Aktuelle Ausgabe

Newsletter

Abonnieren

Entscheidungen unter Laborbedingungen

Wenigstens eine Sache ist noch sicher: Nichts ist mehr sicher. Jede unternehmerische Entscheidung wird in einer Welt getroffen, deren Parameter sich täglich verändern – angetrieben von Megatrends und dem geopolitischen Tauziehen. Simple Wenn-dann-Kausalitäten scheinen genauso wenig zu funktionieren wie der Rückblick auf vergangene Zeiten.

In einer solchen Lage suchen Unternehmen händeringend nach Möglichkeiten, ihr weiteres Vorgehen auf irgendeine Weise abzusichern und mit mehr Souveränität und Zuversicht Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die die Zukunftsfähigkeit sichern. Umso verwunderlicher ist es, dass weitreichende Entscheidungen mit globalem Foodprint häufig auf der Basis des Bauchgefühls, des Nimbus der Dienstjahre und des Das-haben-wir-immer-so-gelöst-Ansatzes getroffen werden. Beweise werden nicht angeführt – und noch nicht einmal gesucht.

Dabei klingt die Kernidee des evidenzbasierten Managements (Evidence-based Practice, EBP) selbstverständlich: Jede Entscheidung im Unternehmen sollte auf Belegen, Daten und Fakten beruhen – und zwar aus möglichst objektiven, verifizierbaren und breit gestreuten Quellen.

Jeder Beleg verringert das Maß an Unsicherheit, zeichnet einen klareren Weg und macht den Ausgang der Entscheidung zumindest weniger nebulös. Gleichzeitig gilt aber auch: Jede Entscheidung verbaut alternative Wege, die vielleicht zu einem besseren Ergebnis geführt hätten. Da viele Ergebnisse gleich wahrscheinlich erscheinen, ist es offenbar unmöglich, die richtige Entscheidung zu finden.

Im evidenzbasierten Management geht es jedoch gar nicht darum, die richtige Entscheidung zu treffen. Es geht darum, eine besser informierte Entscheidung zu treffen. Dieser minimale Unterschied kann Millionen kosten oder bringen.

Den ersten Schritt vor dem zweiten tun: Warum Fragen wichtiger sind als Antworten

Die Realität zwingt Unternehmen dazu, eine agile Strategie zu entwickeln, die alle Möglichkeiten in Betracht zieht. Das wiederum scheint aber definitiven Antworten entgegen zu laufen. Darum konzentriert sich das evidenzbasierte Management auch nicht vorrangig auf die Antworten, sondern auf fundamentale Fragen:

  • Wissen wir, welche Daten wir als Belege betrachten und warum?
  • Gibt es ein strukturiertes Vorgehen bei der Belegsammlung oder nehmen wir die Fakten, wie sie kommen?
  • Können wir uns sicher sein, alle Belegquellen angezapft zu haben, die für unsere Entscheidung relevant sind?

Die alles überschreibende Frage lautet indessen: Was ist das eigentliche Problem? Doch diese Kernfrage wird im Unternehmensalltag kaum mehr gestellt.

Entscheider haben gelernt, mit einer gewissen Grundhaltung und ihren Erfahrungen an eine Aufgabe heranzugehen. Schwindet etwa der Umsatz, wird meist sofort in den Problemlösungsmodus geschaltet, ohne erst einmal zu fragen, warum er das wirklich tut. Und wie. Und wo.

Je genauer das Grundproblem mittels Belegen aus Quartalszahlen, Performanceanalysen, Stakeholder-Rückmeldungen etc. dargestellt wird, desto klarer ist das Bild für den Entscheidungsweg. Auch in diesem zweiten Schritt fordert EBP dazu auf, ohne vorgefertigte Antworten die gleichen Fragen zu stellen. Werden schwindende Umsätze zum Beispiel für einen bestimmten Markt oder eine bestimmte Zielgruppe nachgewiesen, ist die Frage nach dem Warum wieder die Ausgangsposition für die nächste Beweisführung.

Je kleinteiliger dies geschieht, desto größer ist der Gewinn: Man entschlüsselt automatisch neue Informationsquellen, lernt, detaillierte Fragen an ein Problem zu stellen, und akzeptiert, dass Anti-Beweise jede Hypothese über den Haufen werfen können. Zudem ist ein „Weiß ich nicht“ der richtige Ansporn, dieses Wissen zu finden.

Nichts daran verändert Datenquellen, Verantwortlichkeiten, Entscheidungsstrukturen oder Hierarchien. Doch es werden Verbindungen geknüpft, die sich als schützendes Sicherheitsnetz um jeden Schritt in die Zukunft legen.

Beweise verzweifelt gesucht

Ist die Notwendigkeit zum Fragen verstanden, steht das Unternehmen gleich vor der nächsten Herausforderung: Wo sollen wir nach Belegen suchen? Woher wissen wir, dass wir alle sinnvollen Quellen angezapft haben? Gibt es einen Unterschied zwischen harten Fakten und weichen Indizien?

Hier kommen unweigerlich personelle Fähigkeiten zum Tragen, die auch das belegverliebte EBP nicht negiert: Informationen müssen darauf abgeklopft werden, ob sie tatsächlich die beste Entscheidungsgrundlage sind oder ob sie vielmehr aufgrund etablierter Strukturen verwendet werden. Und es bedarf der Fähigkeit zum Querdenken, um nach Belegen nicht nur in Bilanzen oder Analysetools zu suchen, sondern auch ein Auge auf die Aktivitäten in Social-Media-Auftritten zu haben.

Damit unterscheidet sich das evidenzbasierte Management von der Belegführung, wie sie in der wissenschaftlichen Praxis Standard ist: Zwar muss jede Aussage belegt, jede Behauptung verifiziert, jedes Nichtwissen offengelegt werden. Doch die Frage, woher diese Belege stammen können, ist grundsätzlich offener.

Das ist auch die Crux des Ansatzes: Während Wissenschaftler mitunter Jahre an ihrer Forschung arbeiten, können sich Unternehmen solche Zeithorizonte nicht erlauben. Deshalb müssen Belege möglichst schnell in „brauchbar“ und „unbrauchbar“ und Quellen in „vielversprechend“, „gewohnheitsbasiert“ oder „sinnlos“ kategorisiert werden können. Damit dies überhaupt funktionieren kann, muss EBP methodisch betrieben werden.

Strukturierte Entscheidungen in sechs Schritten

Die Evidence-based Practice beruht auf sechs Einzelschritten, die je nach Problemstellung und Entscheidungshorizont ineinander übergehen können.

  1. Erstens wird der Entscheidungsgegenstand auf eine Problem-/Chancenformulierung kondensiert, die in detaillierte Fragen an diese Formulierung aufgebrochen wird.
  2. Danach werden die gefundenen Fragen an möglichst viele Quellen gestellt, die Antworten gesammelt.
  3. Drittens werden die Antworten strukturiert und nach ihrer Relevanz als Beleg bewertet.
  4. Im vierten Schritt werden die Belege zu einer Beweisführung zusammengestellt, die ein Problem oder eine Aufgabe hinreichend untermauern.
  5. Nach der Entscheidung erfolgt zwangsläufig eine Bewertung, die eventuell einen neuen Entscheidungsprozess anstößt.

Bin ich Sherlock? Die Grenzen der Detektivarbeit im Management

Allein der Ruf nach Strukturierung sorgt schnell für Abwinken: Eine solche Beweisführung kostet Zeit, die nicht jeder Entscheider investieren will oder nach seiner Ansicht kann. Doch es ist die Kunst, zu erkennen, wann eine Beweisführung Sinn ergibt. Eine Kaffeemaschine für die Teeküche lässt sich im Vorbeigehen festlegen. Der neue Zulieferer jedoch nicht.

Genauso schwierig ist es, irgendwann zur Entscheidung zu kommen, die Entscheidung zu treffen. Denn in der nächsten Studie könnte der Beleg stecken, der alles in einem neuen Licht bewertet. Spätestens hier darf das Bauchgefühl wieder eingreifen und die Beweisführung stoppen. Vorher festgelegte Zeitkontingente für die Belegsammlung können ebenfalls helfen.

Am Ende muss sich das evidenzbasierte Management auch den Vorwurf gefallen lassen, dass eine endgültige Wahrheit nicht gefunden werden kann. Doch das gilt für jedes Molekül auf diesem Planeten. Die Evidence-based Practice kann nur Unsicherheit reduzieren, während die Chance auf ein gutes Ergebnis steigt. Und das ist eine Wahrscheinlichkeit, mit der sich wesentlich souveräner kalkulieren lässt.