Ende April lag die Inflationsrate mit 7,4 Prozent auf dem höchsten Stand seit Herbst 1981. Was das für die kommenden Gehaltsrunden und Tarifabschlüsse bedeutet, erläutert Vergütungsexperte David Voggeser, Partner und Vergütungsexperte bei der hkp///group.
Wir sehen uns seit einigen Monaten mit selten hohen Preiserhöhungen konfrontiert. Von welchen Zahlen sprechen wir konkret?
David Voggeser: Nach Jahren der Null-Teuerung erscheinen uns die aktuellen Werte unwirklich hoch. Noch 1992 erreichte die Teuerung einen Wert von 5,1 Prozent, 1991 und 1993 lag sie bei 3,7 Prozent beziehungsweise 4,4 Prozent. Im März 2022 haben wir nun für Deutschland einen vorläufigen neuen Höchstwert von über sieben Prozent gesehen. Die Zeit, in der Arbeitnehmer mit rund 2,5 Prozent, also der durchschnittlichen Erhöhung der außertariflichen Vergütung in den letzten Jahren, reale Gehaltssteigerungen realisieren konnten, scheint erst einmal vorbei. Im Gegenteil, wir werden uns auf eine längere Phase höherer Zinsen und damit verbunden Preissteigerungen einstellen müssen.
Also müssen Arbeitnehmer mit einem Reallohnverlust rechnen?
Ja, aber bei aller verständlichen Sorge sollten wir uns vergegenwärtigen, dass hinter uns eine Phase stabiler Reallohnzuwächse liegt. Es wäre daher ein falscher Schluss, aufgrund punktuell hoher Inflationswerte mit Gehaltserhöhungen deutlich über der aktuellen Teuerung zu kalkulieren. Die genannten hohen Werte wurden ja erst in den vergangenen Monaten gemessen. Allerdings sind Anfang des Jahres die meisten Wirtschaftsinstitute noch von einer starken Abschwächung der Inflation ab Mitte 2022 ausgegangen. Diese Annahme dürfte sich angesichts der restriktiven Null-Covid-Politik Chinas mit den Auswirkungen auf die Lieferketten, aber insbesondere durch den von Russland ausgelösten Ukraine-Krieg und die damit verschärfte Energie- und Rohstoffknappheit als zu gering erweisen. Wir werden international hohe Inflationsraten sehen.
In welchen Dimensionen müssen wir also rechnen?
Die Prognosen von gestern gehören schon wieder auf den Prüfstand. Der IWF geht für dieses Jahr für Deutschland von einer Inflation von 5,5 Prozent aus, die Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute von 6,1 Prozent. Gleichzeitig rechnen diese Quellen schon für 2023 wieder mit Werten von unter drei Prozent; andere, wie das Ifo-Institut, sogar mit 1,8 Prozent, und sehen unsere Gesellschaft damit wieder auf dem Weg in eine weitgehende Normalität – wozu ich im Übrigen eine Nullzins-Phase nicht zähle.
Inflation erst rauf, dann wieder runter. Welche Konsequenz hat das für die nächsten Gehaltsrunden?
Die Schwankungsbreite bei der Teuerungsrate und die damit in der Regel verbundene intensive öffentliche Debatte machen es Unternehmen natürlich nicht leicht. Zum einen haben habe sie schon bei den letzten außertariflichen Gehaltserhöhungen im Oktober/November 2021 eine höhere Inflationsrate berücksichtigt und im Schnitt höhere Gehaltsanpassungen umgesetzt. Unsere Studien belegen zwischen 2,9 Prozent bis drei Prozent im außertariflichen Bereich. Diese Werte liegen durchweg über den Gehaltssteigerungen der letzten Jahre und haben so bereits einen Teil der Inflation aufgefangen.
Können wir davon ausgehen, dass sich Arbeitgeber bei den Gehaltsanpassungsbudgets im AT-Bereich an Tarifabschlüssen orientieren?
Das ist eine in der Vergangenheit bewährte Routine. Aber die Werte sind natürlich nicht für alle Unternehmen und Industrien unisono zu erwarten.
Also rechnen Sie mit großen branchen- und funktionsspezifischen Unterschieden?
Wahrscheinlich werden wir in den finalen Tarifeinigungen der verschiedenen Branchen relevante Unterschiede sehen, Ähnliches gilt für den AT-Bereich. Dabei ist davon auszugehen, dass Industrien, die auf Einkaufsseite weniger von höheren Preisen betroffen sind oder diese besser weitergeben können, höhere Anpassungen vornehmen können als vor allem auch solche Unternehmen, die schon in den Pandemiejahren wirtschaftlich zu kämpfen hatten. Erste Abschlüsse, zum Beispiel im Banken- und Versicherungsgewerbe, sind mit drei Prozent für 2022 definiert, 2023 sollen es dann rund zwei Prozent sein. Gehen wir für die Metall- und Elektroindustrie in Deutschland von einem Abschluss in der Spanne zwischen drei und vier Prozent aus, wäre dies sicherlich ein Orientierungspunkt für die AT-Vergütung dort. Grundsätzlich dürften die Budgets in den Extremwerten von 0,8 Prozent bis knapp über sechs Prozent streuen.
Sind Nullrunden zu erwarten?
Nullrunden sind nur in Einzelfällen geplant. In unseren Umfragen vom Anfang des Jahres hat beispielsweise noch kein Unternehmen eine Nullrunde gemeldet. Aber die Zeiten können sich schnell ändern.
Sehen Sie die Gefahr einer Hyperinflation?
Von einer Hyperinflation für die Euro-Zone, aber auch die USA und andere starke Volkswirtschaften, geht derzeit niemand ernsthaft aus, anders als in Ländern wie Argentinien, Venezuela, Weiß-Russland oder künftig wahrscheinlich auch Russland. Auch in der Türkei scheint sich eine solche Entwicklung zu verfestigen.
Wie sollten Arbeitgeber mit Hyperinflation umgehen?
Hier braucht es zweifelsohne abweichende Anpassungsmechanismen. Ab wann diese in einem Land greifen, haben viele Unternehmen intern mit speziellen Grenzen definiert, zum Beispiel ab 15 Prozent pro Jahr. Im Ergebnis finden dann für die betreffenden Länder zwei oder vier Gehaltsanpassungen pro Jahr statt, zum einen, um Mitarbeitern den Lebensunterhalt abzusichern, zum anderen aber auch, um die Effekte gestiegener Personalkosten schneller berücksichtigen zu können.
Für Expats sollten diese Entwicklungen kein Thema sein, oder doch?
Das kommt auf die konkreten Regelungen an. In den meisten Unternehmen sehen wir für entsandte Mitarbeiter eine vollständige oder teilweise Koppelung der Vergütung an eine stabilere Währung – in der Regel den Euro, alternativ den Dollar. Für Expats bestehen auch Modelle, über die ein Teil des Wertverhältnisses der Währung im Gastland zur Währung des Heimatlandes abgesichert ist.
Welche Spielräume bieten sich Arbeitgebern bei der Umsetzung von Gehaltsanpassungen?
So wenig einheitlich wie die Gehaltserhöhungen ausfallen werden, so unterschiedlich wird am Ende deren Umsetzung erfolgen. Allerdings eröffnen sich hier taktische Spielräume. Beispielsweise ob eine Gehaltserhöhung von 3,5 Prozent erfolgt oder – wie oft im Tarifbereich üblich – Einmalzahlungen geleistet werden. Letztere haben den Vorteil, dass sie nicht als Basis für spätere Gehaltserhöhungen einfließen. Und natürlich sollte sich jedes Unternehmen fragen, ob höhere Gehaltsbudget im AT-Bereich per Gießkanne verteilt werden sollten.
Welche Alternativen bieten sich im AT-Bereich?
Hier wird die Vergütung nicht nur über die Inflation angepasst, sondern es fließen stärker strukturelle Entwicklungen ein. Also Beförderungen oder Gehaltsentwicklungen, die die individuelle Lage im Vergütungsband oder den individuellen Erfahrungsgewinn und Leistungsfaktor berücksichtigen.
Sehen Unternehmen die aktuellen Inflationsentwicklungen als lösbares Problem, oder befürchten sie langfristig schwerwiegende Herausforderungen?
Die Unsicherheit ist ohne Frage sehr hoch. Fakt ist, dass die aktuellen Gehaltsanpassungen über jenen der letzten Jahre liegen werden. Dabei empfehlen wir, die konkreten Werte auf Basis der vergangenen und nächsten Monate zu definieren. Mit diesem so kalkulierten höheren Gehaltsbudget sollte dann stärker denn je nach Leistung differenziert werden. Über diesen Ansatz lässt sich zugleich der Druck auf erfolgskritische Positionen lindern und eine ungewollte Fluktuation von Top-Talenten verhindern. Auch im internen Vergleich identifizierte Defizite – Stichwort Equal Pay – lassen sich über höhere Budgets gut anpassen. Unternehmen können also von der aktuellen Situation auch profitieren. Sie müssen sie aber aktiv und bewusst angehen.
Christiane Siemann ist freie Journalistin und Moderatorin aus Bad Tölz, spezialisiert auf die HR- und Arbeitsmarkt-Themen, die einige Round Table-Gespräche der Personalwirtschaft begleitet.