„Positive Energie ist viel wichtiger als Einfluss und Kommunikation“

Loben und kritisieren im Verhältnis 5:1 – das ist die Faustformel, die der Organisationswissenschaftler Kim S. Cameron Führungskräften an die Hand gibt. Seine Führungsgrundsätze der „Positive Leadership“ werden von Unternehmen weltweit eingesetzt. Mit messbarem Erfolg.
Interview: Christian Thiele
Personalwirtschaft: Herr Cameron, „Positive Leadership“ – muss aus Ihrer Sicht die ideale Führungskraft also immer lächeln, nett sein und die rosarote Brille aufhaben?
Kim S. Cameron: Ein klares Nein. Unter „Positive Leadership“ verstehen wir auch deutlich mehr. Wenn ein Firmenchef mir sagt: „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich um Dankbarkeit, positive Energienetzwerke und diese ganzen anderen Dinge zu kümmern, die mit Positive Leadership zu tun haben“, kann ich entgegnen: „Wenn Sie mit einigen Verhaltensweisen Positive Leadership einführen und verbreiten, dann werden sich der Umsatz in Ihrem Unternehmen, die Produktivität, die Rentabilität, die Qualität Ihrer Produkte, die Kundenzufriedenheit und vieles mehr verbessern.“ Wir haben ziemlich viele, ziemlich harte Zahlen zu dem, was ich Positivitätsverhältnis nenne.
Was ist ein Positivitätsverhältnis?
Studien, die Führungskräfteteams untersucht haben, kamen zu dem Ergebnis, dass fünf positive Äußerungen pro kritische oder negative Äußerung die verschiedensten Erfolgsparameter eines solchen Teams optimal beeinflussen. Also fünfmal mehr Unterstützung, Wertschätzung, Lob als Kritik.
Kritik darf und muss also sein?
Es gibt dieses alte arabische Sprichwort: Zu viel Sonne schafft Wüste. So ist das in allen sozialen Zusammenhängen: Zu viel Sonne, zu viel Lob trocknet die Dinge aus. Menschen, Pflanzen und soziale Institutionen welken gleichermaßen, wenn sie nur Sonne erfahren.
Das klingt zunächst sehr technisch. Was heißt das konkret für Führungskräfte?
Die meisten von uns sind darauf konditioniert, Probleme zu sehen, Gefahren zu wittern, Fehler zu erkennen und zu optimieren. Das soll auch so sein. Wenn ich nach einer Woche Dienstreise oder Urlaub ins Büro zurückkomme, stapeln sich die Fragen und Probleme, und ich gehe sie an. Wenn Sie dabei aber den Fokus auf das Positive legen – und zwar eben nicht ausschließlich, sondern überwiegend –, auf das Ausbauen dessen, was gut funktioniert, dann verbessert sich die Performance in Ihrem Team, Ihrer Organisation enorm. Das konnten wir empirisch nachweisen. Und zwar deutlich mehr als mit herkömmlichen Führungsmethoden.
„In einer positiven, wertschätzenden Atmosphäre blühen Menschen auf.“
Sind die Methoden der Positive Leadership nicht eher ein Konzept für gut ausgebildete, hoch qualifizierte Berufe?
Diese Methoden funktionieren bei jedem. Wir haben Fernfahrer untersucht, die meisten von ihnen ohne Highschool-Abschluss, und haben eine dramatische Verbesserung verschiedenster Parameter messen können, wenn ihre Vorgesetzten Praktiken der Positive Leadership einsetzen. Der Grund dafür: der heliotropische Effekt.
Was ist der heliotropische Effekt?
Der Begriff kommt aus dem Griechischen, von Helios, Licht. Die Sonne ist in der Natur die lebensspendende Kraft, und jeder Organismus hat die Tendenz, sich nach ihr auszurichten. Wenn Sie eine Pflanze ans Fenster stellen, wird sie sich bald zum Licht wenden. Das bedeutet, dass jedes System danach strebt, seine Ressourcen zu mehren, und sich von dem, was Leben beendet oder beeinträchtigt, abwendet.
Übertragen Sie dieses Bild bitte von der Pflanzenwelt auf Menschen und Organisationen.
Sowohl Individuen als auch Gruppen und Organisationen blühen und wachsen bei der Zufuhr von positiver Energie – und bei negativem Einfluss schrumpfen und leiden sie. Es macht keinen Unterschied, ob Sie Grundschüler sind oder Doktorand, ob Sie am Fließband stehen oder CEO eines multinationalen Konzerns sind – jeder Mensch hat die Tendenz zur positiven Energie.
Ist das mit Studien belegbar?
Besonders viele Studien erscheinen derzeit dazu, wie Schulkinder aufblühen, wenn sie Positive Leadership ausgesetzt sind. Eine herausragende Doktorarbeit hat vor wenigen Jahren Schüler aus drei verschiedenen Ländern untersucht: In Bhutan, Mexiko und Peru wurden insgesamt rund 800 000 Schüler einem Curriculum an positiven Praktiken und Methoden ausgesetzt, parallel dazu wurde eine Kontrollgruppe untersucht. Nach 18 Monaten wurde unter anderem festgestellt, dass das Wohlbefinden der Schüler in verschiedenen Dimensionen viel besser war. Auch die akademische Leistung, gemessen an standardisierten Testverfahren, war signifikant höher. Der heliotropische Effekt lässt Menschen in einer positiven, wertschätzenden Atmosphäre aufblühen.
Wenn ich in einem Team oder Unternehmen Positive Leadership einführen will, was wären Techniken, um damit zu beginnen?
Es gibt eine ganze Schatzkiste an möglichen Methoden. Lassen Sie mich zwei oder drei herausgreifen, die besonders praktisch und einfach umzusetzen sind. Eins vorweg: Jedes dieser Tools hat ein gewisses „Ja, aber“ und nicht alles funktioniert überall gleich. Mit praktisch allem kann man es auch übertreiben.
Was wäre der erste Ansatz?
Eine Methode hat zu tun mit dem Thema Dankbarkeit. In einigen Firmen – und ich kenne das aus Konzernen mit 25 000 und mehr Mitarbeitern – hat jeder Mitarbeiter für sich ein tägliches Dankbarkeitstagebuch zu schreiben. Jeder muss drei Dinge aufschreiben, die besonders zufriedenstellend gelaufen sind. Damit erzielen Sie schon dramatische Effekte.
„Wirke ich mit positiver Energie auf Sie, steigern sich Ihre Kraft und Leistungsfähigkeit und die Ihrer Mitarbeiter.“
Und die zweite Methode?
Finden Sie Wege, mittels derer sich Ihre Belegschaft engagieren, etwas Nützliches für die Gemeinschaft tun kann. Die meisten Organisationen belohnen Mitarbeiter, die Besonderes geleistet haben, indem sie ihnen einen Bonus auszahlen oder ihren Namen in die Zeitung setzen. Effektiver ist es, jemandem, der Außerordentliches geleistet hat, die Möglichkeit zu verschaffen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.
Inwiefern kann der Mitarbeiter etwas zurückgeben?
Nehmen wir an, Sie sind mein Mitarbeiter, und Sie haben Herausragendes geleistet. Dann wäre meine Form der Anerkennung, Ihnen mitzuteilen: „Christian, Sie haben so Großartiges für die Firma geleistet, Sie dürfen Mentor werden für Claudia, damit die von Ihnen lernt und genauso Großartiges leisten kann.“ Oder wie hier bei uns an der Universität: Wenn jemand etwas Besonderes vollbracht hat, bekommt er zwei Belohnungen – eine für sich selbst und eine, die er an jemand anderen weitergeben darf. Jeder wird damit zum Schenkenden und nicht nur zum Beschenkten. Ein kleines, aber sehr wirksames Tool der Positive Leadership.
Und eine dritte Methode für den Anfang?
In der gesamten Literatur über Leadership wird Führung mit Einfluss gleichgesetzt. Es wird außerdem davon ausgegangen, dass eine Führungskraft besonders viel Wissen, Kommunikation und Austausch in sich vereint. Unsere Untersuchungen zur Führung richten sich aber auf die positive Energie. Wenn ich als Führungskraft mit Ihnen interagiere, sorge ich durch mein Handeln und meine Kommunikation eher dafür, dass Sie aufblühen, sich wertgeschätzt fühlen, positive Gefühle und Sinn empfinden – oder trage ich dazu bei, dass Sie schlechter Stimmung sind, Druck empfinden und weitergeben? Wirke ich mit positiver Energie auf Sie, steigern sich Ihre Kraft und Leistungsfähigkeit und die Ihrer Mitarbeiter. Wer so ein positiver Energetisierer ist, hat viermal so großen Einfluss auf die Leistung seines Teams, als wenn wir die Führung nach den traditionellen Kriterien Wissen und Einfluss messen würden.
Positive Energie ist also viel wichtiger als Einfluss und Kommunikation?
Ja, die meisten Führungskräfte beschäftigen sich viel zu sehr mit dem Einfluss und der Kommunikation und viel zu wenig mit der positiven Beziehungsenergie, die sie aussenden könnten. Eine brachliegende Ressource, auf die bislang fast niemand achtet. Positive Energie vermehren kann auch die Person, die die Hauspost austrägt, völlig unabhängig von Rang und Einfluss – den Zugang zu Einfluss und Information haben aber eben nur die Menschen, die oben in der Hierarchie stehen. Es geht um Verhaltensweisen und nicht einfach um per Organigramm zugewiesene Befugnisse.
Was kann HR tun, um Positive Leadership zu fördern?
Ich habe da leider keinen Fünf-Punkte-Plan. Aber per Definition geht es bei Human Resources ja darum, Talente zu entwickeln, Menschen zum Aufblühen zu bringen, Mitarbeitern dabei zu helfen, besser zu werden. Leider geht es in vielen Personalabteilungen nur darum, blind Lob zu verteilen, für die Überwachung von Regeln zu sorgen oder um die Organisation von Trainings, um dieses oder jenes zu verbessern. Wenn eine Personalabteilung es sich aber wirklich zu Herzen nimmt, dafür zu sorgen, dass es den Beschäftigten nächstes Jahr besser geht als dieses Jahr, dass sie leistungsfähiger sind als dieses Jahr, dann verändert das ein Stück weit die Aufgabenbeschreibung von Personalwesen.
Welche Aufgaben sehen Sie noch bei HR, wenn es sich der Positive Leadership verschreibt?
HR kann das Topmanagement im Streben nach Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit unterstützen. Es ist ja so leicht für die Führungsspitze eines Unternehmens, sich in den Anforderungen der Aktionäre oder den Herausforderungen durch Wettbewerber komplett zu verlieren. Eine wirklich starke Personalabteilung im Sinne der Positive Leadership fordert und fördert den CEO dabei, die Talententwicklung in den Blick zu nehmen. Ich kenne HR-Manager, die buchstäblich den Kalender des CEO zu überwachen haben, damit er genügend Zeit für die Mehrung des Humankapitals aufbringt.
„Eine wirklich starke Personalabteilung fordert und fördert den CEO dabei, die Talententwicklung in den Blick zu nehmen.“
Welche Unternehmen verfahren so?
Ich denke da zum Beispiel an Philips. Da hatte die Personalabteilung regelmäßig jene Zeit zu veröffentlichen, die der CEO mit der Förderung des Humankapitals und des Wohlbefindens der Belegschaft verbracht hat. In eine ähnliche Richtung gehen die Bemühungen bei der amerikanischen Krankenversicherung Humana. Und John Kim von New York Life versucht auch immer wieder, sich gegen kurzfristigen Shareholder-Value-Druck zur Wehr zu setzen und seine Arbeit auf das Wohl der Mitarbeiter zu fokussieren.
Blicken wir auf Ihre Arbeit in der Forschung. Was passiert gerade wissenschaftlich auf dem Feld der Positive Leadership, was treibt Sie da um?
Ein Feld, auf dem sich wirklich viel tut derzeit, sind die Neurowissenschaften. Wir wissen zum Beispiel aus neuen Studien, dass wir anhand der positiven Inhalte von Twitter-Nachrichten, die eine Person aussendet, die Wahrscheinlichkeit einer Herzerkrankung vorhersagen können. Außerdem habe ich gelernt, dass ich durch bestimmte positive Praktiken die Zellen in meinem Gehirn, die Telomere, verlängern kann. Das sind natürlich Grenzbereiche, die über die klassische Positive Leadership hinausgehen. Aber was bedeutet das jetzt für meine Organisation, für mein Unternehmen? Das sind die Fragen, mit denen ich mich auseinandersetze. Und in diesem Bereich erscheinen praktisch jede Woche neue Studien, die mehr und mehr harte Zahlen, Daten, Fakten als Belege dafür liefern, dass es sich lohnt, Praktiken der Positive Leadership einzuführen.
Wo liegt in den nächsten Jahren der Forschungsfokus bezüglich Positive Leadership?
Wir brauchen noch mehr Forschung dazu, unter welchen Umständen, in welchen Settings, mit welchen Nuancen welche Tools wirklich welchen Einfluss in welchen Bereichen haben. Wo ist etwas zu viel, wo ist etwas zu wenig, was funktioniert gut, was funktioniert nur selten – zu vielen dieser Komplexitäten brauchen wir weitere wissenschaftliche Erkenntnisse. Es gibt immer noch zu wenige Menschen, die in diesen Bereichen forschen. Das ist ein wichtiger Punkt – der nächste ist die organisationale Kultur.
Was meinen Sie mit organisationaler Kultur?
Damit meine ich die unhinterfragten und manchmal auch nicht hinterfragbaren, impliziten Gesetzmäßigkeiten und Selbstverständlichkeiten, die in einer Firma oder einer anderen Organisation von allen vorausgesetzt werden. Keiner von uns beiden hat sich bewusst vorgenommen, heute mal Schuhe anzuziehen. Das machen wir, ohne darüber nachzudenken. Und so ist das mit Unternehmenskulturen auch: Die Menschen in einem Unternehmen folgen gewissen Regeln, befolgen Gesetze, ohne sich derer bewusst zu sein.
Was hat das mit Positive Leadership zu tun?
Durch die Praktiken der Positive Leadership können wir Unternehmenskulturen schaffen, in denen Integrität, Freundlichkeit, Optimismus, Dankbarkeit eine prominente Rolle spielen. Und wenn wir das hinbekommen, ist eine Organisation viel effektiver und leistungsfähiger. Das interessiert mich als Wissenschaftler: Wie können wir Positive Leadership in den Unternehmenskulturen als Selbstverständlichkeit verankern? Ich war daran in einigen Unternehmen beteiligt, aber dazu braucht es noch mehr empirische Forschung.
Zur Person:
Professor Dr. Kim S. Cameron ist stellvertretender Dekan der Ross School of Business der Universität Michigan und lehrt im Fachbereich Management und Organisationen. Er ist Mitgründer des dortigen Center for Positive Organizational Scholarship und berät verschiedene Unternehmen, die US-Regierung sowie Bildungsorganisationen in Amerika, Afrika, Asien und Europa. Cameron promovierte in Yale. Seine jahrelange Forschung über Themen wie Personalabbau brachte ihn zu seinem speziellen Forschungsgebiet Positive Leadership. Bisher veröffentlichte er mehr als 140 akademische Beiträge und 15 Bücher. Momentan forscht Cameron über die Tugendhaftigkeit in und von Unternehmen sowie deren Beziehungen zu organisationalem Erfolg.
Das Konzept Positive Leadership
Positive Leadership ist ein Führungs- und Motivationsmodell, das auf positiver Psychologie nach Seligman basiert und die Leistungen von Mitarbeitern, Teams und Unternehmen steigern soll. Kim S. Cameron ist einer der einflussreichsten Vertreter der Positive Leadership. Laut seiner Theorie bedarf es vier Basisstrategien, um erfolgreicher zu sein: positives Arbeitsklima fördern, positive Beziehungen fördern, positive Kommunikation fördern und Arbeit mit Sinn verbinden.
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