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„Die Vielzahl an KMU-Bewerbungen ist faszinierend“

Frau Dr. Picker und Herr Dr. Jasper, welche Bedeutung hat der Deutsche bAV-Preis gerade im Krisenjahr 2022 für die bAV-Community?

Claudia Picker: Der Deutsche bAV-Preis sendet gerade in diesem Jahr gute Signale in verschiedene Richtungen. Für mich zählt besonders, dass das Engagement der Arbeitgeber und der Träger von Sozialpartnerschaften bei der Betriebsrente trotz der zwei Pandemiejahre mit ihren großen Schwierigkeiten und Folgen ungebrochen ist. Ich kann heute nicht erkennen, dass die Pandemie neue negative Effekte für die bAV hervorgerufen hat. Zumindest spiegeln sie sich am Markt und in den meisten Unternehmen noch nicht wider. Vielmehr ist es auch in der Zeit der Pandemie gelungen, die bAV an den Mann und die Frau zu bringen. Darin zeigt sich der beständige Wert der bAV.

Thomas Jasper: Wie wichtig die betriebliche Altersversorgung und der Deutsche bAV-Preis sind, wird auch an den Bewerberzahlen sichtbar: Sie sind wieder deutlich gestiegen, und zwar um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das ist ein Beleg dafür, dass sich der Deutsche bAV-Preis sehr gut im Markt etabliert hat. Vor allem die Bewerberzahl bei den KMU ist erfreulich. Daran lässt sich ablesen, dass die bAV gerade in einer Krisenzeit, wie wir sie seit einigen Jahren erleben, für Unternehmen eine besondere Bedeutung besitzt. Natürlich ist sie in der Krise auch mit Herausforderungen verbunden.

Gehen wir einmal auf die aktuellen Risiken ein. Wie wirken sich Inflation, Krieg, Konjunkturschwäche Energiewende und all die anderen Krisen und Risiken derzeit auf die bAV aus?

Claudia Picker: Aktuell hat natürlich gerade der furchtbare Krieg in der Ukraine die Instabilität in der Weltwirtschaft und der globalen Politik massiv verstärkt. Selbstverständlich wirken sich solche Ereignisse und andere Krisen auch auf die bAV aus. Wie nachhaltig die aktuelle Lage mit Inflation, Energiekrise und geopolitischen Konflikten die Altersvorsorge beeinflussen, müssen die nächsten Monate zeigen. Auch ein langfristiger Ausblick ist heute noch schwierig. Dabei dreht es sich vor allem um Themen auf der Seite der Kapitalanlage. Natürlich profitiert die kapitalgedeckte Altersvorsorge vom langfristigen Anlagehorizont. Trotzdem muss uns bewusst sein, dass der Ukrainekrieg in Zukunft noch zu sehr schwierigen Szenarien führen kann.

Thomas Jasper: Ich finde es bei allen Krisen und Risiken um uns herum wichtig, dass die bAV mit ihrer Kapitalanlage sehr langfristig ausgerichtet ist, wie Frau Dr. Picker schon gesagt hat. Krisen rufen immer wieder Schwankungen an den Aktienmärkten hervor, das ist normal und bietet für die bAV mit ihren jahrzehntelangen Anlagehorizonten aktuell keinen Anlass für ein fundamentales Umdenken. Aktuell vollzieht sich jedoch auch ein struktureller Wandel, verbunden mit großen ökonomischen Unsicherheiten. Nach langen Jahren mit einer sehr niedrigen Inflation und mit sehr niedrigen Zinsen leben wir plötzlich in einer Welt mit stark steigender Inflation und steigenden Zinsen. Der Zinsanstieg hilft der bAV, vor allem ihre Verpflichtungsseite neu auszurichten. Die langfristigen Annahmen, die Unternehmen über die bAV, ihre Leistungen und deren Ausfinanzierung treffen, orientieren sich an den langfristigen Zinsen und an den langfristigen Inflationserwartungen. Die hohe Inflation ist allerdings gerade für die Betriebsrentenempfänger ein großes Thema, denn sie befürchten auch bei ihrer Altersvorsorge de facto eine Geldentwertung. Während wir einen immer intensiveren War for Talents erleben, erwarten die Beschäftigten von ihren Arbeitgebern verstärkt, dass sie sich bei der bAV engagieren. Wie die Bewerbungen um den Deutschen bAV-Preis zeigen, reagieren immer mehr Unternehmen darauf und bieten eine attraktive Betriebsrente an – häufig gerade mit dem Ziel, talentierte Beschäftigte zu gewinnen und an das Unternehmen zu binden. Dabei werden Risiken und Nutzen sorgsam abgewogen. Heute gilt es, die bestehenden bAV-Pläne zu prüfen und sie bei Bedarf anzupassen oder neue kreative Lösungen einzuführen. Der bAV-Markt steht derzeit vor der Herausforderung, Betriebsrentenpläne im Umfeld steigender Inflation zielführend zu gestalten. Dies gilt vor allem für die Auszahlungsphase. Dafür bietet der Markt gute Lösungsansätze. Diese sollten Arbeitgeber und Anbieter aufgreifen und für die Zukunft weiterentwickeln.

Der Niedrigzins stellt nicht zuletzt regulierte EbAV vor die Aufgabe nachzufinanzieren und Risiken abzubauen. Wie kommt die bAV-Branche mit dem De-Risking voran? Wie gelingt es den Trägerunternehmen, den Beschäftigten trotz des Niedrigzinses eine werthaltige Betriebsrente anzubieten?

Claudia Picker: Das Thema De-Risking bezieht sich vor allem auf die Nachfinanzierung. Hier stehen viele EbAV seit Jahren vor einer besonderen Herausforderung. Wir im Bayer-Konzern sind froh, dass wir für unsere Pensionskassen verlässliche Trägerunternehmen im Rücken haben, die sich ausdrücklich zur bAV bekennen. Die kritischen Fragen zielen eher auf die Balance in der ganzen Branche ab. Egal, ob groß oder klein: Ein Unternehmen kann den Euro nur einmal ausgeben. Ein Grundproblem vieler EbAV ist, dass ihre alten Zusagen Auswirkungen auf die neuen Zusagen haben – und damit natürlich auch auf die Menschen, die in ferner Zukunft einmal Rentenleistungen erwarten. Der Niedrigzins mindert also die Attraktivität vieler Versorgungswerke, die in der alten Zinswelt noch gut funktioniert haben. In hoffentlich naher Zukunft wird das Sozialpartnermodell der betrieblichen Altersversorgung neue Chancen eröffnen, etwa in der chemischen Industrie. Wir sollten insgesamt darüber nachdenken, wie es uns gelingt, eine höhere Flexibilität bei den Dotierungen zu erzielen, ohne dass wir den Älteren etwas wegnehmen. Ich spreche damit die 3-Stufen-Theorie und die Debatte darüber an. Die findet vor allem auf rechtlicher Ebene statt. Wenn wir für den Future Service Dotierungen umverteilen wollen, dann müssen wir zunächst über das Arbeitsrecht sprechen. Im zweiten Schritt müssen wir uns fragen, was eine solche Reform für das Aufsichtsrecht der EbAV bedeutet. In jedem Fall sollten wir uns der Frage der Generationengerechtigkeit mit mehr Engagement annehmen.

Thomas Jasper: In den beiden zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die Versicherungswirtschaft von ihren alten Garantietarifen verabschiedet. Damit ging der Übergang zu fondsgebundenen Lebensversicherungen einher, verbunden mit der Perspektive höherer Renditen für die Begünstigten. Auch viele Unternehmen haben in den vergangenen zwanzig Jahren auf höhere Renditen durch eine größere Kapitalmarktnähe gesetzt. Seit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz eröffnet das Sozialpartnermodell hierfür weitere Möglichkeiten. Wir sehen also in der betrieblichen Altersversorgung eine neue Zusagenwelt, bei der die Begünstigten an den Renditechancen des Kapitalmarkts partizipieren. Das ist auch sinnvoll. Ein geeignetes Risikomanagement gehört gerade für die chancenreicheren, aber eben auch risikobehafteten Anlageklassen dazu. In den beiden letzten Jahrzehnten haben wir eine sehr positive Entwicklung an den Aktienmärkten beobachtet, aber auch Ausschläge nach unten. Über lange Zeiträume zeigen sich die Ausschläge im Rückblick als Dellen in einem intakten Aufwärtstrend. Deshalb denke ich, dass renditeorientierte Anlageklassen eine gute langfristige Anlage für das Alter sind und bleiben werden.

Claudia Picker: Pensionseinrichtungen haben in den beiden vergangenen Jahrzehnten ihre Kapitalanlage stark diversifiziert. Das gilt auch für EbAV, die ihre Chancen am Kapitalmarkt nutzen wollen und zugleich ihr Risikomanagement steuern müssen. Sie sind aber in einem stark regulierten Umfeld unterwegs. In ihren Koalitionsvertrag hat die Ampelregierung in Berlin hin-eingeschrieben, sie wolle eine stärkere Proportionalität der Regulierung in den Fokus nehmen. Ein größerer Spielraum in der Kapitalanlage und bei den Dotierungen wäre für EbAV hilfreich. Natürlich brauchen wir eine Finanzaufsicht, aber wir sollten nicht überreguliert unterwegs sein. Unsere Pensionskassen im Bayer-Konzern können zwar in diesem Umfeld bestehen, aber kleinere Pensionskassen haben es deutlich schwerer. Deshalb will ich an die Bundespolitik appellieren, nicht alle Richtlinien von der EU und ihren Behörden blind zu übernehmen, sondern mit Augenmaß handeln.

Den War for Talents haben Sie bereits angesprochen. Tatsächlich steigt der Fachkräftemangel in vielen Branchen. Wie kann der Benefit bAV an dieser Stelle helfen?

Thomas Jasper: Mitarbeitende erwarten von ihrem Arbeitgeber ein bAV-Engagement – und honorieren dies mit größerer Betriebstreue. Das belegen mehrere Studien von WTW aus den vergangenen Jahren. Für etwa ein Drittel der Mitarbeitenden war die bAV demnach ein wesentlicher Grund für den Eintritt in ihr Unternehmen, für die Hälfte ist sie ein wesentlicher Grund zu bleiben. Wenn die bAV gut auf die Vorsorgebedürfnisse der Mitarbeitenden abgestimmt ist, steigen diese Zahlen sogar noch. Im Ranking der Benefits, die Mitarbeiter von ihrem Arbeitgeber erwarten, landet die betriebliche Altersversorgung auf Platz 1 – für nahezu alle Generationen und Einkommensschichten. Das bestätigt übrigens auch unsere Erfahrung als Berater. Unternehmen sehen die bAV im Vergütungspaket nicht als Streichposten, sondern als wirkungsvolles Instrument, mit dem sie sich im Wettbewerb um Talente behaupten können. Dies nutzen inzwischen auch viele kleine und mittlere Betriebe, wie wir an den Bewerbungen beim Deutschen bAV-Preis sehen.

Claudia Picker: Eine betriebliche Altersversorgung kann Arbeitgebern in der Theorie sehr dabei helfen, Beschäftigte langfristig an sich zu binden. Tatsächlich braucht es aber auch eine werthaltige betriebliche Altersversorgung, damit dieser Benefit so wirkt wie erhofft. Deshalb stehen viele Arbeitgeber derzeit vor der Frage, wie die bAV in Zukunft trotz des Niedrigzinses dabei helfen kann, gegen den Fachkräftemangel zu wirken. Die Frage der Generationengerechtigkeit in der bAV kommt hinzu.

KMU haben Sie schon einige Male genannt. Brauchen wir bessere Produktpakete und Branchenlösungen zur Betriebsrente für kleinteilig strukturierte Wirtschaftszweige?

Thomas Jasper: Die Verbreitung der bAV hängt mehr daran, dass vor allem KMU ihren Mitarbeitenden seltener einen arbeitgeberfinanzierten Pensionsplan anbieten und die Mitarbeiter ihr Recht auf Gehaltsumwandlung nicht nutzen. Breit angelegte Opt-out-Lösungen könnten hier Abhilfe schaffen. Laut unseren Befragungen ist mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer grundsätzlich bereit, für die bAV auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten. Viele setzen diese guten Vorsätze jedoch nicht um. In Unternehmen mit Opt-out-Systemen liegt die Anzahl der Mitarbeitenden, die tatsächlich für ihre Altersvorsorge sparen, hingegen sogar sehr hoch, und die Mitarbeitenden sind mit der automatischen Aufnahme in die Entgeltumwandlung in der Regel sehr zufrieden. Nur wenige von ihnen melden sich ab. Deshalb ist eine größere Verbreitung des Opt out aus meiner Sicht ein Königsweg, um die Verbreitung der bAV substanziell zu stärken. Wie lässt sich das umsetzen? Aktuell ist jedes Unternehmen verpflichtet, den Beschäftigten auf deren Nachfrage hin eine Entgeltumwandlung anzubieten. Würde der Gesetzgeber das aktuelle Recht der Mitarbeitenden auf Entgeltumwandlung ersetzen durch eine künftige Pflicht der Unternehmen, Opt-out-Pläne anzubieten, würde die Verbreitung der bAV sprunghaft ansteigen. In Großbritannien hat sich Opt out bereits bewährt. Es ist gerade für Branchen mit geringerer bAV-Durchdringung förderlich und hat sich als ein wirksamer Mechanismus gegen die Entscheidungsträgheit vieler Menschen in Bezug auf komplexe langfristige Finanzfragen erwiesen.

Claudia Picker: Für mich ist die große Menge an Einreichungen von Bewerbungen von kleinen und mittleren Unternehmen beim diesjährigen bAV-Preis faszinierend. Dort finden sich gute Produkte, und die werden auch genutzt. Es hilft also, breiter als bislang zu denken. Auch das Sozialpartnermodell bietet neue Chancen. In diesem Jahr sollen ja die ersten Sozialpartnermodelle live gehen. Und die Busrente Hessen hat bewiesen, dass sich darüber hinaus gute tarifliche Branchenlösungen für die bAV einrichten lassen. 

 

Das Interview führte Dr. Guido Birkner.