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Göttinger Busfahrer legen Zeit auf die hohe Kante

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Herr Neugebauer, die Göttinger Verkehrsbetriebe (GöVB) haben in diesem Sommer erstmals ein Zeitwertkontenmodell eingeführt. Wie viele Mitarbeiter können es nutzen?

 

Michael Neugebauer: Die GöVB beschäftigen als klassisches kommunales Verkehrsunternehmen insgesamt 325 Mitarbeiter. Wir sind eine selbständige GmbH und eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der Stadt Göttingen. Neben 225 Busfahrern beschäftigen wir Werkstattpersonal sowie Mitarbeiter im Service, in der Leitstelle und der Verwaltung. Zur Teilnahme am Zeitwertkontenmodell sind alle Beschäftigten mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag berechtigt.

 

Welche Gründe haben die GöVB dazu veranlasst, jetzt Zeitwertkonten (ZWKs) einzuführen?

 

Michael Neugebauer: Der Anstoß liegt schon einige Jahre zurück, es begann mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit am 1. Januar 2010. Seitdem denken wir über eine Alternative nach. Auch unser Betriebsrat hat entsprechende Wünsche der Beschäftigten mitgeteilt. Der „Tarifvertrag zur Bewältigung des demografischen Wandels im Nahverkehr“, kurz „TV Demografie Nahverkehr“, vom 3. Juli 2013 hat unseren Handlungsspielraum dafür vergrößert. Demnach soll der Arbeitgeber zur Finanzierung von Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen des demographischen Wandels für jedes Jahr ein Budget in Höhe von 1 Prozent der Summe der Monatstabellenentgelte und der tariflichen Jahressonderzahlung des Vorvorjahres zur Verfügung stellen. Das Demographiebudget ist eine zentrale Säule unseres Modells. Wir unterstützen damit auch Maßnahmen für die betriebliche Gesundheit.

 

Wie sehen die Folgen des demographischen Wandels für die GöVB konkret aus?

 

Michael Neugebauer: Wir hatten vor einigen Jahren beim Fahrpersonal einen hohen Altersdurchschnitt von 52 Jahren. Inzwischen ist es uns durch verschiedene Maßnahmen wie die Neueinstellung jüngerer Fahrer und die Einführung des Ausbildungsgangs des Berufskraftfahrers gelungen, den Altersschnitt auf 48 Jahre zu senken. Viele Busfahrer sitzen mehr als 30 Jahre hinter dem Steuer und halten aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zum 65. Lebensjahr durch. Wer kann, nutzt die Möglichkeit der Rente mit 63 Jahren, doch zwischen 60 und 63 Jahren müssen sie noch einen Zeitraum überbrücken. Andere Mitarbeiter wollen dagegen bis zum offiziellen Renteneintrittsalter arbeiten, aber die letzten Berufsjahre nur noch 30 oder 20 Wochenstunden. Wir benötigen also ein Modell, das die unterschiedlichen Forderungen und Wünsche des Tarifvertrags, des Arbeitgebers und des einzelnen Arbeitnehmers flexibel berücksichtigt.

 

Wie lange haben die Vorarbeiten für das ZWK-Modell gedauert?

 

Christian Wiecha: Ich begleite Herrn Neugebauer seit rund zwei Jahren. Gemeinsam haben wir das Modell entwickelt, alle Wünsche eingesammelt und das Ergebnis unter anderem dem Betriebsrat vorgestellt. Jetzt haben das Unternehmen und die Beschäftigten ein Instrument, in das die Mitarbeiter Überstunden und Entgelt einzahlen können und mit dessen Hilfe sie später zeitlich kürzertreten oder früher aus dem Beruf aussteigen können, und das nahezu ohne Kürzungen bei der gesetzlichen Rente.

 

Wie funktioniert das konkret?

 

Christian Wiecha: Ein Arbeitnehmer der GöVB kann seine Überstunden vom Überstundenkonto in das ZWK übertragen lassen. Dabei berücksichtigt das Unternehmen jetzt zur Neueinführung auch alte Bestandsguthaben unabhängig von der Höhe. Ab sofort darf ein Mitarbeiter aber nur maximal 120 neue Überstunden pro Jahr in das ZWK einbringen. Das entspricht 10 Stunden oder rund 1,5 Busfahrerschichten pro Monat. Die GöVB leiten in Zukunft bereits ab 80 Überstunden pro Jahr Maßnahmen ein, um die Überstunden zu reduzieren oder um sie auf das ZWK zu transferieren.

 

Michael Neugebauer: Urlaubstage sind davon ausdrücklich ausgenommen, denn wir wollen, dass sich unsere Mitarbeiter in ihrem Urlaub erholen und dass sie gesund in den Ruhestand gehen. Aber sie können über die Entgeltumwandlung Geldbeiträge aus dem Festgehalt, aus Zulagen aus Sonntags- und Nachtarbeit sowie aus Einmalzahlungen in ihr ZWK leisten. Die Konten werden in Geldeinheiten geführt, nicht in Zeiteinheiten. Entsprechend bezahlen wir einem Mitarbeiter seine Überstunden symbolisch bar aus, indem wir einen umgewandelten Euro-Betrag auf das Konto einzahlen.

 

Der Wert einer heute eingezahlten Arbeitsstunde und der einer in 20 Jahren ausgezahlten Stunde unterscheiden sich deutlich. Wie gleichen Sie diese Differenz aus?

 

Christian Wiecha: Das ist richtig, doch den prognostizierten Wertzuwachs einer Arbeitsstunde kalkulieren wir im Modell der GöVB ein. Eine Arbeitsstunde wird in 20 Jahren voraussichtlich mehr wert sein als heute. Also müssen wir mit dem Entgelt, das in einen Fonds eingezahlt wird, Renditen erzielen, die den Gehaltstrend abbilden. Die eingezahlten Guthaben aus Überstunden und umgewandeltem Entgelt werden bei den GöVB durch den Fondsanbieter garantiert.

 

Michael Neugebauer: An dieser Stelle setzt zusätzlich das Demographiebudget ein. Auf jeden eingezahlten Euro zahlt der Arbeitgeber noch einmal 2,5 Prozent aus dem Demographiebudget hinzu, wobei diese Zahlungen bei einem Betrag von 3.000 Euro gedeckelt sind. Mit dem Wert von 2,5 Prozent orientieren wir uns am Durchschnitt der Tarifabschlüsse für den niedersächsischen Nahverkehr in den vergangenen Jahren. In der Summe heißt das für unsere Prognose, dass wir bei der Kalkulation der Rendite der ZWKs mit einer konservativen Anlage der Guthaben in einem Fonds zuzüglich der 2,5 Prozent, die der Arbeitgeber aus dem Demographiebudget beisteuert, über dem langfristig zu erwartenden Gehaltstrend liegen werden.

 

Anlagen in Fonds bieten Renditechanchen, aber auch Verlustrisiken bei einer schlechten Performance. Wie gleichen Sie diese Risiken aus?

 

Christian Wiecha: Die GöVB haben in ihrem Modell eine offene Anlagearchitektur gewählt. Der Bestand der Einlagen ist garantiert, und beim Fonds gilt Flexibilität. Wenn also die Performance des Fonds dem Unternehmen in Zukunft einmal nicht mehr gut genug ist, können die GöVB PensExpert veranlassen, den Fonds auszutauschen, ohne dass dem Unternehmen oder den Beschäftigten Zusatzkosten entstehen. Ähnlich wie bei der betrieblichen Altersversorgung trägt der Arbeitgeber das Haftungsrisiko.

 

Ein früherer Ausstieg aus dem Beruf ist oft mit Abstrichen bei den gesetzlichen Rentenleistungen verbunden. Wie sieht das in Ihrem Modell aus?

 

Michael Neugebauer: Machen wir das an einem Beispiel fest: Ein Busfahrer will ab dem 60. Lebensjahr nur noch 30 Wochenstunden arbeiten und verfügt über ein entsprechendes Zeitguthaben, dann kann er in Teilzeit arbeiten und bezieht weiterhin das volle Gehalt. Damit zahlt er fortlaufend den vollen Sozialversicherungsbeitrag in die Rentenkasse ein. Abstriche muss er dabei nicht machen. Steuerlich ist zu beachten, dass die Entgeltumwandlung wie meistens bei der betrieblichen Altersversorgung aus dem Bruttolohn erfolgt. In der Auszahlungsphase wird das aufgebrauchte Guthaben wie Gehalt behandelt, es wird also nachgelagert besteuert. Unsere Lohnbuchhaltung hat ihr IT-Programm inzwischen an die Einführung der neuen Entgeltkomponente angepasst, so dass wir die ZWKs und die Guthaben dort als besondere Entgeltart abbilden können. Die weitere Administration liegt bei unserem Dienstleister, der nach den monatlichen Exporten aus der Lohnbuchhaltung alle Verwaltungs- und Orderprozesse anstößt.

 

Wie reagieren die Mitarbeiter auf das neue Angebot?

 

Michael Neugebauer: Da wir erst im Sommer damit gestartet sind, lässt sich noch kein endgültiges Resümee ziehen. In den ersten Informationsveranstaltungen haben sich die Mitarbeiter noch zurückhaltend geäußert, doch mittlerweile nehmen mehr als 10 Prozent der GöVB-Beschäftigten  an den ZWKs teil.

 

Das Interview führte Dr. Guido Birkner.