Entfacht wurde die Diskussion zu einem großen Teil durch Daniel Pinks 2009 erschienen Bestseller „Drive“, in dem er anschaulich darlegt, wie (individuelle) monetäre Anreize die Leistung von Mitarbeitern mit komplexeren Tätigkeiten verringern. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales einen Trend hin zu einer geringeren Gewichtung der persönlichen Leistungskomponenten innerhalb der variablen Vergütungssysteme feststellt (Arnhold, 2018). In der Wirtschaft finden sich mittlerweile viele Beispiele für Unternehmen, die in ihrer variablen Vergütung sogar ganz ohne individuelle Leistungsanreize auskommen.
Variable Vergütungssysteme ohne oder mit geringen individuellen Leistungsanreizen, wie zum Beispiel Profit-Sharing-Modelle, betonen den Team- und Unternehmensgedanken und gehen häufig davon aus, dass individuelle monetäre Leistungsanreize die bereits vorhandene Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter (intrinsische Motivation) verdrängen (Crowding-out-Effekt). In Zeiten umfassender Veränderungen im Zuge von Industrie 4.0 und kürzeren Planungshorizonten sowie damit einhergehenden veränderten Arbeits- und Organisationsmodellen ist ein solches teamübergreifendes Denken und eine Abkehr von langwierigen Zielvereinbarungs- und Zielmessungsprozessen nachvollziehbar. Die Frage, die sich jedoch unweigerlich stellt: Findet auf diesem Weg eine ausreichende Anreizwirkung und Wertschätzung von Leistungs- und Potenzialträgern statt?
Ebenso wie Mitarbeiter zumeist nicht nur ihren (materiellen) Nutzen zu maximieren suchen oder monetären „Karotten“ hinterherrennen, sondern viele Dinge aus innerem Antrieb tun, sind für sie auch Fairness und soziale Anerkennung bedeutsame Faktoren. Was man im wissenschaftlichen Kontext als Reziprozität bezeichnet, lässt sich landläufig am besten mit dem Sprichwort „Wie Du mir, so ich Dir“ beschreiben. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Mitarbeiter für ihre Leistung und ihr Handeln eine entsprechende Anerkennung erwarten. Diese Erwartungshaltung erstreckt sich im Berufsleben nicht nur auf soziale Anerkennung und ein Schulterklopfen, sondern in der Regel auch auf materielle Belohnung. Leistungs- und Potenzialträger wollen für ihre erbrachte Mehrleistung fair und somit auch abweichend vom Teamdurchschnitt vergütet werden. In Zeiten, in denen solche Mitarbeiter häufig über unternehmenskritisches Wissen, zum Beispiel im Digitalbereich, verfügen und der Arbeitsmarkt genügend Alternativen bietet, geht mit einer enttäuschten Erwartungshaltung das hohe Risiko einher, unternehmensnotwendiges Knowhow zu verlieren.
Was Leistungs- und Potenzialträger wollen
Die eingangs geschilderte Erwartungshaltung lässt sich auch empirisch belegen. Die 44 Länder und 21 Wirtschaftssektoren umfassende „Global Talent Trends Study 2018“ von Mercer ist mit 7.648 Teilnehmern auf Vorstands-, Führungskräfte- und Mitarbeiterebene sowie aus HR die weltweit umfangreichste ihrer Art. Die Studie erlaubt eindeutige Rückschlüsse auf die Erwartungen und Anforderungen von Mitarbeitern und Unternehmen im Zeitalter der Digitalisierung und arbeitet heraus, wie erfolgreiche Unternehmen agieren.
Was Mitarbeiter wollen und was Unternehmen im Gegenzug bieten, zeigt die Abbildung 1. Leistungs- und Potenzialträger erwarten neben einer klaren Zielrichtung für ihre Arbeit sowie Karrieremöglichkeiten auch eine faire und leistungsgerechte Vergütung – und finden diese auch häufig in ihren Unternehmen vor. Jeweils 75 Prozent der Mitarbeiter wünschen sich klare Zielsetzungen und eine starke Verbindung zu ihrem Unternehmen sowie individuelle Karrieremöglichkeiten. 77 Prozent wollen einen Arbeitgeber, der sich um die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter sorgt. An erster Stelle steht mit 81 Prozent eine faire, leistungsgerechte und wettbewerbsfähige Vergütung. Diese Erwartungshaltung wird jedoch nur von einer Minderheit der Unternehmen erfüllt. Während immerhin noch 28 Prozent der befragten Unternehmen adäquate Instrumente und Prozesse zur Karriereentwicklung und Karrierepfade anbieten, verfügen lediglich 13 Prozent über klare Zielsetzungen (Bravery et al., 2018).
Die skizzierte Erwartungshaltung spiegelt sich auch in den Antworten der Mitarbeiter wider, insbesondere bei der Frage nach leistungssteigernden Faktoren. Hier rangieren der Wunsch nach leistungsgerechter und fairer Vergütung (Platz 1) sowie der nach klarer Beurteilung (Platz 3) ebenfalls ganz oben. Aber auch der Teamgedanke belegt mit Rang 4 in der Liste einen der vorderen Plätze.
Auswege aus dem Dilemma: individuelle variable Vergütung versus Teamgedanke
Ob sich ein Unternehmen für oder gegen individuelle Leistungsdifferenzierung in der variablen Vergütung entscheidet, sollte es von seiner Unternehmens- und Leistungskultur abhängig machen. Hierbei gibt es keine allgemein gültige Lösung, und die empirische Evidenz für oder gegen individuelle Differenzierung ist dementsprechend gemischt. Falls sich ein Unternehmen dafür entscheidet, keine individuellen Ziele in der variablen Vergütung zu verankern, stellt sich aber unweigerlich die Frage, wie man diesem Dilemma aus sinnvoller Teamorientierung einerseits und individueller Anspruchshaltung andererseits entkommen kann.
Aus personalpolitischer Perspektive empfehlen wir, Leistungs- und Potenzialträgern – und nicht nur diesen – individuelle Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und klar zu skizzieren, wohin sich das Unternehmen in solch schnell veränderlichen Zeiten entwickeln soll. Die Möglichkeiten, eigene Karrierevorstellungen zu verwirklichen und das Unternehmen aktiv mitzugestalten, sind für Leistungs- und Potenzialträger essenzielle Faktoren, um die „digitale Reise“ im Unternehmen mitanzutreten. Karriereentwicklungsinstrumente stellen hierbei neben Vergütungssystemen das wirksamste Mittel für Unternehmen dar, ihre Mitarbeiter individuell und leistungsgerecht zu honorieren.
Speziell aus vergütungspolitischer Perspektive gibt es unserer Erfahrung nach ebenfalls eine Reihe wirkungsvoller Instrumente, die die Motivation steigern und die Unternehmensbindung festigen können. Zum einen besteht nicht nur in der variablen Vergütung die Möglichkeit zu differenzieren. Auch bei den jährlichen Vergütungsrunden kann eine Differenzierung der
Vergütungssteigerungen anhand der individuellen Leistung erfolgen. Vergleichbare Möglichkeiten gibt es bei Nebenleistungen wie der betrieblichen Altersversorgung. Zum anderen besteht die Möglichkeit, besondere Leistungen durch Spot-Boni oder Recognition-Awards zu honorieren. Alle genannten Instrumente ermöglichen es dem Unternehmen, vergütungsseitig auf die geleistete Mehrleistung des Mitarbeiters zu reagieren und ihm einen Anreiz zu geben, weiterhin seine beste Performance für das Unternehmen zu erbringen.
Die eigentliche Intention des Unternehmens geht aber wahrscheinlich noch etwas weiter. Leistungs- und Potenzialträger sollen nicht nur an das Unternehmen gebunden werden und ihre Ziele erfüllen. Es geht vielmehr darum, sie zu Mitunternehmern zu machen, die unternehmerisch und langfristig handeln. Im Hinblick auf diese Zielsetzung bietet es sich für Unternehmen an, ihre Leistungs- und Potenzialträger – unabhängig von der Hierarchiestufe – am Unternehmenskapital zu beteiligen. Einerseits gibt es kaum ein Vergütungsinstrument, dessen positive Wirkung auf Mitarbeiter- und Unternehmensperformance so klar belegt ist wie die Mitarbeiterkapitalbeteiligung (Kruse, 2016). Andererseits treffen bei Beteiligungsinstrumenten am Unternehmenskapital nachweislich sowohl Leistungsanreize (Steigerung des Unternehmenserfolgs) als auch Fairnessgedanken (Dankbarkeit für „geschenkte“ Unternehmensanteile) aufeinander (Bryson und Freeman, 2014).
Hierbei kann der Blick „über den großen Teich“ hilfreiche Impulse liefern. Viele nordamerikanische Organisationen in disruptiven Industrien setzen bereits auf alternative Vergütungssysteme. Diese setzen neben einer marktgerechten Grundvergütung primär auf langfristige Verhaltensanreize, die den Mitarbeiter und speziell die Leistungs- und Potenzialträger am Unternehmen beteiligen und sie somit zu Mitunternehmern machen. Ein Beispiel hierfür ist Amazon, das nicht nur ein besonders erfolgreicher Konzern mit einer sehr hohen Marktkapitalisierung ist, sondern sich ständig neu erfindet bzw. sein Geschäftsmodell erweitert. Disruptive Veränderungen sind bei Amazon nicht nur notwendiges Übel, sondern Bestandteil der Konzern-DNA und des Geschäftsmodells. Um seine Mitarbeiter am
Unternehmen zu beteiligen, zu binden und langfristig auf die strategischen Herausforderungen einzustellen, gewährt Amazon jedem Angestellten weltweit neben einer Grundvergütung auch zeitbedingte Aktienüberlassungen (Restricted Stocks), die ratierlich im Halbjahreszyklus unverfallbar übertragen werden (o. V., 2018).
Same same but different
Somit gibt es auch in Zeiten von erhöhter Team- und Unternehmensorientierung, kurzen Zyklen und ständigen Veränderungen genügend Instrumente, um Leistungs- und Potenzialträger zu honorieren, ohne den Teamgedanken zu konterkarieren. Neben dem Ansatz die individuelle Differenzierung in der variablen Vergütung durch andere Vergütungsinstrumente zu ersetzen, besteht eine sinnvolle Alternative darin, Leistungs- und Potenzialträger zu Mitunternehmern zu machen. Die Option zur Beteiligung am Unternehmenskapital ist unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens möglich und in Form von zusätzlichen Sondergewährungen ein nachweislich wirksames Instrument.
Info
Dr. Björn Hinderlich,
Mitglied des Rewards Leadership Teams Central & Eastern Europe, Career und Workforce Solutions,
Mercer
bjoern.hinderlich(*)mercer(.)com
www.mercer.de
Stephan Pieronczyk,
Partner und Reward Practice Leader Central Europe,
Mercer
stephan.pieronczyk@mercer.com
www.mercer.de