Am 28. September 2020 war es so weit: Siemens Energy wurde als eigenständiges Unternehmen an der Frankfurter Wertpapierbörse gelistet. Das ehemalige Kraftwerks- und Energietechnikgeschäft der Siemens AG wurde zu 55 Prozent an die Börse gebracht, wobei die Aktionäre für je zwei Siemens-Aktien zusätzlich jeweils eine Aktie von Siemens Energy erhielten. Weitere 9,9 Prozent gingen an den Pensionsfonds der Siemens AG, und 35,1 Prozent behielt die Siemens AG selbst.
Auch wenn die Börsennotierung keine Neugründung darstellte, so wurde sie dennoch von einer umfangreichen Restrukturierung des Unternehmens begleitet. War das ehemalige Kraftwerks- und Energietechnikgeschäft der Siemens AG eher regional ausgerichtet, so hat die neue Organisationsstruktur nunmehr einen stark divisionalen Fokus mit hoher Eigenständigkeit und Verantwortung in den drei Divisionen Transmission, Generation und Industrial Applications. Hierdurch hat sich eine Vielzahl an Aufgaben und Verantwortlichkeiten verändert.
Neuaufstellung des Vergütungsbereichs
Somit bestand die Herausforderung nicht nur darin, einen Teil der Siemens AG an die Börse zu bringen. Zeitgleich musste auch eine neue Organisation entwickelt und „betriebsfähig“ gemacht werden. Für den Bereich Compensation & Benefits bedeutete dies eine Vielzahl an Umstellungen wie die Neugestaltung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, Entwicklung von Mitarbeiteraktienprogrammen, Re-Design von Bonussystemen und Nebenleistungsprogrammen. Eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung all dieser Maßnahmen war die „Neuvermessung“ der Organisation und ihrer Funktionen in einem fairen und validen Verfahren für über 90 000 Mitarbeitende.
Erschwerend kam hinzu, dass die Organisationsstruktur erst kurz vor dem Spin-off feststand. Daher mussten während des gesamten Projekts neue und wegfallende Organisationsbereiche und ein veränderter Aufgabenumfang der Funktionen berücksichtigt werden. Während eine solche Herausforderung, Funktionen in diesem Umfang einzustufen, normalerweise in ein bis zwei Jahren gemeistert wird, bestand für Siemens Energy nur ein kurzes Zeitfenster von neun Monaten bis zum Spin-off.
Um das Ziel rechtzeitig zu erreichen, musste ein neuer und schnellerer Ansatz her: das „Structuring“ war geboren. Das Structuring kombiniert bewährte Methoden aus der Funktionsbewertung mit neuen IT-gestützten Ansätzen und Prozessen und besteht aus vier Schritten: künstliche Intelligenz (KI)-gestützte Vorbewertung der Funktionen (Schritt 1), Validierungsrunden mit HR und Management (Schritt 2 und 3) sowie Kalibrierung und Freigabe der Bewertungsergebnisse durch den Vorstand und Divisionsleitung (Schritt 4).
Der Structuring-Ansatz im Detail
- Schritt 1: KI-gestützte Vorbewertung der Funktionen
Die KI-gestützte Vorbewertung ist ein Schlüsselfaktor für die schnelle und erfolgreiche Projektumsetzung. Hierbei kommt die neue Software des „Data Connector“ von Mercer zum Einsatz Er ermöglicht es auf Basis weniger Informationen – prinzipiell reicht der Funktionstitel –, eine Zuordnung der Funktionen von Siemens Energy in den Jobkatalog vorzunehmen. Dieser umfasst mehr als 25 000 verschiedene Jobs. In Abhängigkeit von der Umsatz- und Mitarbeitendenzahl sowie der Komplexität des Unternehmens ist hierbei für jede Funktion eine Wertigkeit in Form einer Mercer Position Class hinterlegt. Somit konnte innerhalb weniger Tage eine Vorbewertung für mehrere Tausend Managementfunktionen von Siemens Energy erfolgen – in zwei Schritten: Zunächst wurden die Funktionen der Berichtsebenen eins und zwei unterhalb des Vorstands bewertet und danach die Funktionen der nachfolgenden Berichtsebenen drei und vier. Insgesamt lag der Fokus zunächst auf den knapp 3000 Top-Funktionen von Siemens Energy.
- Schritt 2: Validierungsrunden mit HR
Bei allem technischen Fortschritt sollte man jedoch (noch) nicht auf die menschliche Validierung der Vorbewertungsergebnisse verzichten. Hierbei werden die Vorbewertungsergebnisse über alle Position Classes hinweg im Quervergleich betrachtet und validiert. In der Regel erfolgen entsprechende Validierungsrunden in Präsenz. Hierbei wird jede Funktion (dargestellt auf einer Funktionskarte) nach Funktionsfamilie in die relevante Position Class einsortiert. So sieht man auf einen Blick mögliche Inkonsistenzen zwischen den Einstufungen und kann diese einfach durch Verschieben der Funktionskarten in die richtige Position Class korrigieren. Da das Structuring-Projekt nahezu vollständig in die Corona-Pandemie fiel, mussten die Validierungsrunden virtuell stattfinden. Zunächst erhielten die HR- Business-Partner und die Vertreter des Compensation-&-Benefits-Teams eine kurze Einführung in das Projekt und die Systematik, dann wurden pragmatisch Übersichten in Excel zu den Vorbewertungen der Funktionen erstellt, und mit den HR-Vertretern validiert und „live“ geändert. In diesem ersten Validierungsschritt nahmen Entscheider die Informationen auf. Da sie über eine sehr große Expertise zu den betrachteten Funktionen verfügen, konnten nicht plausible Einstufungen von Funktionen korrigiert und alle Bewertungen in eine sinnvolle Übersicht gebracht werden.
- Schritt 3: Validierungsrunden mit dem Management
Um das gesamte Wissen zur neuen Siemens-Energy-Organisation und ihrer Funktionen zu nutzen, diskutierten im Anschluss die für Divisionen und Länder verantwortlichen Vorstandsmitglieder und Führungskräfte. Der methodische Ansatz war hierbei ähnlich wie in Schritt 2, wobei die Businessvertreter ebenfalls eine kurze Einführung in das Projekt und die Systematik des Structurings erhielten, bevor die Vorbewertungsergebnisse validiert wurden. Auf Basis der sehr validen Vorbewertungen konnten die Businessvertreter ihre tiefen Kenntnisse einbringen und die Einstufungen der Funktionen für ihre Bereiche verifizieren.
- Schritt 4: Kalibrierung und Freigabe der Bewertungsergebnisse durch den Vorstand und Divisionsleitung
Auch wenn auf Basis der bisherigen Prozessschritte bereits in sich konsistente und valide Einstufungen der Funktionen je Division und Land entstanden sind, musste noch sichergestellt werden, dass auch organisationsübergreifend ein stimmiges und faires Bild entsteht. Hierzu wurden im letzten Schritt alle Bewertungen durch den Comp-&-Ben-Bereich in eine Gesamtübersicht gebracht und abschließend im Quervergleich validiert. Das Ergebnis dieses Quervergleichs wurde abschließend nochmal in einer übersichtlichen Art und Weise aufbereitet und dem Vorstand und den Divisionsleitungen von Siemens Energy zur finalen Freigabe vorgelegt.
Folgeprozesse und -instrumente
Was folgt aber nun aus diesem Structuring in Rekordzeit? Warum hat sich Siemens Energy für dieses Vorgehen entschieden? Hierfür gibt es viele Gründe. Zum einen benötigt ein Unternehmen beim Übergang in die Unabhängigkeit eigene Strukturen und ein Verständnis, welche Funktionen mit welcher Bedeutung diese neue Organisation bilden. Erfolgt dies nicht, bleibt das neue Unternehmen immer nur ein Abbild seiner Vergangenheit im Großkonzern.
Zum anderen leistete das Structuring bereits vor und während des Spin-offs wertvolle Unterstützung bei der Definition der Organisation, und so konnten neue Vergütungsstrukturen und -systeme funktions- und landesgerecht aufgesetzt werden.
Die Verwaltung vieler HR-Prozesse konnte ebenfalls erneuert und zeitgemäß angepasst werden. So musste zum Beispiel auch unterhalb der vier Berichtsebenen unter dem Vorstand dafür Sorge getragen werden, dass die dort angesiedelten Funktionen anschlussfähig zu den Top-Funktionen eingestuft werden. Hierbei wurde die dort bisher genutzte Einstufungslogik von Siemens Energy in die Mercer-Logik und in das neu entwickelte System „Compensation Insights“, kurz „COIN“, von Siemens Energy übertragen.
COIN bietet nicht nur die Möglichkeit, alle Vergütungsdaten, Vergütungsbänder und Funktionseinstufungen zu speichern, sondern darüber hinaus eine Vielzahl an zukunftsweisenden weiteren Möglichkeiten zum interaktiven Vergütungsmanagement. Wie zum Beispiel die Option, Funktionen einzustufen und gleichzeitig mit den lokalen Vergütungsdaten zu hinterlegen.
Marc Muntermann
Head of Compensation & Benefits
Siemens Energy AG
marc.muntermann(*)siemens-energy(.)com
www.siemens-energy.com
Dr. Björn Hinderlich
Partner, Executive Rewards Solution, Leader Central & Eastern Europe
Mercer
bjoern.hinderilch(*)mercer(.)com
www.mercer.de