Beschäftigten mehr Orientierung im Sinne einer Financial Education zu bieten. Davon profitieren die Arbeitgeber ebenfalls, denn nur Menschen, die sich finanziell abgesichert fühlen, können in ihrem Beruf und an ihrem Arbeitsplatz einen vollen produktiven Beitrag leisten, wie viele Studien zeigen.
Susanna Adelhardt: Der Zins ist im Keller, deshalb müssen wir in der Anlage ins Risiko gehen. Festzinsanlagen machen im Niedrigzinsumfeld keinen Spaß. Auch starre Garantien helfen nicht weiter. Anders als bei EbAV und Versicherungen ist es in der Direktzusage. Dort können wir viel flexibler agieren und Anlagerisiken so steuern, dass wir sie zwischen Jüngeren und Älteren gut austarieren. So verteilt sich das Risiko auf das Kollektiv, und das hält auch eine vorübergehende Unterdeckung aus. Dadurch steht uns das Risikokapital wieder zur Verfügung, um auch auf lange Sicht attraktivere Renditen zu erwirtschaften. Bei Anlagen in Immobilien wie Einkaufszentren und Bürohäuser halten wir von Evonik uns derzeit zurück. Dagegen ist grüne Energie ein Renditetreiber. Unser Motto auf dem Höhepunkt der Corona-Krise war für die Kapitalanlage: durchhalten und nicht hektisch umsteuern.
Ein weiteres aktuelles Thema ist die Generationengerechtigkeit in der Altersvorsorge. Wie machen wir die bAV generationengerechter und zukunftsfähiger?
Thomas Jasper: Wir kennen in der bAV die „Gnade der frühen Geburt“. Damit meine ich die alten Verträge, die vor vielen Jahren und in einer ganz anderen Zinslandschaft abgeschlossen wurden. Heute lassen sich solche Garantien in der bAV nicht mehr abbilden. Bei den Vertragsbeständen muss man die Frage stellen, ob und – wenn ja – bis wann man dort eingreifen kann und darf. Menschen mit alten Verträgen verlassen sich in ihrer Finanzplanung bereits seit vielen Jahren auf das Versprechen einer Betriebsrente mit hoher Rendite. Demgegenüber steht die Frage, in wie weit junge Kohorten durch die Garantien älterer Kohorten nicht übermäßig belastet werden. Solche Quersubventionen sind zusätzlich problematisch, wenn die jungen Generationen in der Altersvorsorge mit dem Niedrigzins konfrontiert werden. Allerdings haben die Jungen, die heute ins Berufsleben einsteigen, die Chance, bereits früh etwas für das Alter zu tun und andere Kapitalanlagemöglichkeiten, die höhere Erträge versprechen, zu nutzen. Gefragt ist eine gute Balance zwischen der garantierten Leistung für die Älteren und den Chancen, aber auch den Lasten der jüngeren Generation. Unternehmen, die heute ihre bAV-Pläne neu aufsetzen, versuchen, genau einen solchen Ausgleich zwischen Alt und Jung zu finden. In der Regel bleibt der Past Service bestehen, und die Älteren behalten ihren Besitzstand. Die neu aufgesetzten Pläne eröffnen den Beschäftigten die Wertentwicklungschancen des Kapitalmarktes. Mit klug aufgestellten bAV-Systemen begrenzen die Unternehmen die Risiken und stellen im Sinne der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sicher, dass sie langfristig eine werthaltige bAV anbieten können.
Susanna Adelhardt: Der Begriff der Generationengerechtigkeit in der bAV ist aus der IORP-II-Richtlinie der Europäischen Union abgeleitet. Die Richtlinie spricht von Intergenerational Fairness. Aus meiner Sicht sollten wir uns daher auf Tarifgenerationen konzentrieren. Sonst müssten wir erst einmal definieren, was eine Generation ist. Diese Frage bekämen wir nicht mehr eingefangen. Auch die Frage, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen und wie deren gesetzliche Rente einmal aussehen wird, lässt sich heute noch nicht im Konsens beantworten. Der jungen Generation kann ich nur den Ratschlag geben, sich schon jetzt mit ihrer Altersvorsorge auseinanderzusetzen. Ihr bleibt überhaupt keine Alternative übrig. Wenn wir in die Tarifgenerationen schauen, liegt die Vermutung nahe, dass die Überschüsse der jüngeren Generation die garantierten Leistungen der Älteren finanzieren könnten. Das ist sowohl eine arbeitsrechtliche Aufgabe als auch eine gesellschaftliche Herausforderung, die so nicht eintreten darf. Hier ist aber auch der Gesetzgeber gefordert, der im Sinne der Generationengerechtigkeit noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden hat.
Im September dieses Jahres steht die Bundestagswahl an. An welchen Stellen sollte die nächste Bundesregierung den Hebel bei der bAV zuerst ansetzen?
Susanna Adelhardt: Die neue Bundesregierung sollte die notwendigen Reformen in der Altersversorgung wirklich anpacken. Wir müssen die unangenehmen Wahrheiten jetzt aussprechen und auch schnell in Angriff nehmen, denn der Tanker Altersvorsorge ist schwerfällig und lässt sich nicht von heute auf morgen umsteuern. Es bringt nichts, die offensichtlichen Probleme in der Rente und der Altersvorsorge immer wieder in die Zukunft zu verschieben. Wir brauchen eine Regierung, die mutig genug ist, die überfälligen Reformen umzusetzen. Nur dann gewinnen wir – die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer – wieder die Freude an der bAV zurück. Die Zukunft der Altersabsicherung ist eine große gesellschaftliche Herausforderung für Deutschland. Die bAV ist ein relevanter Baustein einer Lösung dafür, damit nicht noch mehr Menschen im Alter auf die Grundsicherung zurückfallen. Die Arbeitgeber sind grundsätzlich willig, Lösungen zu entwickeln, wenn ihnen die Regulatorik keine zu engen Fesseln anlegt.
Thomas Jasper: Die neue Bundesregierung sollte Antworten auf die verhaltensökonomischen Hindernisse für die weitere Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung finden. Sie sollte insbesondere den breiteren Einsatz von Opting-out-Modellen ermöglichen und dazu ermutigen. Die meisten Menschen sparen viel zu wenig für das Alter. Gleichzeitig artikulieren viele Beschäftigte in Befragungen wie zum Beispiel dem „Global Benefits Attitudes Survey“ von Willis Towers Watson, dass sie bereit sind, zugunsten von Altersvorsorge auf Teile ihres Einkommens zu verzichten. Allerdings werden die guten Vorsorgeabsichten häufig nicht in die Tat umgesetzt. Das Instrument des Opting-out kann diese Lücke am besten schließen. Die Beiträge zur Altersvorsorge werden dann automatisch vom Gehalt abgezogen, wenn die Menschen nicht aktiv einer Entgeltumwandlung widersprechen. Das führt dann ungeachtet einer verbreiteten Entscheidungsträgheit unter den Beschäftigten automatisch zu mehr Vorsorge. Die Befragungen sowie erste Erfahrungen aus Großbritannien und auch erste Erfahrungen in Deutschland mit Opting-out-Systemen zeigen, dass die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit einverstanden sind. Das Betriebsrenten-Stärkungsgesetz hat Opting-out-Regelungen im Rahmen von tariflichen Regelungen erlaubt. Ein breiterer Einsatz von Opting-out würde die Verbreitung der bAV deutlich stärken und auch die Ziele der Politik in der Stärkung der Altersvorsorge unterstützen.
Welche Rolle spielt der Deutsche bAV-Preis in dieser diffusen Gemengelage?
Susanna Adelhardt: Der Deutsche bAV-Preis ist für die Betriebsrente ein Ideengeber. Der erste Preisträger bei den Großunternehmen, Munich Re, hat die Generationengerechtigkeit in Angriff genommen und eine sehr überzeugende Lösung gefunden. Auch die kleinen Unternehmen wie die Sempt Apotheke mit ihren 15 Mitarbeiterinnen sind mit ihren bAV-Angeboten Vorreiter und Vorbilder für andere kleine Unternehmen. Sie zeigen, dass es sich lohnt, zu überlegen, wie sich Lösungen für die Altersvorsorge auch in einem kleinen Kollektiv finden lassen. Der bAV-Preis ist ein großartiges Instrument, um die Relevanz der Betriebsrente in der internen und externen Kommunikation hervorzuheben. Das steigert die Wertschätzung dieses Benefits. Zugleich wollen Arbeitgeber das Geld, das sie dort investieren, effizient einsetzen.
Thomas Jasper: Auf die ersten acht Jahre des Deutschen bAV-Preises können die Initiatoren, darunter auch Willis Towers Watson, mit einigem Stolz zurückblicken. Wir durften immer wieder Leuchtturmprojekte auszeichnen, die andere Unternehmen ermutigt haben, ähnliche Schritte zu gehen. Dadurch konnten auch alte Vorurteile ausgeräumt werden. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Die Preisträgerunternehmen erfahren eine verdiente Würdigung, und diese Würdigung entfaltet eine Breitenwirkung, die der weiteren Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung zugutekommt. Davon bin ich überzeugt.