Bisher mussten Arbeitgeber nur Mehrarbeit sowie die Sonntags- und Feiertagsarbeit ihrer Beschäftigten erfassen. Das wird sich von nun an ändern. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) aus dem September dieses Jahres wies bereits darauf hin, dass sich aus dem Paragraphen 3 des Arbeitsschutzgesetzes auch die Pflicht ergibt, die generelle Arbeitszeit zu erfassen. Auf die Begründung zu diesem Urteil warteten vor allem die HR-Abteilungen, Arbeitgeber sowie die Arbeitsrechts-Kanzleien monatelang.
Wir erinnern uns: Im September hatte sich das BAG mit einem Fall befasst, bei dem es darum ging, ob Betriebsräte auf die Einführung eines elektrischen Arbeitszeiterfassungssystems pochen können und bei dieser Thematik ein Initiativrecht haben. Das haben sie nicht, entschied das Gericht. Dabei bezog es sich auf das Arbeitsschutzgesetz, was die Entscheidung zu einem Grundsatzurteil machte. Eine betriebliche Mitbestimmung und ein Initiativrecht sei ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt. Und die gebe es in Deutschland.
Wie das BAG das Gesetz nun auslegt
Denn in dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH), das im Jahr 2019 gefällt wurde, heißt es, dass Unternehmen, die in EU-Staaten ansässig sind, eine objektive, verlässliche und zugängliche Zeiterfassung vornehmen müssen, um ihre Mitarbeitenden zu schützen. Da aber das deutsche Arbeitszeitgesetz daraufhin nicht angepasst wurde und dem EuGH-Urteil keine Direktwirkung zugesprochen wird, folgte aus diesem Urteil auch keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für die Arbeitgeber. Auf Seiten des Gesetzgebers ruhte das Thema seitdem bis zum besagten BAG-Grundsatzurteil, das die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland als bereits gegeben sah.
Aus der Begründung des BAG-Grundsatzurteils ergibt sich nun, dass Arbeitgeber Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit erfassen müssen. Die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems reicht dabei nicht aus. Bei Lisa-Marie Niklas, Arbeitsrechtspartnerin der Kanzlei ARQIS, haben wir genauer nachgefragt: „Der Arbeitgeber muss die Arbeitszeit tatsächlich erfassen – kann diese Aufgabe aber auf den Arbeitnehmer übertragen. In diesem Fall muss er die Zeiterfassung aber auch kontrollieren“. Dass das System auch wirklich genutzt werden muss, ergibt Arbeitsrechtsexperte Michael Fuhlrott zufolge auch Sinn: „Wenn es eine Pflicht gibt, Helme zu tragen auf der Baustelle, kann ich als Arbeitgeber auch nicht sagen, ich leg da mal welche hin. Er muss auch die Einhaltung dessen überprüfen.“
Aktuell noch ein großer Gestaltungsspielraum
Im Gegensatz zum diesjährig novellierten Nachweisgesetz, bei dem sich der Gesetzgeber dazu entschieden hat, dass die Arbeitsbedingungen schriftlich festgehalten werden müssen, gibt es noch keine Vorgaben, ob eine Zeiterfassung schriftlich oder digital erfolgen muss. Daher ist derzeit beides möglich. Wo es einen Gestaltungsspielraum gibt, hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht. Dies könnte sich aber ändern, wenn der Gesetzgeber das Arbeitszeitgesetz reformieren sollte. „Ebenfalls noch nicht genauer definiert und daher möglich ist der Einsatz mehrerer Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit“, sagt Arbeitsrechtlerin Niklas. So könnte es für Angestellte in Produktionen, die unter Umständen keinen Dienstlaptop haben, eine schriftliche Erfassung geben, während die Angestellten im Büro ein digitales System verwenden.
Ebenfalls unklar ist, ob leitende Angestellte bei der verpflichtenden Erfassung ausgenommen sind. Im Arbeitszeitgesetz ist diese Personengruppe von der Pflicht ausgeschlossen – das BAG stützt seine Begründung aber auf das Arbeitsschutzgesetz, in dem sie es nicht sind. Aus der weiteren Begründung des BAG ergibt sich für Niklas eine Tendenz: „Mit hundertprozentiger Sicherheit kann man nicht sagen, dass die Arbeitszeiterfassung auch für leitende Angestellte gilt – wahrscheinlich ist es aber so.“ Wer als Arbeitgeber auf Nummer sicher gehen will, solle auch leitende Angestellte mitbedenken. Ohnehin zählen sehr viel weniger Mitarbeitende zu den leitenden Angestellten als viele Unternehmen denken. „Die Anforderungen dafür sind sehr hoch und in den meisten Unternehmen dürfte nur die oberste Führungsetage dazu zählen“, sagt die Arbeitsrechtlerin. Als Beispiel nennt sie die Voraussetzung, dass der oder die leitende Angestellte zur selbständigen Einstellung und Entlassung von Personal berechtigt ist oder eine Generalvollmacht oder Prokura haben muss, die im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht unbedeutend ist.
Ist New Work gefährdet?
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts macht Druck auf den Gesetzgeber, die Vorgaben des EuGH in Deutschland zu implementieren. Eine Novelle des Arbeitszeitgesetzes ist Experten zufolge dringend notwendig – und eigentlich ja schon seit des EuGH-Urteil im Jahr 2019 überfällig. Und je nachdem, wie die Politik die Gesetze zur Arbeitszeiterfassung hierzulande ausgestaltet, könnte die Art und Weise, wie wir arbeiten, beeinflusst werden. „Unternehmen werden nun Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung einrichten müssen“, sagt Michael Kalbfus, Associated Partner der Kanzlei Noerr und Fachanwalt für Arbeitsrecht. „Neben dem erheblichen Aufwand, der hierdurch auf Unternehmen zukommt, bedeutet diese Entscheidung wohl auch einen teils erheblichen Rückschritt in Bezug auf die in jüngerer Vergangenheit sehr beliebt gewordenen flexiblen Arbeitsmodelle.“
Unmöglich sind flexible Arbeitszeitmodelle zwar nicht, solange erfasst wird, wann denn gearbeitet wird und wann nicht. Doch das ist mit einem Aufwand verbunden und unpraktisch, wie Bitkom-Präsident Achim Berg anmerkt. Zum Homeoffice gehöre für ihn „auch, zwischendurch ein privates Telefonat zu führen, zwischendurch Besorgungen zu machen, im Homeoffice für die Kinder da zu sein oder auch mal eine Runde zu joggen“. Sich für solche Aktivitäten jeweils einige Minuten aus einer Arbeitszeiterfassung auszubuchen, helfe niemandem und nerve alle.
Sorgenkind Vertrauensarbeitszeit
Wichtigste Aufgabe bei der Novelle des Arbeitszeitgesetzes muss sein, nicht alle Beschäftigten über einen Kamm zu scheren und insbesondere die Vorteile der Vertrauensarbeitszeit weiter nutzbar zu machen, anstatt sie zu erschweren oder gar zu verhindern.“, sagt Berg. Je nachdem, wie Unternehmen die Vertrauensarbeitszeit definieren, ist sie auch nach dem BAG-Urteil noch möglich. Ein selbstbestimmtes Arbeiten mit freier eigener Planung der Zeit ist weiterhin zulässig. Bei wem darunter verstanden wurde, dass Arbeitnehmer dies nirgends festhalten müssen, muss dieses Arbeitszeitmodell nun aber eingestellt oder angepasst werden. Die Erfassung der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit sowie jeglicher Arbeit an Sonn- und Feiertagen war auch bei Vertrauensarbeitszeit schon immer erforderlich und wurde nun nochmals bestätigt. „Was Arbeitgeber aber nicht müssen, ist die erfassten Zeiten zu kontrollieren wie bei der ‚normalen‘ Arbeitszeitregelung“, sagt Niklas.
Im Gegensatz zur schon immer verpflichtenden Erfassung der Mehr- oder Sonn- und Feiertagsarbeit wurden bei der Erfassung der generellen Arbeitszeit in dem neuen Urteil noch keine Bußgelder definiert. Niklas erklärt: „Mit Strafzahlungen bei fehlender oder falscher Zeiterfassung müssen Unternehmen derzeit nur rechnen, wenn es vorher schon eine Prüfung und Anordnungen durch die Behörden gab.“ In einer etwaigen Überarbeitung des Arbeitszeitgesetzes durch den Gesetzgeber werde dies aber mit Sicherheit an die Vorgaben zur Erfassung bei Mehrarbeit angepasst – es ist also nur eine Frage der Zeit, bis ein Arbeitgeber für einen Verstoß sanktioniert wird.
Arbeitszeiterfassung: Warten oder umsetzen?
Bis zur jetzigen Begründung haben viele Unternehmen noch nicht auf das Urteil reagiert – wohl in manchen Fällen auch in der Hoffnung, dass alles so bleibt, wie bisher. Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott beobachtet: „Diese Schonfrist, die nie eine war, ist nunmehr verstrichen. Es gibt keinen berechtigten Grund mehr, warum ein Unternehmen mit der Arbeitszeiterfassung warten kann.“
Das sieht die Kanzlei ARQIS anders. Sie weist daraufhin, dass das Urteil zur Arbeitszeiterfassung zunächst einmal nur bindend für die Parteien des Rechtsstreites sei. Zwar lege das BAG darin bereits geltendes Recht aus, doch es „verweist an vielen Stellen auf den Gesetzgeber und dessen Handlungspflicht“, was für die Kanzlei ein Grund ist, mit der Einführung einer Arbeitszeiterfassung zu warten. Fuhlrott merkt an, dass das BAG in seinem Urteil sagt, dass aus der unionsrechtskonformen Auslegung des § 3 ArbSchG eine entsprechende Pflicht folgt. „Damit ist es letztlich doch das Gesetz, das eine Zeiterfassung vorschreibt.”
Das Bundesarbeitsministerium selbst schreibt auf seiner Webseite in einem FAQ zur Arbeitszeiterfassung zwar, die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung sei „bereits heute geltendes Recht” und verneint die Frage, ob man als Unternehmen warten könne bis das Arbeitszeitgesetz an die Rechtsprechung des BAG angepasst ist. Doch das ist den Anwältinnen und Anwälten von ARQIS zufolge rechtlich nicht bindend.
Die Kanzlei rät daher von übereilten Maßnahmen ab, zumal etwa die Einbindung des Betriebsrates in etwaige Neuregelungen nicht vergessen werden sollte. Zudem sei im ersten Quartal 2023 zumindest mit einem Eckpunktepapier aus dem Bundesarbeitsministerium zu rechnen.
Bis dahin sollten Unternehmen aber nicht untätig bleiben: „Eine sorgfältige Analyse und anschließend Einführung oder Anpassung eines Zeiterfassungssystems sind die Schritte, die meines Erachtens nunmehr vorgenommen werden sollten”, sagt Michael Fuhlrott. Die Anschaffung teurer Systeme könne unter dem Aspekt, dass aus dem BMAS zeitnah etwas kommen wird, vielleicht noch kurzfristig zurückgestellt werden.
Zur Entscheidung des BAG kommen Sie über diesen Link.
Der Artikel erschien zuerst auf unserer Schwesterseite Personalwirtschaft.de.
Gesine Wagner ist hauptverantwortlich für die Themen Arbeitsrecht, Politik und Regulatorik und ist Ansprechpartnerin für alles, was mit HR-Start-ups zu tun hat. Zudem schreibt Sie über Recruiting und Employer Branding.