Herr Riester und Herr Dr. Jasper, die vierte große Koalition ist jetzt seit einigen Monaten im Amt. Sind Sie damit zufrieden, wie die Themen Rente und Altersvorsorge im Koalitionsvertrag abschneiden?
Walter Riester: Grundsätzlich sind in den Koalitionsverhandlungen viele wichtige Dinge erreicht und vereinbart worden, die das Land an wichtigen Stellen voranbringen können. Doch im Hinblick auf die Rente und den Handlungsbedarf dort ist viel zu wenig herausgekommen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Hand an die grundlegenden Herausforderungen der Alterssicherung gelegt würde. Die Rente als überwiegend von Emotionen getriebenes Thema kann im Wahlkampf sehr problematisch werden. Dass solche Debatten häufig nur verbrannte Erde hinterlassen, habe ich in meiner Amtszeit als Bundesarbeitsminister erlebt. Doch das Thema muss in Koalitionsverhandlungen immer auf der Tagesordnung stehen, gerade mit Blick auf die Weichenstellung der Zukunft.
Thomas Jasper: Für die betriebliche Altersversorgung hatte der Gesetzgeber noch im Juli 2017 mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz ein umfassendes Reformparket auf den Weg gebracht. Daher rechne ich kurzfristig nicht mit neuen bAV-Impulsen. Allerdings besteht jetzt schon Bedarf an einer Nachjustierung des Gesetzestextes. Ich halte es an erster Stelle für gravierend, dass der Gesetzgeber beim 6-prozentigen steuerlichen Rechnungszins zu keiner Korrektur bereit ist. Es ist paradox, dass die Bundesregierung die Unternehmen beim Sozialpartnermodell in die Pflicht nimmt, um die Vorsorgelücken für ihre Beschäftigten zu schließen, und sie zugleich über den zu hohen steuerlichen Rechnungszins substanziell für dieses Engagement bestraft. Die Arbeitgeber haben einen hohen zweitstelligen Milliardenbetrag als Differenz zwischen dem Marktwert der Pensionsverpflichtungen und dem steuerlichen Rechnungszins zu viel aufzubringen.
Wie erleben Sie die Debatten über die sichere Rente und Altersvorsorge im internationalen Vergleich?
Walter Riester: In anderen Ländern werden Diskussionen über die Zukunft der Rente auf politischer Ebene oft sachlicher und kompromissbereiter geführt als in Deutschland. Bei uns werden gute Lösungen gerne zerredet. Ich als Minister habe selbst erlebt, dass die Opposition jeden Reformansatz bei der gesetzlichen Rente zerredet und nach Möglichkeit blockiert hat. Dabei springen wir auch zu kurz, wenn wir in der Rentendebatte nur auf uns schauen. Die Sozialsysteme innerhalb der EU sind nach wie vor national, doch längst haben wir starke Wanderungsbewegungen in Europa, ganz zu schweigen von der Migrationswelle von Menschen aus Afrika und Asien, die aus wirtschaftlicher Not oder wegen Kriegen zu uns kommen. Wir in der EU sollten das nationalstaatliche Denken ein Stück weit überwinden und als europäische Einheit auftreten. Nationale Pfründe und zugleich eine Globalisierung, die keine Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten nimmt, passen nicht zusammen.
Thomas Jasper: Mir fallen international funktionierende Opting-out-Lösungen immer positiv auf. Bei solchen Auto-Enrollment-Modellen, vor allen in Großbritannien, bleiben rund 90 Prozent der Beschäftigten im System. Diese einfache, flächendeckende Lösung kann auch für uns als Vorbild dienen. Stattdessen ist das Kernstück unserer jüngsten bAV-Reform, das Sozialpartnermodell, mit einer hohen Komplexität behaftet. Diesem Modell wird es in Zukunft an Breitenwirkung mangeln, da es an Lösungen der Sozialpartner geknüpft ist.
Unklar ist, welches Leistungsniveau die gesetzliche Rente nach dem Jahr 2030 haben wird. Möchten Sie eine Prognose für die langfristige Altersversorgung in Deutschland wagen?
Walter Riester: Prognosen basieren auf heutigem Wissen. Die demographische Entwicklung wirkt sich stark auf die gesetzliche Rentenversicherung aus. Die deutlich längere Lebenserwartung der Menschen ist natürlich sehr positiv, doch das 1957 eingeführte Umlagesystem kannte damals eine durchschnittliche Lebenserwartung von weniger als zehn Jahren ab Renteneintritt. Heute hat sich die Rentenbezugsdauer verdoppelt. Das war für den Gesetzgeber auch Anlass, ab 2012 das Einstiegsalter in die abschlagsfreie Rente später als 65 Jahre anzusetzen. Gravierender für die Altersversorgung der Menschen wird aber aus meiner Sicht die radikale Veränderung der Erwerbsarbeit und der Erwerbseinkommen sein. 1957 haben noch 95 Prozent der Beschäftigten in Vollzeit gearbeitet, heute arbeiten 40 Prozent in Teilzeit, 3,5 Millionen nur in 400- bzw. 450-Euro-Jobs. Viele Menschen sind lediglich befristet und mit Unterbrechungen in der Erwerbsarbeit beschäftigt. Das wirkt sich schwerwiegend auf die späteren Rentenansprüche aus, denn Menschen in Teilzeit zahlen auch nur halb so viel in die Sozialversicherungen und damit auch in die Rentenversicherung ein. Entsprechend werden nur halb so hohe Ansprüche für die Rente gebildet. Diese Fehlentwicklung in der Altersvorsorge wird sich in Zukunft durch die neue veränderte Arbeitswelt – Stichwort Digitalisierung – gravierend verstärken. Leider fehlt eine öffentliche Diskussion darüber, doch die Realität wird darauf keine Rücksicht nehmen.
Thomas Jasper: In Deutschland liegen wir bei der Altersversorgung aus obligatorischen Regelungen deutlich unterhalb des OECD-Durchschnitts. Das bedeutet, dass bei uns das Maß an Eigenverantwortung für die Vorsorge bereits jetzt hoch ist. Ich sehe vor allem bei den kleinen Selbständigen Handlungsbedarf, damit sie eine auskömmliche Altersvorsorge aufbauen. Leider wird der durchaus vorhandene Wille dieser Berufsgruppe zu oft nicht in tatsächliche Vorsorge umgesetzt.
Welche Konsequenzen wird diese Entwicklung für das Rentenniveau haben?
Walter Riester: Wir werden in den nächsten zehn bis 20 Jahren deutlich kleinere Renten für viele Menschen sehen. Darunter werden vor allem viele kleine Selbständige sein, viele Kleingewerbetreibende und Freiberufler. Die sind heute oft nicht in der Lage, Rücklagen für die Rente zu bilden. Aber auch viele Geringverdiener in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen werden im Alter voraussichtlich auf die Grundsicherung angewiesen sein. Der Fehler liegt aber nicht im Umlagesystem, sondern darin, dass zu geringe Einzahlungen für spätere Rentenansprüche getätigt werden. Hier besteht ein enormer Reformbedarf. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass sie Rücklagen aus allen Einnahmequellen bilden müssen. Dafür bedarf es natürlich auch entsprechender Unterstützung. Andernfalls werden viele Menschen im Alter auf die Grundsicherung aus Steuermitteln angewiesen sein.
Das klingt so, als befürworten Sie ein Obligatorium für die kapitalgedeckte Altersvorsorge.
Walter Riester: Ein Obligatorium ist aus meiner Sicht zwingend geboten, um mehr Rücklagen für eine Altersvorsorge oberhalb der Grundsicherungsgrenze zu bekommen. Zu viele Menschen geben ihr Einkommen in erster Linie für Konsum und finanzielle Verpflichtungen aus, in die zusätzliche Altersvorsorge fließt zu wenig Geld. Vor 20 Jahren habe ich als Bundesarbeitsminister die Vorsorge über die sogenannte Riesterrente angestoßen. Gegenwärtig sind 16,6 Millionen Verträge abgeschlossen, die meist kontinuierlich bespart werden. Ich wollte damals, dass diese Zusatzrente für alle Beschäftigten obligatorisch würde, konnte mich damit aber nicht durchsetzen. Anders wäre es besser gewesen, denn die Risiken in der gesetzlichen Rente sind unübersehbar. Die gesetzliche Rentenversicherung speist sich gegenwärtig jährlich aus 285 Milliarden Euro Einnahmen, 90 Milliarden davon sind Steuermittel des Bundeshaushaltes. Dies funktioniert nur dank der guten Konjunktur in den zurückliegenden acht Jahren so gut, und der Nie-drigzins hat den Verfügungsrahmen für die Staatsfinanzierung erweitert. Wäre beides nicht gegeben, sähe die Situation anders aus.
Thomas Jasper: Ein verpflichtender Schub für die Altersvorsorge ist auf verschiedenen Ebenen notwendig, weil viele Menschen ihre guten Altersversorgungsvorsätze schlussendlich doch nicht in die Tat umsetzen. Deshalb befürworte ich Opting-out-Systeme. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass über 90 Prozent der Beschäftigten in einem solchen System verbleiben, nachdem sie zu Beginn einen Schubs bekommen haben. Wichtig ist die Pflicht für Arbeitgeber, eine Gehaltsumwandlung anzubieten, aber für die Umsetzung von Gehaltsumwandlung würde ich auf ein Opting-out setzen. Die letzte Entscheidung darüber, was mit dem Gehalt passiert, sollte bei dem einzelnen Mitarbeiter bleiben.
Wie bewerten Sie das Betriebsrentenstärkungsgesetz, mit dem der Gesetzgeber die Marktdurchdringung der bAV in den kommenden Jahren gerade in kleinen und mittleren Betrieben voranbringen will?
Walter Riester: Die Situation der betrieblichen Altersversorgung hat sich seit den 1980er Jahren kritisch entwickelt. Die zunehmende Arbeitslosigkeit bis in die 2000er Jahre hinein, die steigende Lebenserwartung und heute die Niedrigzinsphase haben die betriebliche Rentenzusage für viele Arbeitgeber weniger attraktiv und finanziell zu riskant gemacht. Die vor allem steuerlich geförderte Entgeltumwandlung hat den Einbruch in der arbeitgeberfinanzierten Betriebsrente, aber auch die Reduzierung der Leistungen aus der gesetzlichen Rente nicht kompensieren können. Vor allem die Wirtschaftsverbände erklärten, viele Unternehmen wären zu einer Beitragszusage an die Beschäftigten bereit, sie wollen aber nicht die Risiken des Kapitalmarktes und der demographischen Entwicklung tragen, indem sie sich zu einer Rentenzusage verpflichten. Mit dem Sozialpartnermodell lässt sich künftig die reine Beitragszusage realisieren. Welche Wirkung das Betriebsrentenstärkungsgesetz auf die Marktdurchdringung haben wird, lässt sich heute noch nicht beurteilen. Schon kurzfristig positiv könnten sich aber andere Inhalte aus dem Gesetz auswirken, so die Abgleichung der betrieblichen Riesterrente an die private Riesterrente. Auch die Förderungsmöglichkeiten für die Bezieher kleinerer Einkommen sehe ich grundsätzlich positiv. Wir können aber noch nicht sagen, ob sich das Interesse der kleinen und mittleren Betriebe an der bAV deutlich positiver entwickeln wird.
Thomas Jasper: Die Unternehmen in Deutschland leisten einen gewaltigen Beitrag zur Altersversorgung, und 40 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft sorgen für ihr Alter vor. Somit kommen diese Unternehmen ihrer sozialen Pflicht als Arbeitgeber bereits nach. Das neue Betriebsrentenstärkungsgesetz führt zunächst dazu, dass die bAV wieder in aller Munde ist – bei Beschäftigten, Unternehmen, Verbänden und Gewerkschaften. Schon das allein fördert die Verbreitung. Das Gesetz fördert Geringverdiener bei der Altersvorsorge. Beim Sozialpartnermodell schauen wir noch in eine trübe Glaskugel, denn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften halten sich noch bedeckt. Ich erwarte vor 2020 keine breitere Wirkung des Sozialpartnermodells. Auch befürchte ich, dass nicht tarifgebundene Unternehmen nicht beitreten werden. Bei einer flächendeckenden Versorgung mit Sozialpartnermodellen erwarte ich Zuwächse im bAV-Markt von rund 13 Prozent, doch diese Zuwächse werden wir kaum bei den kleinen Unternehmen sehen.
Gerade die jüngere Generation im Alter von 20 bis 30 Jahren blickt desillusioniert auf die eigenen Rentenprognosen. Welchen Rat würden Sie dieser Generation geben?
Walter Riester: Rentenleistungen bauen sich immer langfristig auf, deshalb muss schon jetzt an der Altersversorgung der Jungen gearbeitet werden. Auch im Hinblick auf den Wandel in der Arbeitswelt rate ich jungen Menschen, in allen Rentensäulen umlagefinanziert und kapitalgedeckt größere Rücklagen zu bilden. Dabei sollten sie alle Fördermöglichkeiten ausschöpfen, der Gesetzgeber sollte dies sachgerecht anpassen.
Thomas Jasper: Ich finde es gut, dass auch junge Berufstätige den Handlungsbedarf bei der Altersvorsorge erkennen. Schon Azubis fragen in Bewerbungsgesprächen immer mehr nach der bAV des Arbeitgebers. Junge Menschen sollten so früh wie möglich beginnen, zusätzlich vorzusorgen. Auch kleine Beiträge pro Monat helfen schon. Das fällt umso leichter, wenn ihnen ein klares und attraktives Konzept vorliegt, wenn sie eine qualitativ ansprechende Beratung erhalten und wenn sie über ein Opting-out in das System gelotst werden.
Das Interview führte Dr. Guido Birkner.