Ausgabe 1 - 2012
Puzzlesteine der Eignungsdiagnostik
In deutschen Unternehmen und Verwaltungsbereichen werden pro Jahr rund 50 Millionen Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen getroffen. Um sich zu entlasten, greifen Verantwortliche ohne sonderliche Prüfung auf Online-Verfahren zurück und gehen damit ein hohes Risiko ein.
Intelligent, durchsetzungsstark und teamfähig soll der Kandidat sein, das wünschen sich viele Unternehmen. Austauschbare Floskeln wie diese stehen in jeder dritten Stellenanzeige. Doch Beliebigkeit trifft gewiss nicht ins Schwarze, solange Betriebe um immer weniger potenzielle Bewerber rangeln. Entweder wissen Recruiter nicht, auf wen sie es genau abgesehen haben, oder ihnen fehlt ein Controlling, das sie von derlei irrigen wie teuren Abenteuern abhält.
„Eignungsdiagnostisch ist Deutschland Entwicklungsland“, ätzt der Berufsverband der Psychologen in Berlin völlig zu Recht. Heute gleicht die Personalauswahl vielerorts einer Irrfahrt. Einer Studie der Franz Haniel & Cie. GmbH zufolge rekrutieren viele Unternehmen nicht die passenden Bewerber, was sich im verschärfenden War for Talent als verhängnisvoll erweisen könnte. Eine Umfrage des Arbeitgeberbewertungsportals Kununu.com unter deutschsprachigen Bewerbern zeigt, dass der Auswahlprozess in vielen Unternehmen stark verbesserungswürdig ist. Kritisiert wird vor allem die „mangelnde Transparenz“ der Verfahren.
Dabei sollte die Personalauswahl hohen Ansprüchen genügen. Denn Personalknappheit ist der Flaschenhals des Unternehmenserfolgs. Erschreckend sei die Erfolgsquote beim Recruiting, kritisiert Stefan Rutt, Personalberater bei Access Kelly OCG, die deutsche Wirtschaft. „Wegen ihrer fachlichen Kompetenz stellt man die Leute ein“, zitiert Rutt den legendären Chef von General Electric, Jack Welch. „Wegen ihrer persönlichen Eigenschaften wirft man sie raus.“
Qualitätsorientierte Verfahren nehmen viel Zeit in Anspruch
Freilich nehmen qualitätsorientierte Verfahren viel Zeit in Anspruch, die ohnehin überlastete Recruiter und Personalentwickler nirgendwo abzweigen können. Vor allem an Verfahren, die sich an der DIN-Norm 33430 oder der jüngst verabschiedeten internationalen Normschwester ISO 10667-1 orientieren, scheiden sich die Geister. Die darin beschriebenen Qualitätskriterien zur professionellen Auswahl, Planung, Durchführung und Auswertung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen sollen Entscheidungen transparent und vergleichbar machen. Doch DIN und ISO treffen auf große Skepsis. „Zu bürokratisch, zu teuer“, lauten die Vorbehalte von Personalern und anderen Entscheidern.
Entlastung versprechen sich viele Entscheider eher von Online-Tests, die viel-fach kostenfrei im Netz angeboten und nur zum geringen Teil auf die jeweiligen Anforderungen des Unternehmens entwickelt werden. Heinrich Wottawa, Eignungsdiagnostiker an der Universität Bochum und Geschäftsführer der Eligo GmbH, erkennt „nur eine Handvoll“ Qualitätsanbieter im Markt, die so vorgehen. Knapp 20 Anbieter würden zwar seriöse Testverfahren offerieren. „Sie wollen aber nur ihren Test verkaufen und verzichten auf eine qualifizierte Prozessberatung.“ Hinzu kämen viele kleine Anbieter, deren Produkte lediglich mindere Qualität aufweisen.
Das Angebotsspektrum hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Nach Angaben von Heinke Steiner, Geschäftsführerin der Alpha-Test GmbH, verlagert sich die Nachfrage deutlich von früher favorisierten Tests in der Personalentwicklung, etwa zur Vorbereitung auf den nächsten Karriereschritt, zu Verfahren zur Vorselektion von Bewerbern, die seit etwa fünf Jahren in den Fokus rücken. „Um die Bewerberflut, vor allem unter Azubis einzudämmen“, erläutert Steiner, „nutzen Unternehmen kognitive Tests. Persönlichkeitstests sind hingegen kaum gefragt.“
Nur wenige Sekunden bis zum Ergebnis
Entschied etwa bei der Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport früher das Los, wer in die nächste Runde kommt, melden sich heute potenzielle Azubis von zu Hause mit einem persönlichen Passwort über ihr Notebook an, um Fragen in vorgegebener Zeit zu beantworten. Nur wenige Sekunden nach Testende steht das Ergebnis fest. Kommen bei Fraport rund 1000 Bewerber auf einen Ausbildungsplatz, sind es bei der Targobank inzwischen 16 000. Laut Ausbildungsleiter Lars Göbel absolvierten bei der letzten Runde etliche Tausend Teilnehmer den Online-Test zur Vorauswahl, 931 wurden zum Assessment-Center eingeladen, 340 haben bestanden. 287 erhielten ein Vertragsangebot, 225 begannen schließlich ihre Ausbildung. Der „Targobank Tour“ genannte Online-Test, der bis zur Umfirmierung der einstigen Citibank noch „Citimove“ hieß, findet zum Beispiel heraus, wie sich Bewerber vorstellen, in konkreten Situationen gegenüber Kunden aufzutreten. Neben der Abfrage von Wissensgrundlagen bietet der Test auch kurzweilige Informationen über den typischen Alltag in einer Bank. „Teilnehmer finden das sehr wichtig und informativ“, sagt Göbel.
Online-Tests ersparen Personalern viel Papier, Zeit und Reisekosten. Bewerber, die weiter entfernt wohnen, müssen keine langen Fahrtstecken für den Test in Kauf nehmen. Gerade unter jungen Bewerbern, die mit dem Internet aufgewachsen sind, sind solche Verfahren beliebt und heben die Attraktivität des potenziellen Arbeitgebers. Auch deshalb erfreuen sich Anbieter solcher Tests einer steigenden Nachfrage. „Kosten sparen, Prozesse beschleunigen und die Treffsicherheit ihrer Personalauswahl erhöhen“, beschreibt Wottawa die wesentlichen Gründe, warum Unternehmen Online-Tests einsetzen, kurz und bündig. Mit anderen Worten verbuchen Unternehmen durch Einsatz solcher Tests einen Effizienzgewinn.
Online-Tests stehen in der Logik der Online-Bewerbung und bieten ähnliche Vorteile wie digitaler Workflow, datenbankgestützte Auswahloptionen und uneingeschränkte Verfügbarkeit. Damit nicht genug: Nach Angaben von Joachim Diercks, Geschäftsführer der Cyquest GmbH, erweitern sie das Selektionsspektrum, zumal nicht mehr nur biografische Bewerbermerkmale allein in die Vorauswahl einbezogen werden können, sondern auch „getestete Eigenschafts- und Verhaltensaspekte, die lediglich in Face-to-Face-Prozessen ermittelt werden“. Nach Untersuchungen von Wottawa setzt höchstens ein Promilleanteil deutscher Unternehmen solche Tools ein. Vor allem Konzerne und Beratungsfirmen, die sehr viel Personal rekrutieren müssen, zählen dazu. Online-Tests, die das Screening erleichtern, auch als „E-Assessments“ geläufig, liefern laut Wottawa durch die Bewertung von Kompetenzen oder Potenzialen objektivere Informationen über einen Bewerber als herkömmliche Verfahren. Sie sind Wottawa zufolge „zweifellos von hoher Relevanz“ gegenüber konventionellen Vorgehensweisen, wie etwa dem E-Mail-Versand von angehängten Dokumenten, den viele Recruiter inzwischen als Zumutung empfinden.
Self Assessments sollen Bewerber anlocken
Ebenfalls gefragt sind „Self Assessments“; sie dienen als Mittel, Bewerber anzulocken. „Im Idealfall“, erläutert Wottawa, „vermitteln sie jungen Bewerbern Anhaltspunkte, welche Berufswege für sie überhaupt in Frage kommen.“ Zahlreiche Self Assessment-Angebote sind im Internet zu finden. Kostenlos können Interessenten etwa den Allianz-Perspektiven-Test durchspielen und so erfahren, wo ihre Stärken liegen und welche Berufe sich für sie eignen. Über eine halbe Million Schüler haben dies bereits ausprobiert.
Beim Allianz-Test für Studenten sind im Unterschied zur Schüler-Version einige Logik-Rätsel zu knacken. Self-Assessments nutzen inzwischen auch Universitäten, um ihre Kundschaft bei der Wahl des richtigen Studiengangs zu unterstützen, etwa „Borakel“, das Tool der Ruhr-Universität Bochum, oder das gemeinsame Self-Assessment norddeutscher Universitäten von Bremen bis Rostock. Innerhalb von 90 bis 120 Minuten sind online verschiedene Fragen und Problemaufgaben aus den Studienfächern zu bearbeiten. Unmittelbar danach folgt eine individuelle Auswertung. Die Teilnahme ist kostenlos und anonym.
Grundsätzlich warnen Experten jedoch davor, zu viel von diesen Verfahren zu erwarten. Von solchen Tests allein sollte man keine Entscheidung ableiten. „Online-Tests sind ergänzende Puzzlesteine in der Eignungsdiagnostik“, sagt Personalberater Rutt, „nicht mehr und nicht weniger.“ Targobank-Ausbildungsleiter Göbel zufolge sind Onlineverfahren kaum in der Lage, soziale Kompetenzen wie Kommunikation, Konfliktvermögen, Einsatzbereitschaft oder Zielorientierung richtig zu bewerten. Wie sich ein Mensch hinsichtlich bestimmter Kompetenzen im Arbeitsumfeld bewährt, könne ein Online-Test nicht hinreichend darstellen. „Am Ende der Ausbildung vertrauen wir bei der Übernahmeentscheidung auf die Beurteilungen, die ein Azubi von Vorgesetzten erhalten hat, wie gut er zum Beispiel Kunden berät.“
Wottawa zufolge sind viele Unternehmen weit davon entfernt, das Wissen, Können und Wollen von Bewerbern sowie Kandidaten für den nächsten Karriereschritt hinreichend beurteilen zu können. „Man kann auf 200 Meter im Halbdunkeln erkennen, ob einem ein Mann oder eine Frau entgegenkommt“, sagt Wottawa. „Aber wir haben nicht gelernt einzuschätzen, ob ein Bewerber in zwei Jahren ein Team leiten kann.“ Das sei gewiss auch nicht von Online-Tests zu erwarten, die als Spiel verpackt sind. Solches „Recruitainment“ sollten Unternehmen für die Personalauswahl lieber nicht in Erwägung ziehen. „Wo es um Schicksale geht“, hätten Tests, die ja die Spieler zu entsprechend unernsten Verhalten verleiten, „nichts verloren“.
Tests nicht auf bestehende Prozesse aufsetzen
Worauf kommt es also bei der Auswahl eines Online-Tests an, was sollte er beinhalten und wie konzipiert sein? Wottawa zufolge ist es grundsätzlich falsch, einen Online-Test auf bestehende Prozesse aufzusetzen. So würde man nur auf den größten Teil der mit modernen Verfahren erreichbaren Effizienzvorteile verzichten. Viele Personaler, kritisiert er, würden die Chance vergeben, ihre Personalauswahl mit den Internet-Verfahren systematisch zu verbessern. Durch Dokumentation der Daten könne man Testwerte im Nachhinein mit den Erfahrungen zu eingestellten Personen statistisch abgleichen und damit sukzessive auch die Entscheidungsregeln bei der Auswahl verbessern.
Qualität, ergänzt Steiner von Alpha-Test, könne man als Anbieter gegenüber Kunden nur durch Validität unter Beweis stellen. „Könnten wir solche Nachweise nicht erbringen, würden uns Lehrer, die ihren Schülern empfehlen, solche Tests zu absolvieren, die kalte Schulter zeigen. Und in Unternehmen kommt man an Betriebsräten kaum vorbei. Die nehmen jeden Test auseinander.“ Dazu zählt, wie Wottawa anregt, die Programme auf ihren Datenschutz zu prüfen, ob sie gemäß den bestehenden Normen auch zertifiziert sind.
Die Einführung und Akzeptanz von Online-Tests scheitert bisweilen auch an Recruitern, die sich von solchen Testverfahren persönlich bedroht sehen. Über viele Jahre haben sie unzählige Bewerbungsmappen studiert, und nun befürchten sie laut Wottawa, „soll das eine Maschine besser und billiger machen“. Freilich werden sie sich dem Trend nicht mehr lange entgegenstemmen können. Denn es scheint an der Zeit, dass HR und IT gemeinsam daran arbeiten, die Online-Diagnostik in das gesamte IT-Spektrum zu integrieren. Dreht es sich zunächst darum, Online-Testverfahren in den Bewerbungsprozess einzugliedern statt separat zu organisieren, werden sie im zweiten Schritt überall dort, wo SAP als betriebsübergreifende Plattform favorisiert wird, ebenfalls eingebunden. Steiner: „Bis 2014 wird das geschehen, da bin ich ganz sicher.“ Eine andere Entwicklung, womöglich von weit größerer Tragweite, befürchtet Wottawa. Je mehr es durch Einsatz von Online-Tools gelänge, gute Bewerber anzulocken und die Treffsicherheit und Geschwindigkeit der Personalauswahl zu erhöhen, umso deutlicher profitierten davon Großunternehmen, während für den unbekannten mittelständischen Betrieb in der Provinz nur der Bewerber übrig bleibe, der woanders durch das Raster fiel. „Also sicher nicht der heiß begehrte Ingenieur.“
Die zunehmende Rekrutierung im Internet – eine potenzielle Katastrophe für den Mittelstand? Wottawa ist erstaunt, dass viele Unternehmen und ihre Interessenvertretungen die Gefahr noch nicht erkannt haben. Ihm ist kein einziges Self-Assessment im Netz bekannt, das Hochschulabsolventen zeige, ob sie persönlich nicht doch viel besser im Mittelstand als in einem Konzern aufgehoben sind.
Heinke Steiner (Hrsg.): Online-Assessment. Grundlagen und Praxis von Online-Tests in Personalmarketing, Personalauswahl und Personalentwicklung. Springer, 2009.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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