An über 60 Labor- und Praxisstandorten in Deutschland und Belgien bietet die amedes-Gruppe medizinisch-diagnostische Dienstleistungen für Patienten, niedergelassene Ärzte und Kliniken an. Täglich werden in den Laboren der Gruppe über 150.000 Proben bearbeitet. Als erstes größeres Unternehmen der medizinisch-diagnostischen Branche führt amedes derzeit einen Haustarifvertrag ein.
Herr Burghardt, was gab den Anstoß zur Einführung eines Haustarifvertrags in der amedes-Gruppe?
Stefan Burghardt: Nach dem Einstieg eines Investors im Jahr 2008 ist die amedes-Gruppe vor allem durch Akquisitionen stark gewachsen. Seitdem haben wir die Zahl der Mitarbeiter auf 3.200 Personen mehr als verdreifacht. Hinzu kommen noch etwa 350 Ärzte und wissenschaftliche Mitarbeiter. Das schnelle Wachstum führte dazu, dass in der Gruppe eine Vielzahl an verschiedenen Vergütungsmodellen parallel nebeneinander existierte. Um diesen Wildwuchs zu bereinigen, haben wir 2014 begonnen, einen Haustarifvertrag zu entwickeln.
Warum gerade einen Haustarifvertrag?
Stefan Burghardt: Tarifverträge haben ein etwas verstaubtes Image – aus meiner Sicht zu Unrecht, denn sie sind ein gutes Tool zur Förderung von Fairness und Transparenz. Wir haben uns bewusst für einen Haustarifvertrag entschieden, weil wir dieses Instrument so gestalten konnten, dass es optimal zu unserer Unternehmensgruppe passt und flexibel bleibt. Wir haben unseren Tarifvertrag mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, kurz IG BCE, und mit Unterstützung des Allgemeinen Norddeutschen Arbeitgeberverband e.V., kurz ANA, ausgehandelt. Dem Flächentarifvertrag der IG BCE wollten wir nicht beitreten, weil dessen Inhalt aus unserer Sicht zu stark auf die chemische Industrie ausgerichtet ist und nicht optimal zu unseren vielfältigen medizinischen Funktionen passt. Wir konnten aber viele Strukturen aus dem Flächentarifvertrag adaptieren.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem eigenen Tarifvertrag?
Stefan Burghardt: Wir wollen zum einen die Vergütungsstruktur in der amedes-Gruppe nach dem schnellen Wachstum homogenisieren. Zum anderen brauchen wir eine transparente Vergütungsstruktur, damit sich die Mitarbeiter orientieren können und damit wir neue Fachkräfte für uns gewinnen können. Wir sehen in unserem Tarifvertrag einen wesentlichen Baustein für eine partnerschaftliche und faire Unternehmenskultur.
Welche Inhalte hat der Haustarifvertrag?
Stefan Burghardt: Der Vertrag besteht aus drei Teilen, einem Manteltarifvertrag, der im Wesentlichen die nichtmonetären Fragen regelt wie etwa den Urlaub oder die Arbeitszeit, einem Entgeltrahmentarifvertrag, der die acht vertikalen Entgeltgruppen definiert, und dem Entgelttarifvertrag, der die Höhe der Einkommen je Entgeltgruppe festschreibt. Die Grenze nach oben zum außertariflichen Bereich haben wir pauschal bei einem monatlichen Bruttoeinkommen von 4.700 Euro festgelegt, unabhängig von Funktionen und Hierarchieebenen. Rund 2.900 Mitarbeiter gehören dem Tarifbereich an, etwa 450 Mitarbeiter zählen zum AT-Bereich oder sind leitende Angestellte. Darüber hinaus haben wir einen Tarifvertrag zur Betriebsrätestruktur mit der IG BCE abgeschlossen. Neben den Betriebsratsstrukturen haben wir festgelegt, dass unsere Ärzte als homogene Gruppe zu den leitenden Angestellten gehören. Sie sind damit der Mitbestimmung der Betriebsräte entzogen und fallen auch nicht in den Anwendungsbereich des Haustarifvertrages.
Wie verliefen die Verhandlungen mit der IG BCE?
Stefan Burghardt: Sie waren gut und konstruktiv. Der ANA hat uns dabei beratend unterstützt. Wir haben aber auch selbst viel beigetragen, weil es einen solchen Tarifvertrag für die medizinisch-diagnostische Branche noch nicht gab. Natürlich haben wir zunächst den Markt nach Vorbildern gescannt und alles zusammengetragen, was wir übernehmen konnten. Beispielsweise haben wir uns für unseren Laborbereich an der Systematik des Flächentarifvertrags der IG BCE orientiert. Andere Teile haben wir selbst entwickelt, weil unser Unternehmen mit allen Funktionsprofilen sehr breit aufgestellt ist. Die Schwierigkeit bestand darin, die verschiedenartigen Funktionen und Qualifikationen der Mitarbeiter in unserer Unternehmensgruppe miteinander vergleichbar zu machen. Dieser Arbeitsschritt mit den dazugehörenden Verhandlungen hat zwei Jahre gedauert. Wir mussten uns jeden Standort und jeden Mitarbeiter anschauen, um ihn einzugruppieren und um jeweils eine Vergleichbarkeit herzustellen.
Inwieweit hat die amedes-Gruppe dabei Korrekturen an den Gehältern einzelner Mitarbeiter vornehmen müssen?
Stefan Burghardt: Für die Festlegung der Entgeltstruktur haben wir uns an den definierten Entgeltgruppen orientiert. Bei der Eingruppierung sind natürlich Mitarbeiter aufgefallen, die unterhalb oder oberhalb des jeweiligen tariflichen Niveaus lagen. In einem zweistufigen Verfahren haben wir das Entgelt der Unterschreiter angehoben, also der Mitarbeiter, die unter dem Tarifniveau lagen. 2016 haben wir die Gehälter dieser Mitarbeiter um 50 Prozent der Differenz zum Tarifniveau erhöht, 2017 folgen die zweiten 50 Prozent. Im Ergebnis steigen unsere Personalkosten zwar um 4 Prozent, doch wir haben die in der Vergangenheit teilweise vorherrschende Entgeltungerechtigkeit in unserer Gruppe beseitigt. Das Gehalt der Mitarbeiter, die über Tarifniveau lagen, der sogenannten Überschreiter, wurde als statistischer Besitzstand festgeschrieben, also nicht reduziert. Der Überhang wird bei der regulären tariflichen Entwicklung, das heißt bei Entgeltgruppensprüngen, angerechnet.
Wie verlief die Einführung des Tarifvertrags?
Stefan Burghardt: Im Mai 2016 lag der verhandelte Vertrag fertig vor. Nun begann die Transformationsphase. Weder die IG BCE noch der ANA besaßen Erfahrung mit der erstmaligen Einführung eines solch komplexen Vertragswerks in einem so dezentral aufgestellten Unternehmen wie der amedes-Gruppe. Wir haben uns deshalb für den Start des Roll-outs unseren Standort mit der größten Vielfalt in der Vergütung ausgesucht. So haben wir gleich am Anfang sehr viel über die Herausforderungen, die mit der Implementierung einhergehen, gelernt. Wir haben intensiv mit den Mitarbeitern kommuniziert und ihnen in einem persönlichen Anschreiben und in Gesprächen ihre neue Eingruppierung in die Entgeltgruppen mitgeteilt. Im amedes-Intranet haben wir die Tarifverträge sowie weitere Informationen zum Thema zur Verfügung gestellt. Um darüber hinaus Unklarheiten bei der Eingruppierung objektiv klären zu können, haben wir den Mitarbeitern ein Widerspruchsrecht eingeräumt. Mit seinem Widerspruch kann ein Mitarbeiter erreichen, dass eine Kommission die Eingruppierung noch einmal prüfen muss. Sofern wir mit den Mitarbeitern Einigkeit erzielen, muss der zuständige Betriebsrat noch formal zustimmen. Liegt diese Zustimmung vor, gilt der Tarifvertrag für die Mitarbeiter, die mit der Eingruppierung einverstanden sind. Das hat an unserem ersten Standort funktioniert, so dass wir bis heute Standort für Standort auf diese Weise durchgegangen sind. Oft stoßen wir auf lokale Besonderheiten, die die Einführung des Tarifvertrages erschweren. Doch trotz mancher Kontroverse arbeiten alle Seiten, also Arbeitgeber, Betriebsräte und Gewerkschaft, konstruktiv zusammen. Aktuell haben wir eine Umsetzungsquote von 70 Prozent aller Mitarbeiter in Deutschland erreicht. Ende April wollen wir mit der Einführung an allen Standorten durch sein. Das ist auch gut, denn Ende 2017 stehen die nächsten Tarifverhandlungen an. Dann müssen wir schauen, an welchen Stellen wir den Tarifvertrag und die Vergütungskomponenten nachschärfen müssen, wobei die Erfahrungen aus der Einführungsphase mit einfließen werden.
Welche strategischen Ziele steuert die amedes-Gruppe mittelfristig an?
Stefan Burghardt: Wir wollen in unseren regionalen Märkten weiter wachsen, sowohl durch Zukäufe als auch durch organisches Wachstum. Die technische und medizinische Weiterentwicklung unserer Verfahren spielt dabei eine Schlüsselrolle. Damit werden auch neue Funktions- und Jobprofile entstehen, die wir dann gut über die Qualifikation, die Berufserfahrung und die Tätigkeitsbeschreibung in unseren Tarifvertrag integrieren können. Das Instrument Tarifvertrag wird zudem die Integration neuer Mitarbeiter nach einer Akquisition erleichtern und als integraler Teil einer offenen und fairen Unternehmenskultur auch neue Mitarbeiter für amedes begeistern.
Der Tarifvertrag regelt also das gesamte Vergütungspaket?
Stefan Burghardt: Bei der Gesamtvergütung spreche ich immer von einem Vergütungsdreieck. Der Haustarifvertrag bildet die Basis. Die leistungsorientierte Vergütung sowie funktionsbezogene Zulagen vervollständigen das Vergütungspaket. Tarifmitarbeiter können neben dem tariflichen Gehalt noch von der neuen leistungsorientierten variablen Vergütung profitieren, die wir 2017 einführen werden. Hiermit belohnt amedes individuelles Engagement. Dafür haben wir Leistungskriterien für jede Funktionsgruppe definiert. Ferner entwickeln wir gegenwärtig ein System funktionsbezogener Zulagen, um die tariflichen Eingruppierungen zu ergänzen. Die leistungsorientierte variable Vergütung und die Festlegung der Systematik funktionsbezogener Zulagen sind Gegenstand von Gesamtbetriebsvereinbarungen und nicht Bestandteil von tarifvertraglichen Regelungen. Die Inhalte können wir direkt mit den Betriebsräten verhandeln und behalten bezüglich der Ausgestaltung die notwendige Flexibilität.
Welche sind die nächsten Schritte und Entwicklungen?
Stefan Burghardt: Nach der Einführung des Tarifvertrages werden wir uns der Weiterentwicklung der variablen Vergütung unserer AT-Mitarbeiter und unserer leitenden Angestellten zuwenden. Dabei ist uns wichtig, dass wir in die Bemessung der variablen Vergütung nicht nur finanzielle Kennzahlen einbeziehen, sondern auch Führungskennzahlen. Wir wollen gute Führung belohnen und unsere Unternehmenskultur auch in dieser Hinsicht weiterentwickeln.
Das Interview führte Dr. Guido Birkner.