Ausgabe 1 - 2014
Keine Zukunft ohne Herkunft
Mit „Cultural Due Diligence“ lassen sich die Handlungsfelder für das Change Management bestimmen. Am Beispiel der Fusion und Restrukturierung regionaler Energieversorger lassen sich die Chancen und Herausforderungen aufzeigen.
Rationales Wissen braucht emotionale Überzeugung. Wie zahlreiche Studien zeigen, wissen viele Führungskräfte und Personaler, dass die fehlende Unterstützung der Führungskräfte und Mitarbeiter die Hauptursache für das Scheitern von Transformationen ist. Die Herausforderungen in der Weiterentwicklung von Unternehmenskulturen und Ablauforganisationen werden dennoch fast immer unterschätzt. Oder es wird sich zu spät und inkonsequent den weichen Faktoren im Change Management gewidmet.
Fest steht: Die harten Faktoren und Entscheidungen sind im Change Management „core to play“. Ohne Ziele und Strategien, Strukturen und Prozesse besitzt jede Transformation einen brüchigen Rahmen. Doch die weichen Faktoren sind „key to win“. Die Änderung von Denkweisen und Einstellungen für ein anderes Verhalten und schnelles Agieren ist der Schlüssel, die anvisierte Strategie zu verfolgen und Ziele zu erreichen.
Jeder Wandel ist anders
Diese Aufgabe stellt Personaler immer wieder vor neue Herausforderungen:
• Jeder Wandel ist anders, sogar wenn sich Ereignisse wiederholen. Das „Gedächtnis“ eines Unternehmens speichert Erfahrungen mit vergangenen Transformationen;
• Auslöser und Antriebsfaktoren einer Transformation sind sehr unterschiedlich und nicht immer transparent;
• Plausible Fakten über neue Organisationsstrukturen, IT-Systeme oder Produktionsprozesse et cetera führen nicht dazu, dass Mitarbeiter nachhaltig anders handeln;
• Zugleich ändern sich fortlaufend das Umfeld und die Marktbedingungen, der Veränderungsdruck wächst stetig.
Die einzigen Konstanten bei allen Variablen sind: Kein Unternehmenswandel begeistert sofort jede Führungskraft und jeden Mitarbeiter. Doch erst die Überzeugung in ein gemeinsames Ziel bringt alle auf den Weg, die Veränderungen engagiert anzupacken.
Folgen aus dem Stand der Dinge ziehen
Entscheidend für erfolgreiches Change Management ist daher das Wissen um die aktuelle Unternehmenskultur, zum Beispiel: Wo stehen die Mitarbeiter und wo können sie „abgeholt“ werden? Bei verschiedenen Unternehmen fragt sich: Wie „ticken“ diese, wo sind Gegensätze und Überschneidungen? Gleiche Organisationsstrukturen, die sich häufig aus den Notwendigkeiten der Branchen ergeben, können ganz unterschiedlich gelebt werden.
Die Kernfrage für erfolgreiches Change Management lautet also: Welche Konfliktpotenziale und Handlungsfelder ergeben sich angesichts der anvisierten Ziele und Strategie, der geplanten Organisation und Prozesse? Auf dieser Basis kann das in der jeweiligen Situation exakt passende Change-Programm aufgesetzt werden – mit einer stimmigen Dramaturgie und Intensität der Maßnahmen, von der Personalentwicklung bis zur Kommunikation.
Das Instrument zur Beantwortung der Kernfrage für erfolgreiche Transformationen ist die „Cultural Due Diligence“ (CDD) – die Prüfung der Unternehmenskultur in Hinblick auf den geplanten Wandel. Das Beispiel der Neuordnung von drei regionalen Energieversorgern zeigt, dass die CDD auch unangenehme Wahrheiten ans Licht bringen kann. Doch Wegrennen hilft ohnehin nicht: Spätestens bei der Umsetzung würden die Konflikte, Widerstände und Unsicherheit zur Geltung kommen – unkontrolliert und ohne Vorbereitung.
„CDD Tool-Box“ nach Bedarf einsetzbar
Die CDD ist eine „Toolbox“ an Maßnahmen, um neu generierte und vorhandene Informationen zusammenzuführen und zu bewerten (Abbildung 1). Mit diesem Instrumentenkoffer ist jede Größe und Struktur eines Unternehmens optimal zu erfassen. Die vorhandenen Informationen sollten stets vollständig bewertet werden – sie liegen ja auf dem Tisch: angefangen bei der Strategie, den Strukturen und Prozessen. Bereits wie diese dokumentiert und verbreitet sind, verrät viel über die Kultur und den Zustand im Unternehmen.
Abbildung 1
„Cultural Due Diligence“: Quellen im Unternehmen für ein Gesamtbild

Auch die Symbole und Werte verraten einiges. Sind diese austauschbar, oder differenzieren sie sich als attraktive Richtschnur für die tägliche Praxis? Die vorhandenen Informationen werden zusammengeführt – von sichtbaren Instrumenten (wie zum Beispiel in der Personalentwicklung oder auch Informationen im Intranet), vorhandenen Ergebnissen (wie Mitarbeiterumfragen) bis hin zu indirekten Zeichen (wie Präsenz der Unternehmensleitung oder Führungsstil). Externe Berater haben – vor allem wenn Unternehmen zusammengeführt werden sollen – darauf meistens einen unverfälschten Blick und können auch unangenehme Fragen stellen, zum Beispiel, wie und warum sich Themen und Meinungen entwickelt haben. Bei den drei Energieversorgern wirkte alles wie eitel Sonnenschein, kritische Themen wurden traditionell eher ausgespart.
Allein auf die Analyse vorhandener Quellen sollte sich daher niemand verlassen. Erst der direkte Kontakt mit Führungskräften und Mitarbeitern ermöglicht die Reflexion der kulturellen Prägungen und kollektiven Meinungen in Bezug auf die geplante Transformation.
Onlinegestützte Puls- und Change-Befragungen
Gerade bei dezentralen Unternehmen mit vielen Standorten bieten sich onlinegestützte Puls- oder Change-Befragungen an. Im konkreten Fall mit drei Standorten und gut 1200 Mitarbeitern wurde sich auf Tiefeninterviews mit den Führungskräften und Fokus-Gruppen konzentriert. Vor allem letztere haben durch den funktions- und bereichsübergreifenden Dialog schnell die unterschiedliche Herkunft und verschiedenen Ansprüche aufgezeigt. Nicht die statistische Repräsentativität der Informationen ist wichtig. Vielmehr sind die Kernthemen und Hauptmotive der Mitarbeiter zu identifizieren – eben die wichtigsten Kulturfaktoren des jeweiligen Unternehmens. Die Auswertung erfolgt in jedem Fall anonymisiert. Bereits die Auswahl der Teilnehmer machte die einerseits sehr hierarchische und autoritäre, anderseits die pragmatische und lösungsorientierte Führungskultur deutlich. In einem Fall dauerte es gut eine Woche zur Abstimmung mit allen Beteiligten und Zustimmung des Vorstands, im zweiten Fall weniger als zwei Tage. Und im dritten Fall musste eine Vorstandsitzung über den Teilnehmerkreis befinden, obwohl die Kriterien objektiv waren: keine direkten Vorgesetzten und immer nur eine Person aus einem Unternehmensbereich in einer Gruppe. Allein die „Nebensache“ der Auswahl zeigte, dass in der Zusammenarbeit einige Reibungen zu erwarten waren, wenn nicht parallel das gegenseitige Verstehen intensiv gefördert wird.
Unangenehme Wahrheiten helfen weiter
Die Ergebnisse waren dann noch prägnanter. Jenseits der immer noch guten Geschäftszahlen wurden in einem Unternehmen „Leichen aus dem Keller geholt“: Die Kunden wurden nach persönlichen gewachsenen Beziehungen bewertet, weniger nach deren Geschäftspotenzial für die Zukunft, was akut kein Problem war aufgrund einiger (noch) langfristiger Verträge. Das wusste jeder, wagte es aber nicht zu sagen – bisher.
Im anderen Fall mangelte es – auch bedingt durch ein außerordentliches Wachstum – an einer strukturierten Unternehmens- und Kompetenzentwicklung. Das bestehende Know-how der Leistungsträger wurde zwar aktiviert, zum Beispiel im Vertrieb. Jedoch wurden erhebliche Mängel in den Strukturen offensichtlich, denn: „Es läuft doch super!“ Die guten Ergebnisse verdeckten jedoch die latente Unzufriedenheit der mittleren Führungsebene: „Jetzt muss sich hier endlich etwas ändern.“
Generell gilt: Besonders die vermeintlich negativen Ergebnisse sind elementar, um die Handlungsfelder für das Change-Management zu bestimmen. Dies gilt nicht nur in den Bereichen Unternehmensorganisation und -kommunikation sowie Personalführung, sondern auch für die konkreten operativen Maßnahmen, zum Beispiel um eine Über- oder Unterforderung bei der Einführung neuer Strukturen oder Systeme zu vermeiden. Das entscheidende Element ist die Projektion, was bei den »weichen Faktoren« geschehen muss, um das Ziel der Veränderung zu erreichen.
Keine Geheimniskrämerei
Die Ergebnisse sollten in jedem Fall der Unternehmensleitung vorgestellt werden, möglichst plakativ, zugespitzt und am formulierten Ziel orientiert, inklusive den Aussagen, was vom Vorstand getan und entschieden werden sollte. Im Beispiel wurde in einer gemeinsam Vorstandssitzung auf einer Powerpoint-Seite der Handlungsbedarf deutlich gemacht – durch eine Synopse der CDD aus allen Unternehmen. Ob und wie die Ergebnisse im ganzen Unternehmen vorgestellt werden, hängt von den Ergebnissen ab. Niemals zielführend ist eine künstliche Geheimniskrämerei, wenn ein hohes Konfliktpotenzial und großer Handlungsbedarf identifiziert wurde, wie in diesem Fall aufgrund sehr unterschiedlicher Kulturen. Das „offene Visier“ – hier: die Verbreitung der Vorstandspräsentation – zeigte jedem: Jetzt läuft es anders und hier wird klar gesagt, was Sache ist. Versteckspiele gibt es nicht.
Das Wichtigste dazu ist eine offensive Unternehmensleitung, auch zu den Ergebnissen zu stehen, die manche Mängel aus der Herkunft aufzeigen. Diese sind immer positiv zu wenden mit der Botschaft: „Wir wissen, wo wir stehen und was getan werden muss.“ Entsprechend sollten danach die Maßnahmen erfolgen, um den ermittelten Bedarf nicht in einem Vakuum münden zu lassen.
„Change-House“ aufbauen
Das wichtigste Ergebnis einer CDD ist der Aufbau des „Change-House“. Ohne CDD, ohne zu wissen, wo ein Unternehmen steht, fällt es schwer, die sechs wesentlichen Bausteine als Grundlage für jedes Change-Programm passend zu gewichten (Abbildung 2):
Abbildung 2
„Change-House“: Stabile Konstruktion zur Vorbereitung von Veränderungen

• Seek for Certainty: Der natürliche Drang nach Sicherheit für die Zukunft und Widerständen bei Unsicherheit war bei den Energieversorgern groß. Also war von Anbeginn zu verdeutlichen, wie die Neuordnung die Grundlage schafft, die Perspektiven für die Zukunft zu verbessern, möglichst konkret an Beispielen.
• Case for Change: Ebenso wichtig war die Begründung, warum gerade diese Neuordnung und strategische Neuausrichtung das beste Rezept ist und nicht andere Optionen ausgewählt wurden. Hier zählte die Nachvollziehbarkeit durch eindeutige Aussagen, statt komplexer Analyse-Charts, die nur wenige verstehen.
• Need for Change: Die Wichtigkeit der Transformation ergab sich in diesem Fall aus dem Vergleich von Ist und Soll der Unternehmen heute und morgen. Die Änderungen waren markant und nicht nebenbei zu erreichen. Die Unternehmensleitung machte deutlich, dass entsprechend zusätzliche Ressourcen bereitgestellt und die Mitarbeiter nicht alleine gelassen werden (was in der Praxis zuvor häufig der Fall gewesen war).
• Sense of Urgency: Die Dringlichkeit des Wandels war unzweifelhaft, da jeder wusste, dass die bisherigen Geschäftsmodelle im Energiemarkt massiv unter Druck geraten sind, diese früher oder später kaum mehr profitables Wirtschaften ermöglichen. In diesem Fall war Dringlichkeit also der kleinste Baustein.
• Benefit for Me: Stets ein Thema sind jedoch die Vorteile für die Führungskräfte und Mitarbeiter, nicht bis auf jede einzelne Person heruntergebrochen, zumindest am Anfang. Grundsätzlich sollte jedoch klar sein, welche Vorteile die Neuordnung schaffen wird, in diesem Fall zum Beispiel mehr Karriereoptionen und gemeinsam mehr Ressourcen für die Personalentwicklung, als jedes Unternehmen einzeln besitzt.
• Changeability: Schließlich ist das Dach für alle anderen Bausteine die Bereitschaft und Fähigkeit der Führungskräfte und Mitarbeiter für Veränderung. Diese ist niemals homogen ausgeprägt. Die „Change-Champions“ in einem Unternehmen, die voranzugehen können, sind auf jeden Fall zu identifizieren und zu aktivieren. In diesem Fall war diese Aktivierung auch deshalb wichtig, um die Leistungsträger an das Unternehmen zu binden, indem sie eine herausragende Aufgabe in der Transformation bekamen. Aus der Konstruktion des „Change-House“ ergeben sich zwangsläufig die Schwerpunkte für das Transformationsprogramm, das sich über verschiedene Phasen erstreckte und nahtlos in den Routinebetrieb überging (Details dazu sprengen diesen Beitrag).
Ein Erfolgsfaktor war erstens, dass Instrumente der CDD weiter zum Monitoring der Fortschritte genutzt wurden. Quartalsweise erfolgten online-gestützte Pulsbefragungen. Diese haben den Vorteil, unmittelbar an aktuelle Fortschritte und Ereignisse gekoppelt das Meinungsbild und entsprechende Handlungsoptionen zu ermitteln. Dadurch konnte auch das Change-Programm fortlaufend optimiert und die Veränderung als Dauerthema im Unternehmen verankert werden.
Zweitens wurde das eigentliche Projekt so kurz wie möglich gehalten, damit das Thema Veränderung nicht als reine Projektaufgabe verstanden wurde. Mit der raschen formalen Umsetzung der Neuordnung war das Projekt beendet, die Transformation begann dann erst richtig – so die implizite und auch explizite Botschaft an alle Führungskräfte und Mitarbeiter. Nicht nur in der Energiebranche gilt: „Change never ends!“
Autor
Michael Groß, Managing Partner, Groß & Cie. GmbH, Königstein,
m.gross@gross-cie.com
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