Ausgabe 1 - 2014
Die Motivation aufrecht halten
Die Solarbranche durchlebt seit 2012 große Umwälzungen. Der dauerhafte Preisverfall und die Streichung staatlicher Zuschüsse zwingen sie dazu, Standorte zu schließen, zu fusionieren oder umzustrukturieren. Das stellt Belegschaften vor große Belastungen. Wie aber hält man die Motivation und Produktivität der Mitarbeiter auch bei Personalabbau aufrecht? Der Solarmodulspezialist First Solar hat eine Lösung gefunden.
Der Personalabbau der europäischen Vertriebsgesellschaft des einst weltweit größten Herstellers von Solarmodulen, dem US-Unternehmen First Solar, traf die Belegschaft und die Personalabteilung am Mainzer Standort überraschend – vor allem dessen Ausmaß. Der Standort Mainz sollte komplett geschlossen werden. Gut 100 Mitarbeiter im europäischen In- und Ausland erhielten die Kündigung. Der Personalabteilung war bewusst, dass die kommenden Monate für alle Mitarbeiter zur Belastungsprobe werden würden. Denn: Die Mitarbeiter arbeiteten hoch motiviert. Ihre Identifikation mit dem Solaranbieter war groß. Die Standortschließung und die damit einhergehenden Kündigungen empfanden viele wie eine ‚emotionale Vollbremsung‘, die sie erst einmal verarbeiten mussten. Hinzu kam, dass sich die gesamte Branche in der Konzentrationsphase befand, also der Wechsel für die Betroffenen in angrenzende Branchen verschlossen zu sein schien. First Solar wollte weder die Mitarbeiter mit dieser Herausforderung alleine lassen, noch sie nur mit Abfindungen beruhigen.
Verantwortungsvoll handeln
Aufgabe war, die Entlassenen bei der beruflichen Neuorientierung zu unterstützen. Gleichzeitig sollten in dieser Umbruchsituation die Betriebsabläufe für den Abschluss von Kundenprojekten und die Übergabe in das US-amerikanische Headquarter weiterhin reibungslos laufen – acht Monate lang. First Solar suchte einen Ansatz, der über eine reine Out- und Newplacementberatung hinausging und zu den eigenen Unternehmenswerten passte. Das Trennungsmanagement sollte – wie die gesamte Personalarbeit – auf Werten und gesellschaftlicher Verantwortung basieren.
Auf internationaler Ebene nutzte First Solar die Expertise des Beratungsunternehmens Leathers Milligan & Associates, das in Europa mit dem Team der HR Excellence Group (HRE Group) zusammenarbeitet. Das Konzept des Sustainable Career Coaching (SCC), das die HRE Group entwickelt hat, überzeugte die Personalleitung in Mainz: Es ist individuell auf jeden Mitarbeiter abgestimmt und integriert Nachhaltigkeitsprinzipien. Das nachhaltige Karriere-Coaching – so die deutsche Übersetzung – vereint Inhalte und Methoden aus Resilienz-, Berufsbiografie- und Employability-Coaching (siehe Infokasten).
Methoden im Überblick
Resilienz-Coaching
Resilienz-Coaching stärkt das emotionale Fundament. In Zeiten extremer Unsicherheiten bleibt der Betroffene handlungs- und entscheidungsfähig. Er/Sie erkennt Möglichkeiten - aber auch die Grenzen - des eigenen Handelns, schafft sich „Inseln der Selbstwirksamkeit“ und stellt innerlich von „Tunnelblick“ auf „Radar der Möglichkeiten“ um. Kurz gesagt: Sie wechseln in den Modus „Ich gestalte mit - im Rahmen meiner Möglichkeiten.“
Berufsbiografisches Coaching
Wer auf den bisherigen Werdegang zurückblickt, zeigt nicht nur seine beruflichen Kompetenzen und Stärken auf, sondern auch Werte, Interessen und Präferenzen. Individuelle Entscheidungsmuster und mögliche Wendepunkte im (Berufs-)Leben werden sichtbar und geben dem Klienten bei der anstehenden beruflichen Neuorientierung wichtige Impulse. Die daraus resultierende berufliche Entwicklung ist dann kohärent und auch für Dritte nachvollziehbar.
Employability-Coaching
Mitarbeiter planen ihre nächsten beruflichen Schritte aktiv und vorausschauend. Dabei beziehen sie nicht nur ihre Kompetenzen, Stärken und Präferenzen ein, sondern gleichen diese mit den aktuellen und möglicherweise zukünftigen Anforderungen der Wirtschaft ab. Sie lernen, ihre Stärken und Ziele überzeugend zu vermitteln, sich selbst erfolgreich am Arbeitsmarkt zu platzieren und haben die weitere berufliche Entwicklung im Blick.
First Solar überließ nichts dem Zufall und bereitete die Ankündigung des weltweiten Personalabbaus minutiös vor: Alle Standorte des Unternehmens wurden gleichzeitig informiert. Am Folgetag fand am Standort Mainz ein Informationstag für die Belegschaft statt. Die Agentur für Arbeit war mit mehreren Mitarbeitern vor Ort, sodass sich die Gekündigten direkt arbeitssuchend melden konnten. Über den gesamten Tag fanden Informationsveranstaltungen zum Karriere-Coaching statt. An den darauf folgenden Tagen stand eine Beraterin für Vier-Augen-Gespräche zur Verfügung. Die Personalabteilung suchte besonders in den ersten Tagen nach der Ankündigung das Gespräch mit den Mitarbeitern, informierte sie über das weitere Vorgehen und beantwortete ihre Fragen. Fast 50 Mitarbeiter nahmen in Deutschland das Coaching-Angebot an, das ein Element des Trennungspakets war. Die übrigen Mitarbeiter haben die Abfindung akzeptiert und sich eigenständig um eine neue Stelle bemüht beziehungsweise andere persönliche Ziele wie zum Beispiel einen längeren Auslandsaufenthalt verfolgt.
Die Personalabteilung und HRE Group setzten ein Programm auf, das jedem Einzelnen das Gefühl vermitteln soll: Bei First Solar kümmert man sich auch in Umbruchzeiten um dich. Über sechs Monate arbeiteten die Teilnehmer an einem auf die jeweilige Arbeits- und Lebenssituation angepassten Plan. Die individuelle Abstimmung der Coachinginhalte, die Frequenz und die Intensität der Beratungsgespräche sowie die kontinuierliche Überprüfung der Zielerreichung sorgten für eine hohe Zufriedenheit mit dem Coachingangebot (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1
Allgemeine Zufriedenheit mit dem Karriere-Coaching

Die Teilnehmer sind mit dem speziellen Karrierecoaching insgesamt sehr zufrieden.
„Gerade bei denjenigen, die erst später freigestellt wurden, spürten wir förmlich die Ambivalenz“, schilderte eine Beraterin. „Einerseits mussten Vertragsbedingungen und Lieferzeiten eingehalten und rechtzeitig Kundenprojekte ins US-Headquarter transferiert werden. Andererseits mussten die Mitarbeiter sich bereits mit ihrer beruflichen Zukunft auseinander setzen.“
Abbildung 2
Individuelle Handlungsmöglichkeiten

Als Teil des Sustainable Career Coachings benennen die Teilnehmer als stressig empfundene Situationen und erarbeiten individuelle Handlungsmöglichkeiten (Ergebnis eines Einzelcoachings).
Gefühl elementarer Enttäuschung
Die Mitarbeiter zeichneten sich durch eine besonders starke Identifikation mit dem Unternehmen, einer hohen Arbeitsmotivation und einem überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz aus. Viele hatten sich ganz bewusst für die Solarbranche entschieden, weil sie damit einen relevanten Beitrag für Gesellschaft und Umwelt leisten wollten. Nach der Kündigung führte dies – gepaart mit einem weiterhin hohen Arbeitstempo – bei einigen zu einer elementaren Enttäuschung, die fast die psychische Belastungsgrenze erreichte. Die Berater der HRE Group passten das Coachingformat der jeweiligen Arbeitsbelastung, der emotionalen Stimmungslage und dem Zeitbudget der Teilnehmer an. Mal wurden kurze Coaching-Sessions im Unternehmen abgehalten, mal wurde ein externes Beratungsbüro genutzt, um mit der räumlichen auch eine innere Distanz zum Noch-Arbeitgeber zu schaffen. Das Coaching erfolgte auch via Telefon und Skype sowie als „Walk & Coach“ am nahe gelegenen Rheinufer.
Abbildung 3
Sustainable Career Coaching

Im Prozess des Sustainable Career Coachings werden mit den Teilnehmern die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handelns erarbeitet.
Das Karriere-Coaching lehrte die Betroffenen, mit der Verunsicherung, die die Standortschließung mit sich brachte, umzugehen. Die Teilnehmer bekamen Werkzeuge an die Hand, um mögliche Stresssymptome früh zu erkennen und ihnen entgegen zu wirken. (siehe Kasten „online“). Als sehr hilfreich empfanden die Teilnehmer die Analyse der persönlichen Ausgangssituation, der Ziele und Werte, aber auch der Kapazitäten und Ressourcen. Sie erarbeiteten sich Strategien, mit der Doppelbelastung – also Job gut zu Ende bringen und gleichzeitig die eigene berufliche Zukunft voranzutreiben – umzugehen und in Balance zu bringen. Voraussetzung dafür war natürlich auch die Eigenmotivation.
Weitere Ergebnisse des Karriere-Coachings bei First Solar finden Sie unter www.hr-excellence-group.de/publikationen.html.
Die Wertschätzung, die First Solar ihren Mitarbeitern in der schweren Situation beweisen wollte, kam an. Die Belegschaft verstand, dass sie eine Chance geboten bekam. Die üblichen Begleiterscheinungen wie erhöhter Krankenstand, Verschlechterung der Unternehmenskultur sowie Leistungseinbußen blieben weitestgehend aus. Für den Solarspezialisten ging damit die Rechnung auf.
Autoren
Karl-Heinz Deichelmann, ehemaliger European HR Manager der First Solar GmbH
Hendrikje Dickschen, Geschäftsführerin, HR Excellence Group GmbH, Braunschweig,
dickschen@hregroup.de
Aila Kruska, Freie Beraterin und Projektpartnerin, HR Excellence Group, Frankfurt,
mail@ailakruska.de
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