Neues Hobby: Datenarbeit

Daten verändern die Personalarbeit.
Wer künftig Entscheidungen trifft, wird verstärkt auf HR Analytics setzen. Information kann Intuition sinnvoll ergänzen. Wenn man sie zu nutzen weiß.Von Christoph Bertram und Ulli Pesch
Endlich ein Hoffnungsschimmer. Wochenlang haben Sie nach einem Kandidaten für die offene Stelle in der IT-Security gesucht. Der Markt der heiß begehrten Nerds ist einfach leergefegt. Doch dann der rettende Tipp Ihres Kollegen: „Probier“ doch mal das neue Sourcing-Programm aus. Das spürt auch Leute auf, die nicht auf dem Markt sind, und zeigt dir sogar, wie wechselwillig sie sind.“ Und siehe da: Der Algorithmus spuckt Ihnen tatsächlich ein geeignetes Profil aus, Wechselwahrscheinlichkeit: 95 Prozent!
Hard Skills, Soft Skills, Wohnort in Firmennähe – alle Parameter des Kandidaten passen genau zur Stelle. Jetzt müssen Sie nur noch Kontakt aufnehmen und ihm den Wechsel zu Ihrer Firma schmackhaft machen. Sie klicken auf den Link zum Xing-Profil, den die Software praktischerweise mitliefert. Doch was ist das? Vom Bildschirm lächelt Ihnen Ihr Kollege Müller aus der IT-Security entgegen. Mit dem waren Sie erst vorhin in der Kantine. Voilà: Ihr perfekter Kandidat …
Das Gedankenspiel klingt unrealistisch? Ist aber genauso schon passiert. Moderne Softwareprogramme helfen beim Sourcen und berechnen über Methoden wie Web Mining die Wechselwahrscheinlichkeit von Mitarbeitern. Was mitunter zu Überraschungen führt.
Big Data: Riesenwuchs in HR?
Wo Personaler früher im Dunkeln tappten, zum Beispiel bei der Wechselbereitschaft ihrer Mitarbeiter, sorgen neue Analysetools für erhellende Momente. Die eingesetzten Verfahren gehen von Zeitreihenanalysen über Simulationsverfahren bis hin zu Data Mining. Sollen diese Methoden auf einen Begriff gebracht werden, begegnet einem allerdings ein bunter Strauß voller Buzzwords: HR Analytics, People Analytics, Business Intelligence, HR Intel – ligence, Workforce Analytics, Talent Analytics, Recruiting Analytics und das Schlagwort schlechthin: Big Data.
„Im Vergleich zu anderen Bereichen wie Providern sozialer Netzwerke haben wir es in HR nicht wirklich mit Big Data zu tun“, sagt Stefan Strohmeier, Lehrstuhlinhaber für BWL, insbesondere Management-Informationssysteme, an der Universität Saarbrücken. Klar sei allerdings, dass die Datenmenge auch in HR wachse, heterogener werde und sich die Datenentstehung beschleunige. Womit in Zukunft vielleicht eher die Kriterien erfüllt seien, über die Big Data häufig definiert werden. „Big Data finden sich im Personalbereich noch am ehesten im Recruiting, weil man dort auf größere Datenmengen aus sozialen Netzwerken zurückgreifen kann“, sagt Strohmeiers Kollege Torsten Biemann. „Bei den eigenen Mitarbeitern ist das aber kaum der Fall“, so der HR-Professor von der Universität Mannheim.
Nichtsdestotrotz birgt der zunehmende Datenzuwachs für Personaler das Potenzial, ihre Arbeit auf ein breiteres Fundament zu stellen: mehr Informationen. Doch wenn nicht über Big Data, worüber reden wir dann?
Den Begriffsstrauß zurechtstutzen
Grundsätzlich befinden wir uns im Bereich der Business Intelligence (BI), einem Teilbereich der Wirtschaftsinformatik. BI setzt strategische Konzepte und Softwaresysteme ein, um Daten zu erfassen und zu analysieren mit dem Ziel, bessere Geschäftsentscheidungen treffen zu können. Klassischerweise bezieht sich BI auf die Analyse der eigenen Geschäftsbereiche, des Marktes und der Mitbewerber, fokussiert also stark das Business, nicht Bereiche wie HR.
Mit den neuen Möglichkeiten zur Auswertung HR-relevanter Daten verändert sich das. HR kann Erkenntnisse für bessere personalwirtschaftliche Entscheidungen gewinnen, von der kleinen Frage, ob jemand einen Weiterbildungskurs machen soll, bis zu den großen strategischen Entscheidungen. Information ergänzt oder ersetzt Intuition. In Deutschland lautet der gängigste Begriff für diese Art der softwaregestützten Datenarbeit „HR Analytics“, international wird eher von „People Analytics“ gesprochen. Beide Begriffe meinen aber dasselbe. Schlagwörter wie Talent oder Recruiting Analytics beziehen sich hingegen auf Anwendungen in einzelnen Bereichen des Personalmanagements.
Im Gegensatz zum Personalcontrolling liefern HR Analytics weniger Kennzahlen und vergangenheitsbezogene Reportings: „Bei HR Analytics geht es stärker darum, Beziehungen, Kausalitäten, Einflüsse und Wirkungen zwischen verschiedenen Bereichen aufzuspüren“, so Professor Biemann, der Mannheimer Personalforscher. „Die Datenverwendung richtet sich dabei häufig in die Zukunft, fällt also in den Bereich der Predictive Analytics.“ Prädiktive Analysen sind eine der drei Grundformen, in die Analytics meist unterteilt werden. Hinzu kommen die sogenannten Descriptive Analytics und die Prescriptive Analytics.
HR-Maßnahmen aufblühen lassen
Die neuen Datenauswertungen machen bislang verborgene gebliebene Effekte der Personalarbeit sichtbar. Mit HR Analytics können Personaler zeigen, dass ihre Maßnahmen einen konkreten Mehrwert für das Unternehmen haben.
Dazu ein Beispiel aus der Forschungspraxis: In einem produzierenden Unternehmen hat ein Team um Professor Biemann und Professor Woywode evaluiert, wie die Einführung von kurzen täglichen Morning-Meetings die Leistung beeinflusst. Dazu wurden Produktivitätskennzahlen gemessen: Wie viel wurde produziert (Quantität) und wie häufig traten Fehler auf (Qualität)? Ergebnis: Die Abteilung Organisation und Entwicklung konnte zeigen, dass das, was sie macht, einen Einfluss hat. Die Morning-Meetings wirkten sich positiv auf die Produktivität aus.
Ähnlich die Erfahrungen von Professor Strohmeier: In einem von ihm begleiteten Unternehmen ging es um Absentismusdaten. Bislang hatte der Betrieb Abwesenheitshäufigkeiten und Abwesenheitsdauer getrennt voneinander analysiert, man wusste nicht, wie sie zusammenhängen. Die Wissenschaftler haben dann die beiden Größen in einem Clusteranalyseverfahren untersucht (Cluster von Mitarbeitern: „fehlen häufig und kurz“, „fehlen selten und lang“ et cetera). Letztlich haben sie daraus ein Konzept entwickelt, das spezifisch auf die verschiedenen Cluster zugeschnitten ist und Absentismus reduziert.
Einiges deutet darauf hin, dass diese Form von HR – die „informationsbasierte“ Personalarbeit (Strohmeier) oder „evidenzbasierte“ Personalarbeit (Biemann) – in den kommenden Jahren immer wichtiger wird. Denn der HR-Analytics-Ansatz lässt sich auf alle HR-Bereiche anwenden, vom Recruiting bis zu Compensation & Benefits.
Andere Unternehmensbereiche nutzen das Potenzial von Business Analytics schon länger und intensiver (siehe Abbildung). Zwar gibt es Unternehmen in Deutschland, allen voran die Konzerne wie Siemens, BASF, Lufthansa oder Bosch, die den Analytics-Ansatz mehr und mehr verfolgen und „HR Data Analysts“ oder „Scientists“ beschäftigen. Doch bislang geschieht es eher in Einzelprojekten, zu bestimmten Bereichen und Größen der Personalarbeit. Für die Mehrzahl der HRler ist Datenarbeit noch immer Nebensache. Die Frage lautet daher: Wie machen sie ihr Hobby zum Beruf?
Abbildung
Einsatz von Advanced Analytics

Eine Anwenderstudie des Business Application Research Centers zeigt: Vor allem der Finanzbereich, die IT und das Management nutzen Advanced Analytics (fortgeschrittene Analysen, zum Beispiel prädiktive). HR hat den größten Nachholbedarf.
Das Datentreibhaus aufbauen
Wichtigste Voraussetzung für korrekte und aussagekräftige Analysen ist laut Experten und Beratern die Qualität der Daten. Doch die scheint bislang noch in sehr vielen Unternehmen stark optimierbar zu sein. „Es ist zwar hinlänglich bekannt, wie wichtig es ist, in HR über Fähigkeiten zur Analyse, zum Modellieren und zum Treffen von Prognosen zu verfügen“, erklärt Dr. Rainer Strack, Senior Partner und Managing Director der Boston Consulting Group in Düsseldorf. „Doch nur wenige verfügen über die benötigten Fertigkeiten, Werkzeuge, Technologien und eben die Dateninfrastruktur, um diese Aufgaben wirklich zu meistern.“
Darüber hinaus erschöpfe sich das Thema Analytics bei deutschen Personalern meist in einem Berichtswesen mit Übersichten zu Altersverteilungen oder Gender-Auswertungen. Richtiges Controlling mit konkreter Maßnahmenableitung sehe anders aus. „Um alle drei Formen der Analytik wirklich effizient nutzen zu können“, betont deshalb Joachim Skura, HCM Cloud Strategy Director bei Oracle, „müssen HR-bezogene Daten stärker mit geschäftlichen Daten verknüpft werden.“ Denn da beide Bereiche einander beeinflussen, so Skura, müssten auch die Daten aus beiden Bereichen kommen.
Wachstumshemmer und Unkraut
Nun weiß allerdings jeder Personaler, dass bei der Verarbeitung personalwirtschaftlicher Daten nicht alles, was möglich ist, auch erlaubt ist. Datenschutz und Mitbestimmung setzen der Informationsbeschaffung enge Grenzen. Das Bundesdatenschutzgesetz und die EU-Datenschutzgrundverordnung schränken die Auswertungsmöglichkeiten ein, um personenbezogene Daten zu schützen. Außerdem fallen diese Informationen unter die betriebsrätliche Mitbestimmung. Datenexperten fordern daher für HR Analytics einen klaren Code of Conduct.
Das sensible Thema Datenschutz mag ein Grund dafür sein, dass Personaler sich bisher zurückhalten, wenn es ans Durchforsten der Datenhaufen geht. Ein anderer Grund besteht in einer gewissen Ehrfurcht vor der Domäne der Statistiker, Mathematiker und Informatiker: „Viele Personaler haben starken Respekt davor, mit Daten zu arbeiten“, meint Torsten Biemann. Neben der Gefahr, Persönlichkeitsrechte zu verletzen oder sich beim Umgang mit der Technik zu blamieren, scheuen HRler aber auch das Projekt- und Kostenrisiko. Einfach ausgedrückt: Was, wenn der teure Algorithmus am Ende nichts ausspuckt? „Wenn in den Daten keine Muster vorhanden sind, findet man auch keine“, warnt Stefan Strohmeier. Auch eher unangenehm: die mögliche Erkenntnis, dass die eigenen Personalmaßnahmen gar nichts bewirken. HR Analytics machen eben viele Dinge transparent.
Eine weitere Gefahr liegt darin, die Ergebnisse der Datenauswertung zu sehr in den Vordergrund zu stellen. „Es gibt hundert Gründe, warum ein Mitarbeiter das Unternehmen verlässt. Wenn man durch Datenanalysen einen Faktor X ermittelt und sich auf diesen fokussiert, vergisst man all die anderen“, erklärt Professor Biemann. „Ich habe auch den Eindruck, dass das, was der Markt an Tools anbietet, zwar zur Identifikation von Einzelfaktoren dient, dass dabei aber viele Dinge verdeckt bleiben“, fährt er fort.
Neue Zweige im Job HR
Sowohl auf Anbieterseite als auch auf Seiten der Anwender bleibt einiges zu tun, bis HR die (gesetzlich zulässigen) Früchte der Datenarbeit ernten kann. Die Profession von Personalverantwortlichen bewegt sich aber deutlich in Richtung Datenanalyse. Intuition und Menschenkenntnis werden künftig stärker mit tiefgehenden Informationen überprüft und kombiniert, HR-Management wird deutlich datenbasierter werden. In der Studie „Global Human Capital Trends 2016“ von Deloitte haben bereits 70 Prozent der Befragten aus Deutschland angegeben, dass sie People Analytics für einen (sehr) wichtigen Trend halten (globaler Durchschnitt: 77 Prozent).
Nicht nur der Job HR, auch die personalwirtschaftlichen IT-Lösungen verändern sich durch die Datenarbeit. „Berater und Anbieter sollten nicht nur Versprechungen machen, sondern konkrete Anwendungsszenarien entwickeln und in die Standardsoftware implementieren“, sagt HR-IT-Wissenschaftler Stefan Strohmeier. Und Personaler wie Arbeitnehmervertreter sollten bereit sein, die Chancen und Risiken abzuwägen. „Es gibt manchen Nutzen, ohne den Mitarbeiter gläsern zu machen und die Privatsphäre zu verletzen“, so Strohmeier.
Wer sich die passenden Werkzeuge beschafft und den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte im Blick behält, kann die Qualität seiner Entscheidungen verbessern – und damit sein Personalmanagement. Die letzte Entscheidung sollten HRler allerdings nicht den Algorithmen überlassen, schon im eigenen Interesse. Zum Beispiel die, wie Sie Ihre fünfprozentige Chance nutzen, den Kollegen Müller aus der IT zum Bleiben zu bewegen.
Big Data: Was heißt hier groß?
Big Data („große Daten“) sind Massendaten, die sich nicht mit händischen Methoden und konventionellen Datenbanksystemen auswerten lassen. Als Kriterien gelten häufig die drei Vs: |
Volume (Größe): Die Datenmenge ist besonders groß. Als Richtwert wird oft ein Datenzuwachs von 500 Terabyte pro Woche genannt. Das entspricht rund 500 externen Festplattenspeichern (aus der Preisspanne 55–70 Euro). |
Velocity (Schnelligkeit): Die Daten entstehen schnell (in Echtzeit) und müssen mitunter schnell verarbeitet werden, was beispielsweise täglich bei Facebook, Twitter und Co. geschieht. |
Variety (Heterogenität): Die Daten sind vielfältig beschaffen (un-, halb-, voll strukturiert) und stammen aus verschiedenartigen Quellen: Datenbanken, E-Mails, Blogtexte, Podcasts, Videos, soziale Netzwerke et cetera. |
Analytics: Drei Grundformen
1. Descriptive Analytics (beschreibend): Deskriptive Analysen setzen Modelle und Verfahren ein, mit denen Erkenntnisse über die Vergangenheit und Gegenwart gewonnen werden. Beantworten die Frage: Was passiert(e)? Zu den Methoden zählen etwa periodische Reports, statistische Modelle, Aggregationsmethoden und Data Mining. |
2. Predictive Analytics (vorhersagend): Prädiktive Analysen erstellen Prognosen auf Grundlage von erkannten Mustern (Trends, Zusammenhänge, Cluster). Beantworten die Frage: Was könnte beziehungsweise was wird passieren und weshalb? Verfahren sind zum Beispiel Web Mining, Zeitreihenanalysen oder Szenariosimulationen. |
3. Prescriptive Analytics (hinweisgebend): Präskriptive Analysen liefern dem Anwender Handlungshinweise und -alternativen. Bieten Antworten auf die Frage: Was sollte man tun? Zu den Verfahren zählen optimierende Algorithmen, Simulationen und entscheidungsanalytische Methoden. |
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