Häufig ist zu vernehmen, dass agil Arbeitende höher bezahlt werden sollten und die Funktionsbewertung, besonders in ihrer analytischen Form, für die Anwendung in sich schnell ändernden Organisationen kaum, in agilen Organisationsformen überhaupt nicht mehr anwendbar sei. Beides ist nur teilweise richtig.
Die klassische Funktionsbewertung wurde entwickelt und erstmals auf breiter Front für Tarif- und AT-Funktionen angewendet, als die in umfangreichen Beschreibungen dokumentierten Aufgabeninhalte für die meisten Stellen noch über einen längeren Zeitraum stabil waren. Es war einmal … Heute verändern sich Organisationen und Aufgaben vielfach in kurzen Zyklen, sodass es kaum möglich und zu aufwendig erscheint, umfangreiche Stellenbeschreibungen aktuell zu halten und permanent Nachbewertungen durchzuführen. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine traditionelle oder agile Organisation handelt.
In beiden Unternehmenstypen heißt das Gebot der Stunde zunächst Vereinfachung. Für die Stellenbeschreibung bedeutet dies, sich auf das Stellenziel sowie die wesentlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu beschränken. Das ist meist kein Nachteil, weil ausufernde Beschreibungen selten ausschließlich bewertungsrelevante Informationen enthalten. In der Praxis vielfach bestätigt ist ebenso, dass wertigkeitsprägende Inhalte wie der tatsächliche Handlungs- und Entscheidungsrahmen et cetera oft zu unscharf und manchmal auch bewusst zu hochwertig formuliert sind.
Eine vereinfachte Bewertung kann bedeuten, mit einem simpleren Verfahren zu arbeiten, das weniger und eher gleichgewichtete Kriterien enthält und nicht nur Experten anwenden können. Es kann auch heißen, nur wenige sogenannte Ankerstellen analytisch zu bewerten und die übrigen zu diesen zuzuordnen (slotten), eine Vorgehensweise, die sich unter dem Begriff summalytisch durchgesetzt hat. Schließlich wäre es auch denkbar, alle Funktionen summarisch zu klassifizieren und bestimmten Entgelt- oder Managementstufen zuzuordnen. Diese Praxis hat sich in vielen Tarifverträgen bewährt.
Stellenbewertung in agilen Organisationen
Die skizzierten Vorgehensweisen sind grundsätzlich auch bei agilen Einheiten beziehungsweise Unternehmen anwendbar – also in Organisationsformen, in denen Mitarbeitende nicht mehr stabile, fest umrissene Zuständigkeiten haben, sondern Aufgaben im Team situationsbezogen und flexibel verteilt werden. Sind Tätigkeitsspektrum und Anforderungsniveau präzise beschrieben, lassen sich diese Rollen gut bewerten.
Sofern es in der agilen Zielorganisation keine Führungskraft mehr gibt, die schwierige fachliche Fragen beantwortet und in Zweifelsfällen entscheidet, erhöhen diese jetzt eigenverantwortlich zu bewältigenden Tätigkeiten die Wertigkeit der Funktionen (zum Beispiel hinsichtlich des Handlungsrahmens, des Einflusses, der Verantwortung und Wirkung). Auch dies ist kein Hinderungsgrund für die Anwendung von Stellenbewertung in agilen Organisationen.
Alles agil, alles ganz einfach?
Schwierig wird eine arbeitswertbezogene Bewertung erst bei völlig flexiblen und fluiden Rollen, die in permanentem Wechsel die Wahrnehmung unvorhersehbarer Aufgaben eines unterschiedlichen Wertigkeitsniveaus bedeuten. Für den Fall, dass diese Aufgaben innerhalb eines agilen Teams ohne direkte Korrelation zu vorhandenen Vergütungsniveaus verteilt werden, gibt es drei Möglichkeiten der Bewertung:
- Das höchste Anforderungs- und Vergütungsniveau gilt für alle (dies werden Mitarbeiter und Gewerkschaften fordern).
- Ein mittleres Niveau für alle oder
- alle behalten die Einstufung vor Eintritt in das neue Team.
Die Optionen sind gleichermaßen unbefriedigend. Wenn durch ein Team bearbeitete Aufgaben im Großen und Ganzen gleichwertig sind, ist es vernünftig, allen Teammitgliedern die gleiche Einstufung und Grundvergütung zu gewähren. Wenn jedoch die eingesteuerten Aufgaben deutlich unterschiedliche Wertigkeitsniveaus haben, dann sollten sich höhere beziehungsweise geringere Kompetenzniveaus in den Aufgabenzuweisungen und in den Bewertungen spiegeln – und entsprechend vergütet werden.
Eine Alternative wäre, die Mitarbeiter selbst über Einstufung und Gehalt entscheiden zu lassen. Mit Ausnahme kleiner idealistisch geprägter Start-ups – und dort auch nur in den ersten Jahren ihrer Existenz – hat sich dieser salomonische Ansatz nicht bewährt. Meist werden die betreffenden Entscheidungen irgendwann entnervt von der Basis an übergeordnete Hierarchiestufen zurückdelegiert.
Personalkosten im Fokus
Letztendlich geht es auch um den finanziellen Aufwand: Eine agile Organisationsform darf in Summe nicht mehr kosten als die traditionelle. Nur bei einer messbaren Erhöhung von Ergebnissen in Menge und/oder Qualität ließe sich eine Beteiligung von Mitarbeitern am Produktivitätsfortschritt finanzieren. Da sticht auch nicht das Argument, dass in agilen Organisationen individuelle Potenziale freigesetzt werden, die ansonsten durch die „Lehm- und Lähmschichten“ der Hierarchie behindert werden. Die Annahme, die Ergebnisse würden vor allem schneller, aber auch kundenorientierter und qualitativ hochwertiger erzeugt, konnten bisher empirisch noch nicht belegt werden. Die Vorstellung, dass in einer agilen Organisation Mitarbeitende automatisch mehr verdienen müssten, weil alle schwierigere Aufgaben erledigten, häufiger Entscheidungen träfen und mehr Verantwortung übernähmen, ist also zu überprüfen. Dafür ist die Funktionsbewertung nach wie vor ein probates Instrument.
Der Gedanke, dass eine Bezahlung nach Kompetenz oder Qualifikation die Lösung aller Probleme sei, liegt nahe, ist aber ein Trugschluss. Schließlich wird der taxifahrende promovierte Philosoph als Taxifahrer bezahlt, nicht als Welterklärer. Wenn hingegen Einigkeit besteht, dass eine Organisation ihre Beschäftigten nach benötigten und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch abgeforderten Kompetenzen differenziert bezahlen sollte, müssen diese benannt, definiert, operationalisiert, skaliert und möglichst objektiv bewertet werden.
Letztendlich geht es auch um den finanziellen Aufwand: Eine agile Organisationsform darf in Summe nicht mehr kosten als die traditionelle.
Was wäre damit gewonnen? Das Einstufungsetikett klebt an der Person, und damit es sich lohnt, müsste das Unternehmen dafür sorgen, dass kontinuierlich entsprechend wertige Aufgaben zur Verfügung stehen. Die Änderungshäufigkeit wäre nicht geringer, da die Personen bei (auch nur vermeintlichem) Kompetenzzuwachs eine Überprüfung fordern werden. Und schließlich wird der Bewertungsprozess erfahrungsgemäß deutlich schwieriger, weil es um Menschen geht.
Funktionsbewertung in der Transformation
Soll eine klassische Organisation in eine agile verwandelt werden, ist dabei in aller Regel quantitativ und qualitativ mit dem vorhandenen Personal zu arbeiten. Allerdings benötigt man zum Beispiel mit Product Owner und Agile Coach möglicherweise neue Rollen, die auch bewertet werden müssen.
Bei der Transformation eines klassischen Centers of Excellense (CoE) in eine agile Organisationsform, werden die drei Fachgruppen aufgelöst und die Mitarbeitenden mit ihren jeweiligen Gehältern in die neue Organisation übernommen. Unter der Annahme, dass zumindest zwei der bisherigen Gruppenleiter andere Verwendungen finden, entsteht ein finanzieller Spielraum für Gehaltsanpassungen bei sieben Mitarbeitenden. Dieser ist jedoch geringer, als es sich die aktuell vielen Befürworter agiler Strukturen erhoffen: Höherstufungen und Gehaltserhöhungen für alle sowie zusätzliche Stellen werden voraussichtlich nicht möglich sein.
Wenn es allerdings nicht gelingt, zwei der ehemaligen Gruppenleiter durch Versetzung oder Verrentung abzubauen, dann besteht keinerlei finanzieller Spielraum für außerordentliche Gehaltserhöhungen und natürlich auch nicht für zusätzliche Einstellungen. Dieser Ausflug in die Mathematik klingt natürlich ernüchternd. Er bestätigt aber einmal mehr einen Slogan von Bill Clinton aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf 1992: It’s the economy, stupid!
Carsten Schlichting
Senior Partner
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Verena Vandervelt
Senior Director
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