Ausgabe 10 - 2015
Kunst inspiriert Unternehmen

Wer den Herausforderungen eines Change-Prozesses begegnen will, braucht kreatives Denken, Intuition und mitunter einen anderen Blick auf das Prozessgeschehen. Doch wie kann der Perspektivwechsel ermöglicht und können gleichzeitig die Gestaltungsräume für Mitarbeiter erweitert werden? Das Workshop-Format „take part in art“ für künstlerische Interventionen soll Mitarbeiter dazu inspirieren, bei der Lösung von Problemen aus einem größeren Ideenpool zu schöpfen.
Die Einbahnstraße „Wirtschaft fördert Kunst“ ist längst keine Einbahnstraße mehr, wenn es sie überhaupt jemals gab. In der bildenden Kunst liegen enorme Potenziale, die von Unternehmen gewinnbringend genutzt werden können. Dies bestätigen empirische Studien, die in den letzten Jahren zu diesem Thema durchgeführt wurden, wie auch konkrete Erfahrungen von Unternehmern, die Kunst und Künstler gezielt einsetzen. Gemeint sind nicht die Sammlung der Kunst oder die Ergebnisse von Kreativworkshops beziehungsweise Incentives, die im Anschluss lieber im Keller verstaut werden, sondern es geht um die konkrete Anwendung von Kunst, um ein unternehmerisches Problem zu lösen oder zur Bewältigung einer unternehmerischen Herausforderung beizutragen. Der bildende Künstler und Bildhauer Hermann J Kassel hat zu diesem Zweck das Workshop-Format „take part in art“ für künstlerische Interventionen entwickelt.
Motto „Verwurzelung – Veränderung“
Getrag ist der größte unabhängige Systemlieferant für Getriebesysteme weltweit. Im Jahr 1935 als Familienunternehmen gegründet, beschäftigt der Getriebehersteller derzeit rund 13 500 Mitarbeiter an 23 Standorten. Das Unternehmen mit Sitz in Untergruppenbach vereint heute die kreative Stärke seiner Wurzeln mit der Reichweite und Flexibilität eines globalen Konzerns.
Im Juni 2012 kam das Führungsteam von Getrag Operations zusammen, um den derzeitigen Wandel im Unternehmen zu reflektieren – Umstrukturierungen der Organisation, der Prozesse und IT-Strukturen ebenso wie die Zusammenarbeit mit neuen Kollegen und Kunden in einem globalen Umfeld. Teil der Konferenz war eine zweitägige künstlerische Intervention Kassels unter dem gemeinsam entwickelten Motto „Verwurzelung – Veränderung“. „Ziel des Workshops war es“, so Mihir Kotecha, CEO von Getrag, „allen die Gelegenheit zu geben, diesen Wandel und dessen Auswirkungen auf die Mitarbeiter aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Auf dieser Basis haben wir überlegt, wie wir als Managementteam Veränderungen im Unternehmen besser umsetzen können – und zwar im Interesse jedes einzelnen Mitarbeiters. Das Workshop-Konzept war bewusst darauf ausgelegt, dass die Teilnehmer einen Moment innehalten, um neue Gedanken entstehen zu lassen. Im zweiten Schritt sollte ein bleibender Eindruck dieses Tages erschaffen werden – nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch für all diejenigen, die Teil des steten Wandels von Getrag sind.“
„Shining future“ – ein Archiv aus Gedanken und Ideen
Bereits zuvor hatten die Teilnehmer eines Strategietreffens der Getrag Ford Transmissions GmbH unter dem Motto „change the rules“ gute Erfahrungen bei einem „take part in art“-Workshop sammeln können. Da die Teilnehmer aus mehreren Standorten zusammenkamen, entstanden während der künstlerischen Intervention auch mehrere Kunstwerke. Eine stark vergrößerte Getriebezeichnung diente als Grundlage für die Standorte Köln, Bordeaux, Halewood, Göteborg und Kechnec. In einer Art Circle-Training sollten die Teilnehmer der Vorzeichnung immer wieder reihum mit dicken Bleistiften folgen – zügig und ohne zu zögern. „Da ihr Metier es verlangt, mit höchster Präzision an diesen Getrieben zu forschen und zu arbeiten, bedeutete das für so manchen Teilnehmer schon eine gewisse Überwindung und stellte eine Form der Überschreitung da“, so Kassel. Er konnte aber auch erleben, wie sich die Vorlagen durch das wiederholte Überzeichnen energetisch immer weiter aufluden und von einer technischen Zeichnung zu einer künstlerischen wurden.
Das Kölner Foyer ziert heute außerdem eine rechteckige Säule aus Stahl, Glas und Licht mit dem Titel „shining future“. Auf Glasplatten hielten die Führungskräfte die am Vormittag bearbeiteten Themen zusammen mit ihren eigenen Gedanken, Visionen, Hoffnungen und Wünschen für ihre Arbeit und das Unternehmen fest. In die Stahlsäule eingefügt und von LEDs beleuchtet entstand so ein grünlich schimmernder Block als verdichtetes Kompendium all dieser Ideen (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1
Das Kölner Foyer

Das Kölner Foyer ziert heute eine rechteckige Säule aus Stahl, Glas und Licht mit dem Titel „shining future“.
Erd-Arbeiten – der Boden, aus dem Veränderungen wachsen können
Die 2012 für das Unternehmen wichtigen Herausforderungen standen in Verbindung mit Begriffen wie „Wurzeln“, „Verwurzelung bei gleichzeitiger Diversität und Globalisierung“, „Veränderung“ sowie „Wandel vom Jetzt in die Zukunft“. Dies führte Hermann J Kassel zu seiner Werkgruppe der „Erd-Arbeiten“, mit der er sich seit 1993 auseinandersetzt. In diesen geschlossenen Stahl-Glas-Skulpturen werden auf Papier, Leinwand und Folien aufgetragene Inhalte durch die darin mit eingeschlossene Erde kontinuierlich verändert. Inhalte und Schriften auf Papier oder Leinwand erfahren hierbei eine schnellere Veränderung bis hin zur Unkenntlichkeit. Im Laufe der Zeit werden diese ersetzt durch ein natürliches Bild (durch Photosyntheseprozesse innerhalb der Arbeit). Auf Folien aufgebrachte Inhalte hingegen werden von diesem Prozess nicht verändert und bleiben konstant sichtbar vor dem Hintergrund der stetigen Veränderung (siehe Abbildung 2). „In diesen Skulpturen wird der Humus, die Verwurzelung, das Wachsen, die Veränderung aber auch das Kontinuierliche vor dem Hintergrund des stetigen Wandels auf verschiedenen Ebenen erfahrbar. Dabei geht es aber nicht um „Zerfall und Zersetzung“, betont Kassel. „Was man hier sieht, sind Wandel und Transformationsprozesse.“ Das ist generell eine Stärke der Workshops: Nicht nur Kunst und deren Entstehung wird für die Teilnehmer erlebbar, sondern auch schwer greifbare Unternehmenswerte werden mittels der künstlerischen Interventionen erfahrbar und komplexe Prozesse visualisiert.
Abbildung 2
Wurzeln

Teil der Konferenz war eine zweitägige künstlerische Intervention Kassels unter dem gemeinsam entwickelten Motto „Verwurzelung – Veränderung“.
Die anlässlich der internationalen Getrag Operations Führungskräftekonferenz 2012 zusammengekommenen 45 Manager wurden im Vorfeld der Intervention gebeten, etwas Erde von ihren jeweiligen Heimatstandorten mitzubringen. Tatsächlich hatten dann die meisten der Teilnehmer in kleinen Beuteln die verschiedensten Erden zur Konferenz mitgebracht. Diese, gemischt mit einem Teil Erde vom Stammsitz Untergruppenbach, bildete den Humus, aus dem Kontinuität und Wandel, Diversität und Verwurzelung und nicht zuletzt die notwendige Offenheit für Change-Prozesse wachsen (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3
Erd-Arbeiten

In Reflexionsrunden wurden die erarbeiteten Inhalte sowie die vermischte Erde in vorbereitete Edelstahlcontainer gefüllt.
Dem Gedanken des Interdisziplinären und Kooperativen in den Arbeiten von Hermann J Kassel entspricht es, dass er diesen Ansatz auch in seine Interventionen mit einfließen lässt. So bat er John Kayser, Leiter der Akademie Forum Führung und des Rheinischen FührungsCollegs Düsseldorf, die Reflexionsrunden innerhalb der Intervention zusätzlich zu begleiten.
„Nach anfänglicher Skepsis wurde der Workshop mit allen Elementen, vor allem den unerwarteten Ruhephasen, sehr gut aufgenommen. Es entstand eine tolle Zusammenarbeit mit sehr viel Spaß an der Kreativität“, meint Olivia Patzelt, Team Leader Corporate Internal & External Communications. Im Workshop wurden die Inhalte der Tagung, angeregt durch Monotasking-, Speeddating- und Reflexionsrunden, auf Papieren und Folien verewigt. Die verschiedenen Erden wurden gemeinsam miteinander vermischt. Anschließend wurden die in Reflexionsrunden erarbeiteten Inhalte sowie die vermischte Erde in vorbereitete Edelstahlcontainer gefüllt und abschließend in die skulpturalen Stahlquader und Säulen im Foyer des Hauptsitzes eingesetzt (siehe Abbildung 3). Während die Texte auf Papier sich mit der Zeit verändern, bleiben sie auf den Folien dauerhaft lesbar. „Das eigene Spiegelbild in der Glasfläche bezieht den Einzelnen zusätzlich in diesen Prozess mit ein und eröffnet einen Fragenkatalog nach der eigenen Verwurzelung und dem Umgang mit Veränderungsprozessen“, so der Künstler. Die Integration künstlerischer Kompetenzen, Strategien und Denkweisen ermöglicht einen Perspektivwechsel und vermag die Denk- und Gestaltungsräume von Führungskräften und Mitarbeitern in Wirtschafts- und Wissenschaftssystemen zu erweitern. Ein kreativ inspirierter Mitarbeiter schöpft bei der Lösung von Problemen aus einem größeren intuitiven Ideenpool und begegnet den sich ständig verändernden Herausforderungen mit mehr Offenheit, Selbstvertrauen und Mut.
Strahlkraft nach innen und außen
Allein das gemeinsame Erlebnis und der Entwicklungsprozess innerhalb eines Workshops bilden eine „Story“, die den Teilnehmern lange in Erinnerung bleibt, die Kommunikation fördert und den Zusammenhalt stärkt. Zusätzlich verbleibt das entstandene Werk dauerhaft als geistig emotionaler Anker und physischer Ausdruck der Intervention sichtbar an einem signifikanten Ort im Unternehmen. Der Standort wird in der Regel schon in den vorbereitenden Gesprächen festgelegt. Es stärkt den Teamgeist, bereichert die Unternehmenskultur und schafft eine nachhaltige Wirksamkeit mit Strahlkraft nach innen wie nach außen.
Ein „Erd-Kubus“ für den Hauptsitz sowie sechs weitere „Erd-Säulen“ für die jeweiligen Standorte sind bei der künstlerischen Intervention 2012 entstanden (siehe Abbildung 4). Sowohl das globale Wachstum als auch die Wurzeln und Basis des Getriebeherstellers finden symbolhaft in den Arbeiten des „Erd-Kubus“ und der „Erd-Säulen“ einen „Urgrund“. Die Kunstwerke aus den beiden „take part in art“-Workshops sind nach wie vor an allen Standorten sichtbar und werden von Mitarbeitern und Gästen positiv wahrgenommen.
Abbildung 4
Erd-Kubus und Erd-Säulen

Ein „Erd-Kubus“ für den Hauptsitz sowie sechs weitere „Erd-Säulen“ sind bei der künstlerischen Intervention 2012 entstanden.
Erfolgreiche Führungskräfte erkennen in künstlerischen Strategien eine zukunftsweisende Betrachtung – die Integration künstlerischer Kompetenz in unser Wirtschafts- und Wissenschaftssystem wird schon bald aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sein. Für alle Mitarbeitenden können durch die künstlerischen Interventionen komplexe Prozesse erlebbar werden – und das gilt nicht nur für die Teilnehmer des Workshops. Durch den dauerhaften Verbleib des Kunstwerks wirken die erarbeiteten Inhalte im Unternehmen weiter und sind lebendiger Ausdruck der Unternehmenskultur.
Autorin
Jana Assauer, Redakteurin für Weiterbildungsthemen, PS:PR, Köln,
jana.assauer@pspr.de
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