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Grading geht auch agil

 

Grading
Foto: © surasaki / stock.adobe.com

Wer Mitarbeiter halten und motivieren will, muss ihnen nachhaltige Perspektiven und Entwicklungschancen aufzeigen. Sie wollen wissen, wo sie stehen und wohin sie sich entwickeln können. Ein besonderes Augenmerk muss daher darauf liegen, ihnen zu vermitteln, dass sie innerhalb des Unternehmens und der Branche fair beurteilt und entlohnt werden. Ein differenziertes Grading-System kann dazu Wesentliches beitragen. Aber wie vertragen sich dessen eindeutige Rollenzuweisungen und Einstufungen mit einer agilen Unternehmenskultur, in der im Prinzip jeder alles – oder zumindest vieles – können sollte? Lässt sich das Grading wirklich so einfach gestalten, dass es sich nur minimal auf das operative Geschäft und interne Prozesse auswirkt?

Die MICE Portal GmbH im bayerischen Attenkirchen stand Ende 2018 vor genau diesen Fragen. Das mittelständische Unternehmen hat sich mit seinen 60 Mitarbeitern auf Eventmanagement-Software spezialisiert. Es unterstützt Firmen mit regelmäßiger Veranstaltungsorganisation bei der Optimierung und Digitalisierung von MICE-Prozessen (Meeting – Incentive – Congress – Event). Die webbasierte Software von MICE Portal ermöglicht es den Kunden, sämtliche Event- und Veranstaltungsleistungen, etwa Tagungshotels, Rahmenprogramme oder das Teilnehmermanagement intuitiv einfach zu koordinieren und zu buchen.

CASE STUDY: MICE Portal GmbH
Als Spezialist für Eventmanagement-Software unterstützt die MICE Portal GmbH ihre Kunden seit 2000 mit webbasierten Lösungen bei der Buchung und Koordination von Veranstaltungsleistungen. Sie gestaltet komplexer MICE-Prozesse (Meeting – Incentive – Congress – Event) und ein agiles Software-Know-how. Das Familienunternehmen hat 60 Mitarbeiter und unterhält neben dem Hauptsitz in Attenkirchen drei weitere Niederlassungen.

Klarheit und Transparenz gefragt

Um schnell und flexibel auf Kundenwünsche zu reagieren, setzt MICE Portal auf agile Methoden und Entwicklerteams, die sich projektbezogen immer neu gruppieren. Und obwohl Grading und Agilität oft als schwer miteinander vereinbar gelten, ging der Anstoß zur Einführung einer Grading-Struktur gerade von den hoch flexibel arbeitenden Entwickern aus. „Bis 2018 hatten wir diese Struktur nicht“, sagt Stephanie Reichert, Head of HR bei MICE Portal. „Die Einstufung und Bewertung unserer Mitarbeiter erfolgte nach subjektiver Einschätzung ohne formale Vorgaben. In den Anfangsjahren von MICE Portal war das kein Problem. Mit dem Wachstum unseres Unternehmens aber stieg auch der Bedarf nach einem strukturierten Grading. Speziell die Entwickler stellten in den Mitarbeitergesprächen immer wieder sehr konkrete Fragen – etwa danach, was eigentlich ihr Status ist, wo sie in zwei Jahren stehen könnten oder ganz einfach, welcher Titel in ihrem Arbeitsvertrag stehen sollte.“

Die HR-Verantwortlichen des Unternehmens beschlossen daher, einheitliche Grundlagen zu schaffen, sei es für Mitarbeiter- und Entwicklungsgespräche, für die Formulierung von Stellenausschreibungen und Arbeitsverträgen oder für die Freigabe von Berechtigungsprofilen. Zu diesem Zweck entwickelte ein internes Projektteam, unterstützt von der HR-Strategieberatung Lurse, innerhalb weniger Monate die MICE Portal-Architektur: ein schlankes, effizientes Rahmenwerk, das sich rasch und zu deutlich geringeren Kosten umsetzen ließ, als es bei Grading-Prozessen sonst üblich ist. Und das am Ende auch die eher skeptischen Scrum-Experten des Unternehmens überzeugte.

Die Ziele dieses Rahmenwerks lagen auf der Hand: Es sollte vor allem eine einheitliche und skalierbare Grading-Systematik schaffen, Vergütungsentscheidungen nachvollziehbar machen und einen modularen Ansatz verfolgen. Zugleich sollte es transparent und bereichsübergreifend sowie einfach zu handhaben und konsequent umsetzbar sein.

Einen Rahmen schaffen, in dem sich jeder wiederfindet

Der Startschuss zum Grading-Prozess bei MICE Portal fiel Ende 2018 in einem Workshop. Dabei brachten die Geschäftsleitung und das interne Grading-Projektteam gemeinsam mit den externen Beratern die Standardstellen und -funktionen des Unternehmens in ein erstes provisorisches Funktionsraster. Nach dem Workshop machte sich das Projektteam an die Entwicklung eines Gesamtrahmens, in dem jede einzelne Stelle individuell beschrieben und ihr Verantwortungsbereich eindeutig abgesteckt wurde. Diese Beschreibung bezog sich bei MICE Portal bis dahin nur auf die jeweilige Person, orientierte sich in dem neuen System aber ganz an der Funktion, die sie ausfüllen sollte. Nach einem Top-Down-Ansatz – von Managern und Teamleitern bis zu den Junior-Mitarbeitern – wurden diese Funktionen dann den verschiedenen Karrierestufen zugeordnet.

„In dieser Phase haben wir besonders viel Zeit darauf verwendet, die Wertigkeiten der Jobs möglichst genau zu definieren. Nur so lassen sich beispielsweise die Funktionen von IT-Mitarbeitern und Controllern horizontal vergleichbar machen“, erklärt Stephanie Reichert.

Das Ergebnis waren sehr genaue, individuelle Stellenbeschreibungen für jeden Mitarbeiter. Aus ihnen kann jeder entnehmen, was die Ziele, Voraussetzungen, Qualifikationen und Kompetenzen für seinen Job sind.

Dabei geht es nicht nur um fachliche Kenntnisse, sondern auch um Kompetenzen wie die Fähigkeit zu Teamwork und vernetztem Denken und nicht zuletzt um Werte wie Offenheit und Respekt im Umgang mit Kollegen.

Bewertungskriterien festlegen

In diesen Rahmen, der die spezifische Organisationsstruktur von MICE Portal abbildet, flossen zusätzlich allgemeine Bewertungskriterien ein, die die Berater in jahrzehntelanger Praxis als wesentlich identifiziert hatten. Dazu gehört zum Beispiel die Komplexität eines Jobs, das heißt die Verantwortung, die Problemstellungen und das Maß an Interaktion, die je nach Karrierestufe mit ihm verbunden sind. Ein weiteres Bewertungsmerkmal ist der Einfluss einer bestimmten Funktion auf den Unternehmenserfolg, also welchen Grad von Mitwirkung und welche Entscheidungsspielräume sie erfordert. Damit erschließt sich auch die Frage, ob – und wenn ja – welche Führungsaufgaben mit einer Tätigkeit verknüpft sind. Wichtig sind auch die fachlichen und methodischen Kenntnisse sowie die Ausbildung und Berufserfahrung eines Mitarbeiters.

Ein weiteres Bewertungskriterium hat das Projektteam zusammen mit Managern und Teamleitern des Unternehmens erarbeitet: die Aufgaben in einem bestimmten Job. „Wir haben klar festgelegt, was beispielsweise ein Entwickler bei MICE Portal auf einem bestimmten Level können muss“, sagt Stephanie Reichert. „Wirkt er bei der Fehlerbehebung nur mit, behebt er einen Fehler selbst oder implementiert er bestimmte Funktionen in einer Software?“

Den Grading-Prozess schlank halten

Einführung des Grading
In allen drei Phasen der Einführung des Grading-Prozesses ist Kommunikation ein wichtiger Erfolgsfaktor

Die Entwicklung des gesamten Frameworks nahm nur etwa drei Monate in Anspruch. „Normalerweise löst die Einführung eines Grading-Systems in Unternehmen so viel Freude aus wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt“, sagt Maik Metzdorf, Senior Manager bei Lurse. „Sie rechnen mit Scharen von Beratern, aufwändigem Change Management, endlosen Projektsitzungen und immensen Kosten. Ich denke, das Beispiel MICE Portal zeigt, dass auch ein agiles, ressourcenschonendes ‚Grading light‘ möglich ist.“

Ermöglicht wurde dies vor allem durch drei Faktoren.

  1. Pragmatismus: Das Projektteam nutzte für die Organisationsanalyse und für die Entwicklung der MICE Portal-Architektur ein Modell, das Berater bereits für andere Unternehmen und nach deren Vorgaben erstellt hatten. Das garantierte einen hohen Praxisbezug, denn das Modell bildet alle markttypischen Funktionen optimal ab und lässt sich an Unternehmen jeder Größe anpassen.
  2. Eigene Ressourcen: Die MICE-HR spielte in dem ganzen Prozess die Hauptrolle und sicherte sich die starke Unterstützung durch die Gesellschafter und eine entscheidungsfreudige Geschäftsleitung. Die Berater begleiteten den gesamten Prozess als Sparringspartner.
  3. Kommunikation: Das Projektteam stimmte sich nicht nur mit den externen Beratern, sondern immer wieder auch mit internen Fachleuten ab. So gehörte dem Team beispielsweise eine Scrum-Expertin an, und je nach Fragestellung wurden Führungskräfte aus dem Unternehmen in das Projekt einbezogen. Als unverzichtbar erwies sich schließlich auch die intensive Kommunikation mit den Mitarbeitern.
STOLPERSTEINE: Wo hat es im Projekt gehakt?

Nach den größten Herausforderungen bei der Entwicklung der MICE-Architektur gefragt, antwortet Stephanie Reichert: „Drei Dinge: Kommunikation, Kommunikation und nochmals Kommunikation.“ In einem agilen Unternehmen komme es darauf an, außer der Geschäftsleitung auch die Scrum-Experten von Anfang an mit im Boot zu haben. Einige von ihnen sahen eine feste Grading-Struktur anfangs sehr skeptisch.

„Wichtig war auch, dass wir den Mitarbeitern die Befürchtung genommen haben, dass sich durch das Grading das Gehalt nachteilig ändert„, so Stephanie Reichert. Mit Hilfe von Kick-off-Events an allen Standorten und weiteren internen Kommunikationsmaßnahmen ist es schließlich gelungen, Vertrauen in die Grading-Architektur aufzubauen – als ein flexibles und erweiterbares System, das über Jahrzehnte funktionstüchtig bleiben wird.

Akzeptanz dank Kommunikation

Die dritte Phase des Projekts begann im Frühjahr 2019 mit Kick-off-Events an allen vier Standorten von MICE Portal. Unmittelbar vor der Einführung der neuen Grading-Struktur wurden deren Einzelheiten und Vorteile der Belegschaft vorgestellt. „Die Kommunikation war enorm wichtig, um Vorbehalte abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen“, sagt Stephanie Reichert. Erst dadurch konnte das HR-Team auch den letzten und arbeitsintensivsten Teil der Aufgabe erfolgreich abschließen: Bis Ende 2019 führte es Gespräche mit allen Mitarbeitern, vom Management bis zu den Azubis, um sie in das neue System einzustufen. So hatte es nach den ersten Vorarbeiten nur etwa ein Jahr gedauert, bis alle Mitarbeiter gegradet waren.

Seither arbeitet das gesamte Unternehmen problemlos mit dem neuen System, und die Resonanz ist durchweg positiv. So sagt Vinzenz von Brühl, Product Owner und COO von MICE Portal:

Das Grading-System ist ein wichtiger Grundpfeiler für eine erfolgreiche Umsetzung agiler Methoden im Unternehmen.

Es gibt zum einen jedem Mitarbeiter Transparenz über Verantwortlichkeit, Funktion und Aufgaben und zum anderen Klarheit über eigene Entwicklungschancen und Anforderungen. Im Zusammenspiel mit klar definierten Prozessen konnten wir so auch praktisch ein agiles Umfeld schaffen und es dauerhaft leben.“

Auch HR-Chefin Stephanie Reichert hat großes Vertrauen in die neue MICE Portal Architektur. Sie ist sich sicher, dass das System flexibel genug ist, um mit dem Unternehmen zu wachsen und sich auf Jahre hinaus an neue Marktgegebenheiten anzupassen. Ihr Fazit lautet eindeutig: „Grading steht nicht im Widerspruch zu Agilität.“

UNTERM STRICH: Was hat das Projekt gebracht?
  • Das Projekt hat gezeigt, dass ein agiles Grading realisierbar ist – zügig, ressourcenschonend und zu deutlich niedrigeren Kosten als üblich.
  • Zwischen den ersten Vorarbeiten und der vollständigen Implementierung mit dem Grading sämtlicher Mitarbeiter verging nur ein Jahr.
  • Dazu hat vor allem die pragmatische Vorgehensweise beigetragen: die Nutzung eigener Ressourcen und bereits vorhandener, adaptierbarer Modelle sowie externe Berater als Sparringspartner.
  • Jeder einzelne Mitarbeiter findet sich in dem System wieder. Die Resonanz ist positiv, da sich alle in der MICE-Architektur gut aufgehoben fühlen.
  • Viele Prozesse sind strukturierter und effizienter geworden, zum Beispiel Mitarbeiter-und Gehaltsgespräche, die Formulierung von Arbeitsverträgen und Stellenausschreibungen oder die Gewährung von Benefits je nach Abteilung oder Funktion.
  • Nicht nur HR, sondern auch andere Abteilungen arbeiten reibungslos mit dem neuen System und setzen eigene Prozesse darauf auf.

Hartmut Wastian

Hartmut Wastian, Manager,
Lurse HR Consulting GmbH, München, hartmut.wastian@lurse.de


Dieser
Beitrag ist Teil des Themen-Specials „Compensation & Benefits“.
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